literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum
blättern [zurück] [weiter]
Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


Günther: kein eben Geborener

"Was tut's, dort ist es gewesen, wo ich gelernt habe, daß ich da bin, und daß es eine Welt gibt, und wie diese Welt aussieht, und was Zuhausesein heißt, und was Pferde sind und Droschken und Brücken – all das habe ich dort zum erstenmal erfahren, und richtige Pferde und richtige Droschken und richtige Brücken sind für mich wohl selbst heute noch die Pferde und Droschken und Brücken in Breslau, gleich, ob es dort noch Pferde, Droschken und Brücken gibt, all das lernte ich dort zuerst. Wo der Same hinfällt, da ist er zu Hause, nach Hause fahre ich also." Besuch im Hades. Günther Anders. München 1979:31


§ 12 | Wo der Same hinfällt

Begeben wir uns nun in die Zeit vor der Zeit, in die Zeit zwischen zwei Unendlichkeiten, in die Zeit zwischen dem Noch-nicht-Dasein und dem Nicht-mehr-Sein, in die Zeit, in der für Günther Anders alles begonnen hatte. Wir begeben uns nach Breslau, dorthin, wo er zur Welt hinzugekommen war, zu einer Welt, die von seinem Vater und vor allem von Frauen bestimmt wurde. Da waren die Mutter Clara Stern, die sich um das Wohlergehen der Familie kümmerte, die Schwestern Hilde und Eva, seine Spielgefährtinnen, die Großmutter, die bis zu ihrem Tod als Oberhaupt alles unter ihrer Kontrolle behielt, das Kindermädchen Else, die Hausmeisterstochter Pauline und viele andere, alles Frauen, die sein Leben bis zur Übersiedelung 1916 nach Hamburg prägten.

Begeben wir uns also dorthin, wo er zu Hause war, wo er sich heimisch fühlte, vielleicht das einzige Mal in seinem Leben, in die Breslauer Zeit, die ihm wie ein großer Traum, ein großer Wahn erschien: "Nichts. Alles war Wahn; alles Traum; alles Legende." (Anders 1979:59) Das einzig Reale schien für ihn seine Geburt gewesen zu sein, ein Vorgang, der sich so rasch vollzog, daß er zum zweiten Frühstück schon mit am Tisch gewesen ist. Am "12.7.02 10¼ Uhr vormittags", wurde Günther Stern geboren, "wog 8½ Pfund, war vermutlich um etwa eine Woche übertragen. Seine körperliche Beschaffenheit war für einen Säugling ungewöhnlich ausgeprägt, so daß er äußerlich nicht den Eindruck eines eben Geborenen machte." (Tagebuch I / Günther / 12.7.1902) Diese erste Eintragung der Mutter über ihr zweites Kind verweist auf jenen Günther Anders, wie er von Bildern her bekannt ist. Schon auf Fotos als junger Erwachsener wirkt er sonderbar alt.

Die folgenden Jahre von 1902 bis 1916 sind ohne große Komplikationen verlaufen. Eine Kindheit, wie man sie in einer jüdischen bürgerlich-akademischen Familie erwarten durfte. Mit Hauspersonal, Hauslehrer, Förderung der intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten, Freundschaften zu wichtigen Personen aus Politik und Wirtschaft und ein ausgeprägtes Sozialleben. Von dieser bürgerlichen Normalität gab es allerdings einige Abweichungen. Diese bestanden, neben einer unglaublichen Begabung, die Günther Anders von Geburt an mitbrachte, vor allem darin, daß die Eltern es mit der freien Entwicklung des bürgerlichen Individuums ernst meinten. Die drei Geschwister, Hilde, Eva und Günther, wuchsen in behüteten Verhältnissen auf, die Günther Anders noch in seinen Ketzereien von 1992 etwas verklärt wie folgt beschrieb: "Ich stamme aus einem Elternhaus, das gewiß das liebevollste, vernünftigste, glücklichste und chancenreichste gewesen ist, in dem ein Kind hatte aufwachsen können. Wenn aus mir, dem von früh an einfach alles geboten wurde, was zum Menschwerden beitragen konnte: Liebe, Spielfreiheit, Natur und Achtung vor allen Mitmenschen, allem Lebendigen und Mozartmusik, Rembrandtradierungen, selbst musizieren, selbst malen dürfen und alles fragen dürfen, der geduldige Antworten erwarten durfte (wenn auch nicht immer restlos zufriedenstellende) und der niemals ein zorniges oder gar wütendes Wort gehört hat und niemals geschlagen worden ist – also wenn aus einem Knaben nach solcher glücklichen und reichen Kindheit irgend etwas geworden ist, dann ist das gewiß nicht sein Verdienst. Und wenn nichts aus ihm geworden wäre, so wäre das nicht nur unbegreiflich, sondern die schwärzeste Undenkbarkeit gewesen." (Anders 1992:324)

Günther Anders betrachtete also das erfahrene Glück als Auftrag, selbst glücklich zu werden. Und auch die Frage, die immer wieder auftauchte, wie die Kinder mit der Tatsache umgingen, daß sie von ihren Eltern beobachtet und analysiert wurden, bewertete Günther Anders im Rückblick durchaus nicht negativ. Wenn er von seinem Elternhaus schrieb, dann tat er dies fast immer mit Freundlichkeit, und er verband sehr angenehme Gefühle mit seinen Erinnerungen. In dieser gelungenen Elternbeziehung dürfte auch der Ursprung für seine Glücksfähigkeit gelegen haben, denn im Gegensatz zu seinem philosophischen Werk, das häufig apokalyptisch anmutet, war sein Leben vom Willen zum Glück geprägt. Er zollte seinem Vater und auch seiner Mutter für deren behutsamen Umgang mit ihren Kindern, vor allem in ihrer Forschungstätigkeit, in ihrer Analyse der eigenen Kinder, großen Respekt, denn "nach einem Interregnum, in dem skrupellose Experimente mit Menschen an der Tagesordnung waren, in dem der Mensch, selbst der erwachsene, nur als zu verleitendes Kind behandelt wurde, mag diese entgegengesetzte Haltung, die im Kinde bereits den Menschen respektiert, sonderbar erscheinen. Mir erscheint sie nicht so; und heute weiß ich, daß die Ehre, die ich damals unbefangen akzeptierte, ihnen zukommt: denn zu achten ist der Achtende". Die methodischen Untersuchungen seiner Eltern an ihm waren "nicht nur durch wissenschaftliche Gründe, sondern durch die moralische Haltung" geprägt. Da war nichts von Vivisektion, vom Eindringen in den privaten Bereich der Kinder zu spüren. Jeder Versuch, den die Eltern anstellten, "war ein neues, von den Eltern erfundenes, Spiel". (Anders-Stern 1952b:XIII)

Wie war es nun mit seinem Willen zum Glück bestellt, wie war das Erziehungsklima in der Familie? Aus den Tagebüchern läßt sich das Familienleben gut rekonstruieren. Hier können nur einige Aspekte beleuchtet werden, die vielleicht ein wenig das relativieren, was Günther Anders vor allem in Bezug auf Bestrafung und Zwang schrieb. Aus den Tagebüchern lassen sich keine besonderen Vorkommnisse ablesen. Abgesehen von einigen schweren Krankheiten der Mutter gab es einen sehr geregelten Tagesablauf, der auf Grund der zahlreichen intellektuellen, beruflichen und sozialen Anforderungen an den Vater und die Mutter unabdingbar war.

Die Kinder wurden zu gutem Benehmen erzogen. Das dies im Falle Günthers gelungen war, zeigen Aussagen von Freunden und Bekannten, die ihn im Alter als zuvorkommenden, höflichen Mann beschrieben. Das war Teil eines in der Erziehung angelegten Verhaltens, das er selbst in Abgrenzung zu anderen Jugendlichen später in Hamburg kultivierte und das sich zum Teil auch aus seiner Isolation in der dortigen Schule verstehen läßt. Es zeigte sich darin aber auch eine "moralische Standhaftigkeit", die darin bestand, daß er sich selbst treu blieb, in einer Zeit, da es als schick galt, zu betrügen, zu lügen und den anderen zu übervorteilen: "Da wird von den Hamburgern mit Vorliebe das abgegriffene Schlagwort des ‚vornehmen Kaufmanns' gebraucht. Wo steckt denn eigentlich die Vornehmheit? Wäre sie wirklich im hamburgischen Kaufmannshause daheim, dann müsste man doch die Resonanz in der Jugend finden. Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen – und das Zwitschern der Hamburger Jungen klingt verdammt unvornehm. Günther, der brennend gern wenigsten einen Freund gefunden hätte, schloss sich dem Enkel eines Bürgermeisters an – sogen. erste Hamburger Familie. Ich warnte ihn vor Übereifer, weil ich ihn kenne und Enttäuschungen ihn sehr hart treffen. Richtig, es kam, wie ich ahnte! Eine Woche täglichen Zusammenseins, Günther zeichnet seinen ‚Freund’ Akt, sie lesen zusammen – wenn er fort ist, duftet noch die ganze Wohnung nach feinster Haarpomade. Dann eines Tages, nach der Mehlgeschichte, Unterhaltung über Ketten- und Wucherhandel. Unser Hamburger Jungelchen findet gar nichts dabei, im Gegenteil, der Kaufmann müsse so handeln, Günther verstehe nichts davon. Auch Brotmarken können getrost weiter und weiter verkauft werden mit steigendem Gewinn – Günther setzte einen Strich unter diese Freundschaft und ist wieder so isoliert wie zuvor." (Tagebuch VIII / Günther / 23.2.1918)

Vielleicht behielt Günther Anders seine Höflichkeit und seine guten Manieren bei, weil diese für ihn auch nach all den erlebten Vernichtungsprozessen einen wesentlichen Teil der Familienmoral repräsentierten. Er rettete so einen Grundsatz seiner Familienwelt über alle widrige Lebensverhältnisse hinweg. So gelang es ihm in einer Zeit, als es Konvention wurde, gesellschaftliche Höflichkeit durch Barbarei zu ersetzen, sich selbst und seinen Eltern treu zu bleiben. Und diese Treue zu den Eltern fußte auf dem Urvertrauen, das diese den Kindern vermitteltet hatten: jederzeit in jeder Sache zu ihnen kommen zu können und sich ihrer Loyalität sicher zu sein. Die Eltern konnten jedoch nur deshalb glaubwürdig sein, weil auch sie sich innerhalb bestimmter Normen und Werte bewegten, die für alle Familienmitglieder galten und auch durchgesetzt wurden.

Das Tagebuch der Mutter zeugt von unterschiedlichen Methoden, die Kinder in die Pflicht zu nehmen und ihnen soziale Verantwortung, moralisches Verhalten und Verständnis für die Bedürfnisse anderer beizubringen. Vor allem Günther, der als schwierig galt, als aufbrausend, wahrheitsliebend, rechthaberisch und unbeugsam, wenn es um Dinge ging, die er für richtig erachtete und damit in Widerspruch zu anderen geriet, mußte immer wieder diszipliniert werden, durchaus manchmal auch mit Schlägen: "Gestern als ich mit G. rechnete, bekam er eine Aufgabe falsch heraus. Ich wollte ihn auf den Irrtum führen, wiederholte dann noch einmal dieselbe Aufgabe; er fühlte sich aber durch meine Wiederholung im Ausrechnen gestört und in ungeduldigem Zorn stiess er das vor ihm stehende Tintenfass heftig zurück, dass die Tinte weit umherspritzte. Ich schlug ihn dafür ziemlich energisch auf die Backen und dekretierte ferner, dass er mittags nicht mit bei Tisch essen dürfe. Nun kam die Reue, und er weinte bitterlich. Ich führte ihn an der Hand ins Nebenzimmer und hielt den Augenblick für gekommen, ihm einmal eindringlichst ins Gewissen zu reden. Denn auch schon einige Stunden vorher hatte er mir Grund zur Unzufriedenheit durch sein Benehmen zur Gemüsefrau gegeben. Ich sprach ihm davon, wie mir die Schläge weher täten als ihm, wie er sich und uns das Leben erschwere durch seine Unbändigkeit, seinen Mangel an Selbstbeherrschung; er sagte schluchzend, er wolle sich Mühe geben, und wie immer vergass er auch in diesem Augenblick nicht die Selbstkritik, indem er sagte, dass er doch so oft vergesse, was er sich vorgenommen und andern versprochen habe. Da ich ihn in letzter Zeit wieder öfter geschlagen habe, ohne den geringsten Erfolg, wie ich mir bewusst war (höchstens den einen negativen, dass er sich verängstigt bei jeder Gelegenheit die Backe hält) so sagte ich ihm jetzt: ‚Ich will dich nicht mehr schlagen. Da ich weiss, dass du dir Mühe geben wirst, will ich dich auch nicht mehr wie ein kleines Kind behandeln. Aber ich erwarte nun auch ganz bestimmt, dass du dein Vorhaben ausführest', (nicht ganz wörtlich). Tränenden Auges umschlang er mich. Da wurde zu Tisch gerufen. Nun brach der Jammer von Neuem los, und er klagte: ‚Zwei Strafen, das ist doch zu viel; Backpfeifen und allein essen, das braucht doch nicht zu sein. Eine Strafe ist doch schon genug.'" (Tagebuch VI / Günther / 28.7.1909)

Doch trotz aller Erziehungszwänge der bürgerlichen Gesellschaft um die Jahrhundertwende, die Produkt ihrer Zeit waren, zeigt das Tagebuch der Mutter, daß die Kinder ein freies, selbstbestimmtes Kinderleben führten, das in der bedingungslosen Förderung der Neigungen jedes einzelnen Kindes stand. Was die Mutter tatsächlich unter einem gelungenen Erziehungsstil verstand, beschrieb sie wie folgt: "Es ist keine Kunst, Kinder zur Selbstbeherrschung zu erziehen, wenn man – nun wenn man die Kunst raus hat. Zwang ist fast immer von Übel! Eine hässlichere Situation, als Kindern das Essen herunterzuzwingen, kann ich mir in der Kinderstube kaum vorstellen. Durchblicken lassen, was man für richtig hält, gegebenen Falls auch still sein, wenn einmal gegenteilig gehandelt wird und bei passender Gelegenheit wieder auf das Mutvolle und Gute hinweisen, das in der Selbstüberwindung liegt – das führt wohl bei gutgearteten Kindern leicht zum Ziel." (Tagebuch XI / Hilde / 24.2.1908)

Der Tagesablauf in der Familie Stern war geprägt von zahlreichen Ritualen und eingeübten Aktivitäten. Hausangestellte unterstützten die Eltern dabei. Nie wurde jedoch aus den Augen verloren, daß die Eltern die Hauptlast der Erziehung zu tragen hatten. Am Abend nahm sich Clara Stern viel Zeit für die Kinder. Es wurden Geschichten in den sogenannten Bettstunden zwischen sieben und acht Uhr abends gelesen: "Gerade in dieser Woche, da ich tagsüber wenig mit den Kindern zusammen war, suchte ich die Bettstunde von 7-8 schön für sie zu gestalten, durch Erzählen, Plaudern, Vorlesen." (Tagebuch XI / Hilde / 24.2.1908) Die Stabilität der Familie war derart gefestigt, daß selbst lange und oft gleichzeitige Abwesenheit von Mutter und Vater der Zuneigung der Kinder zu den Eltern nichts anhaben konnte.

Auf den Schuleintritt, seine erste Erfahrung außer Haus, reagierte Günther Anders durchaus positiv, wenn auch sein unbeugsamer Wille, das Richtige zu vertreten, manchmal zu gröberen Auseinandersetzungen mit den Lehrern führte. Doch auch hier konnte er sich sicher sein, wenn die Eltern den Lehrer im Unrecht sahen, daß sie auf seiner Seite standen und dies auch unmißverständlich zum Ausdruck brachten. Das schulische Lernen bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, er war es bereits durch den Privatunterricht, den er seit Sommer 1908 genoß, gewöhnt: "Der Unterricht muss ihm wohl grosse Anregung bieten, sonst ginge er nicht so gern zur Schule, und sonst wäre er auch nicht so artig dort. Mit seinen Kameraden allerdings scheint er allen gebräuchlichen Schulunfug zu treiben. Wir bekommen ja immer nur einige Stichproben aufgetischt, aber schon diese zeigen, wie er als soziales Glied der Schülerschaft mit den Wölfen heult. Er fügt sich dem Urteil der Allgemeinheit, teils weil die Suggestion stark auf ihn wirkt, teils auch weil er nicht vereinsamt sein will. Hier und da kommt ja, wie ich schon früher erzählte, sein echtes Ich zum Durchbruch (man vgl. die Geschichte mit der Schulmappe, dem Sweater u.s.w.); andrerseits aber ‚tut er eben einfach mit'." (Tagebuch VI / Günther / 1.11.1910)

Der Schuleintritt verlief unproblematisch. Zu der wohl einzigen Schwierigkeit, die es im Leben des Kindes Günther Stern gab, zählte das mehrmalige Erkranken der Mutter, was es notwendig machte, ihn in die Obhut von Geschwistern der Mutter zu geben. Im Jänner 1910 mußte er für sieben Wochen zu Verwandten nach Graudenz ziehen: "Mit Freude soll er die Reise begrüsst haben (Er wurde von Onkel und Tante mitgenommen), aber mit Seeligkeit kehrte er wieder heim. Das Fortgerissenwerden von Eltern und Geschwistern, von Gefährten und Schulgenossen, aus dem vertrauten Milieu heraus, vor allem aber die gänzlich andere Behandlung, die er dort erfuhr, liessen grosse Sehnsucht nach der Heimat in ihm aufkommen. Er selbst hat zwar nach seiner Rückkehr wochenlang kaum etwas von den Graudenzer bitteren Erlebnissen gesprochen, nur die angenehmen erzählte er. Aber nach Monaten kam stossweise seine Auflehnung gegen die ihm widerfahrene Erziehung heraus. Meine Geschwister meinten es selbstverständlich ausserordentlich gut mit ihm und speziell mit uns; sie wollten in der kurzen Zeit aus einem eigenwilligen und eigenartigen Knaben einen folgsamen, sich unterordnenden bequemen Jungen machen – ohne jeden Erfolg." (Tagebuch VI / Günther / 13.8.1910) Dieses Zitat zeigt dreierlei: Erstens beweist es seine innige Beziehung zur Familie, die für ihn Heimat bedeutete: "Das Wiedersehen mit den Eltern beglückte ihn über alle Massen. Der Vater war ihm bis Posen entgegengefahren; die Erregung äusserte sich in Tränen und stummer Befangenheit; auf die Frage, wie es und wie er in Graudenz gewesen wäre, gab er gar keine rechten Antworten. Bei der Einfahrt in Breslau begrüsste er die bekannten Gebäude mit aufgeregtem Jubel, und er versicherte sich immer wieder: ‚Ist das wirklich schon Breslau? Ich kann es gar nicht glauben!’ Hierin äusserte sich auch schon starkes Heimatgefühl. Als er zu mir in die Stube kam, warf er sich wortlos schluchzend an meinen Hals. Ich lag zu Bett, und er wich nicht von meiner Seite. Ich glaube, solch glückseliges Gesicht habe ich bei einem Kinde noch nie gesehen. Die Augen standen voll Tränen; immer wieder und wieder küsste er mich und erfasste er meine Hand. Mit grösster Vorsicht schlich er durch die Zimmer, man fühlte ordentlich mit ihm die Seligkeit, wieder daheim zu sein." (Tagebuch VI / Günther / 13.8.1910) Zweitens zeigt es, wie eng Günthers Vorstellung von Heimat auch mit seiner Mutter verbunden war und warum er eine derartig enge Bindung zu ihr hatte: "Selbstverständlich verwöhnte er sich in den neun Tagen des Daheimseins durch das fortwährende Zusammensein mit der Mutter in hohem Masse. Er konnte es kaum vertragen, wenn die Mutter sich aus der Stube, geschweige denn aus dem Hause entfernte. Als er einmal aus der Schule kommend, mich nicht daheim traf, fragte er den Vater: ‚Kommt denn Mutti nicht bald, ich hab' solche Sehnsucht nach ihr.’" (Tagebuch VI / Günther / 9.1.1911)

Drittens zeigt sich darin seine charakterliche Festigkeit, so daß er, als er auf ein anderes Weltsystem als das von ihm erlernte traf, sich nicht mehr beeinflussen ließ und sich gegen das von ihm als Unrechtssystem identifizierte Lebensmodell auflehnte. Kein Wunder also, daß dieses Breslau, das er 1966 nach seinem Aufenthalt in Auschwitz aufsuchte, immer Heimat bedeutete. Es ist ihm nie wieder gelungen, in dieses Breslau zurückzukehren, weder physisch noch sozial. Lediglich geistig konnte er sich jederzeit dorthin zurückversetzen: "Das Bild des Hohenzollernplatzes mit den blühenden Akazienbäumen im Vordergrunde und mit den schmutzigen Sandkästen dahinter, und das Bild der Brandenburgerstraße mit dem von einer Ecke zur anderen laufenden Jungen Günther. […] Um mir dieses erste Bild der ersten Welt vor Augen zu stellen, dazu hatte ich, […] niemals etwas anderes nötig gehabt als einfach meine Augen zu schließen. Sobald ich das getan und diese Welt herbeigerufen hatte, war sie da, und ich war heimgekehrt." (Anders 1979:84-85)

Aus dieser Stelle der Autobiographie Besuch im Hades spricht die ganze Sehnsucht Günther Anders', der dem Verlorenen nachspürte, als er von Auschwitz anreisend in seiner Geburtsstadt ankam: "Vorhin ahnte ich nicht, wo ich war, und wie hätte ich das auch ahnen oder erkennen können, da ich ja schließlich zur Penne niemals aus dieser Richtung angefahren war." (Anders 1979:51) Wenn es ihm besonders schlecht ging, konnte er sich in dieses Zuhause zurückversetzen, in eine Zeit, als alles noch intakt war, wo die Sicherheit, die seine Eltern für selbstverständlich nahmen, noch existierte und der Krieg weit ab lag, in den Weltgegenden, die er nur von seinen geographischen Wandkarten kannte. Mit Beginn des Krieges und dem Umzug nach Hamburg endete seine Kindheit, begann die Vertreibung aus allem, was Beständigkeit, Sicherheit und Zuversicht bedeutete.
blättern [zurück] [weiter]
[Zitierte Literatur] | [Abkürzungsverzeichnis] | [Zeittafel]

eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
index: [a] | [b] | [c] | [d] | [e] | [f] | [g] | [h] | [i] | [j] | [k] | [l] | [m] | [n] | [o] | [p] | [q] | [r] | [s] | [t] | [u] | [v] | [w] | [x] | [y] | [z]


literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum