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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 13 | Von der Natur des Denkens

Kunst und Kultur spielten in der Familie Stern-Joseephy eine große Rolle. Der Vater, selbst künstlerisch begabt, hatte großen Einfluß darauf, in welche künstlerische Richtung sich der Sohn entwickeln sollte. Günther Anders besaß auf mehreren Gebieten großes Talent. Er war ein eifriger Klavier- und Geigenspieler, er zeichnete unermüdlich und schrieb schon früh Gedichte und eigene Tagebücher. Am auffälligsten aber war sein freier Gestaltungswille in der Musik: "Am Klavier sitzt G. sehr gern, und zwar nicht um sein Pensum zu üben – denn das wird ihm manchmal ziemlich sauer – sondern um ‚frei zu phantasieren’, oder sich nach dem Gehör etwas zusammenzusuchen. Seitdem er mit beiden Händen verschieden zu spielen hat, kommt er mit seinen Stückchen nicht mehr so glatt zustande. Er spielt z.B. mit der rechten Hand, was die linke zu spielen hat und umgekehrt. Sehr bevorzugt ist bei ihm das Auswendigspielen; ‚Die Mühle am Bach’, ‚Kuckuck, Kuckuck’ und ‚Alles neu macht der Mai’ spielt er ohne Noten. In den letzten beiden Tagen bemüht er sich, die Melodie des Liedes ‚Hinaus in die Ferne’ zusammenzusetzen, und er ist so weit gekommen: Als ich ihn fragte, wie er es mache (denn wir waren nicht dabei gewesen), konnte er es nicht erklären und sagte nur verschmitzt lächelnd: ‚Ich bin eben so musikalisch.’ Er gab übrigens an, dass ihm die letzten 2 Töne von dem Kindermädchen gesagt worden seien." (Tagebuch VI / Günther / 27.11.1909)

Natürlich versuchten sich alle drei Kinder in eigenständiger künstlerischer Gestaltung. Im Gegensatz zu Hilde und Eva hielt sich Günther nicht an vorgegebene Rahmen, er erfüllte nicht nur ein Plansoll, sondern brachte beinahe so jede freie Minute damit zu, sich künstlerisch und intellektuell der Welt zu nähern, mit einer Ernsthaftigkeit und Zähigkeit, die ihresgleichen suchte. Die Anneignung der Welt vollzieht sich bei Kindern in zweifacher Weise: intellektuell und physisch. In beiden Aneignungsstrategien hatte Günther Anders die Unterstützung von Vater und Mutter. Dennoch entwickelte er eigene Instrumentarien, die es ihm ermöglichten, diese Aneignung auf besondere Weise voranzutreiben und daraus schließlich der schriftstellerischen und philosophischen Kompetenz den Vorzug gegenüber der musikalischen und bildnerischen zu geben.

Weniger bekannt ist Günther Anders' Naturverbundeheit, aus der seine Weltzugewandtheit resultierte. Bereits mit sechs Jahren beobachtete er die Natur sehr genau. Das ist an sich nichts Besonderes, das tun viele Kinder. Was ihn auszeichnete, war, daß er daraus spezifische Schlüsse zog, aus denen er eine bestimmte Weltsicht ableitete. Naturerlebnis und -betrachtung waren für ihn nicht nur emotionale Genüsse, sondern waren verbunden mit intellektueller Interpretationsarbeit: "Auf einem Spaziergang im Walde blieb er plötzlich stehen und sagte, gradaus schauend: ‚Wenn man hier steht und dahin sieht, dann sieht es so aus, ob's brennt.’ Gemeint war folgendes: seitlich von ihm lag ein grosser Stein, der durch Flechtenüberzug eine ziemlich helle rotgelbliche Farbe hatte. Beim Vorbeigehen hatte dieser Stein seitlich sein Auge getroffen, und da im peripheren Sehen die Intensitäten gesteigert sind, hatte die Gelbrot-Helligkeit ihm den Eindruck des Brennens gemacht. Und nun stand er da, blickte unverwandt geradeaus (also nicht auf den Stein) und beobachtete dabei den nur ganz seitlich sichtbaren Stein und ruhte nicht eher, bis auch wir uns dahin gestellt hatten und den Eindruck bestätigten. (Tagebuch V / Günther / 28.8.1908)

Als er älter wurde, begnügte er sich nicht mehr nur damit, seinen Eltern die Beobachtungen mitzuteilen, sondern schrieb sie auch auf, verarbeitete sie in Gedichten und Erzählungen: "Die Kohle und das Feuer. Die Kohle sprach zum Feuer: ‚O friss mich nicht.’ Das Feuer sprach: ‚Ich fresse Dich.’ Denk an das 6. Gebot Du sollst nicht töten’, sprach die Kohle. ‚Ich fresse Dich gleich bis an die Sohle’, sprach das Feuer. ‚Da bist Du ja ein wahres Ungeheuer.’ Als Feuer jetzt nun schnappen wollt', ein Eimer Wasser auf sie rollt." (Tagebuch VII / Günther / 24.5.1911) Interessant ist dabei, daß er seine Texte mit "G. Stern" unterzeichnete, also bereits ein Bewußtsein für deren Originalität entwickelte. Auch Veränderungen in der immer gleich scheinenden Welt fielen ihm auf: "Sein täglicher ‚Schulgang’, besser seine ‚Schulfahrt’, bringt ihm unzählige Eindrücke; er leidet dabei nicht unter ihrer Wiederholung – haben doch die Litfasssäulen immer wechselnde Ankündigungen, die Schaufenster wechselnde Auslagen; macht er sich doch wechselnde Heimwege, steigt mal an dieser, mal an jener Ecke aus, geht mal durch diese, mal durch jene Querstrasse. Das Bahnleben, die Neueinrichtungen seiner Strecke sind ihm völlig vertraut, er kennt die Schaffner, die Art der inneren Ausstattung – ob neu, ob alt – ob Holz- ob Strohsessel – der einzelnen ‚Nummern’." (Tagebuch VII / Günther / 4.12.1911)

Neben diesen Alltagsbeobachtungen, die nicht selten durch Zeitungslektüre in politische Betrachtungen ausarteten, "so beschäftigt ihn jetzt die Politik des Auslandes: Tripolis und Italien, England, Russland und Persien drehen in seinem Köpfchen, und mit unglaublicher Unverfrorenheit doziert er über die Chancen der Völker", waren es vor allem Naturerlebnisse, die sein Bild von der Welt prägten. Die Naturverbundenheit des Kindes Stern ist interessant in Hinblick auf die philosophische Erkenntnis des Schriftstellers Anders, die dieser in seinem Text Die Weltfremdheit des Menschen ausformulierte: "Die Künstlichkeit ist die Natur des Menschen und sein Wesen ist die Instabilität." (Anders 1929:1 / Manuskript / LIT) Als Kind erfuhr er die Natur als einen Ort der Abwesenheit von Kunst und Kultur. Sie stellte für ihn einen Ruhepol dar, wo er sich von seinen intellektuellen und künstlerischen Studien erholen konnte. In den jährlichen Urlauben in Schreiberhau oder den zahlreichen Sommerausflügen ins Riesengebirge kam die "Zimmerluftbethätigung" fast zum Erliegen: "Wie immer ist der Sommer die Zeit des scheinbaren Stillstandes. G. zeichnet kaum, Wochen vergehen, ohne dass er Kreide oder Stift ernsthaft gebraucht. […] Ebenso wie das Zeichnen, ruht auch das Componieren. G. übt zur Stunde, aber selbstthätig ist er nicht." (Tagebuch VII / Günther / 23.6.1911) Nach all der winterlichen Selbstkritik, Zweifelsucht und originellen Kopfarbeit belebte ihn die Natur, konnte er die Grenzen seines Körpers austesten. Seine Trotzanfälle, seine Halsstarrigkeit, seine Rechthaberei waren wie verflogen: "Und wenn er gar wie hier dauernd im Freien und in Freiheit seinen Tätigkeiten obliegen kann, dann wird er überhaupt wie ausgetauscht. Nichts ist mehr übrig von alledem, was in Breslau oftmals störend wirkte. Hier kommt es überhaupt so gut wie gar nicht vor, dass einer von uns mit ihm schelten muss. Er ist von einer strahlenden Heiterkeit und ritterlichen Liebenswürdigkeit, und dies hat sich um so mehr entwickelt, um so frischer und blühender er auch physisch wurde. Jetzt ist er ein gebräunter, rosig angehauchter Junge, der kein Hindernis im Wege kennt, über Fels und Bach klettert, auf jedem gefällten Baumstamm balanciert und ahnungslos den Eltern das schönste Schauspiel dadurch bietet, dass jede seiner Bewegungen zugleich kraftvoll und graziös mit einem kecken Einschlag anmutet. Mit nacktem Halse, Armen und Beinen, die schon manche ehrenvolle Narbe zeigen, jagt er elastisch die Bergwege hinauf und hinab." (Tagebuch VI / Günther / 21.8.1910)

Die Natur als Rückzugsgebiet blieb ihm auch in späteren Jahren erhalten. Günther Anders hatte trotz, oder vielleicht gerade wegen der Weltfremdheit nie sein inniges Verhältnis zur Natur aufgegeben. Konrad Paul Liessmann merkte dazu in einem Interview an: "Sein Verhältnis zur Natur kann ich nur aus Nebenbemerkungen erschließen, wie eben, daß er offensichtlich wirklich gern gewandert ist, weil er ein guter Sportler war. Er erzählte auch immer wieder die Geschichte, wie er zu Heideggers Kreis gehört hat, der immer auf diese Kurt-Nauberger-Hütte eingeladen worden ist. Und der Heidegger war ja ein großer Sportler und er hat ja nur Studenten um sich gesammelt, die eine gewisse physische Konstitution mit sich gebracht haben. Da gab es einen Aufnahmetest, den die bestehen mußten, da mußten sie auf dem Kopf stehen. Es wurde getestet, wer das am längsten durchhält. Der Anders hat das am längsten ausgehalten. Und er war auch stolz darauf, daß er diese Robustheit, daß er diese physische Stärke hatte. Frau Heidegger, die Elfriede, beeindruckte er damit, und die ist dann mit ihm hinunterspaziert, hat er mir erzählt, und hat zu ihm gesagt: Ja, wir bräuchten in unserer Bewegung mehr so kräftige junge Burschen. Und er hat darauf gesagt: Ich glaube nicht, daß ich in ihre Bewegung passe. Offensichtlich hatte sie nicht mitbekommen, daß er jüdischer Abstammung war. [...] Diese Anekdote war wichtig für ihn. Auch diese Geschichte, wo er in Amerika am Highway spazierengeht, weil er kein Auto gehabt hat, nicht Autofahren hat können, und dann verhaftet worden ist, weil sie ihn für wahnsinnig gehalten haben. Die Polizisten halten an und fragen: Wo ist denn ihr Auto, haben sie eine Panne gehabt? Und der Anders sagt: Ich habe kein Auto. In Los Angeles gilt jemand offensichtlich als verrückt, der vorgibt, kein Auto zu haben und über den Highway spazierengeht." (Interview / Liessmann / 2001)

Die Naturverbundheit war aber nicht nur ein Akt gesellschaftlichen Widerstandes, sondern neben der Mutter und Breslau das dritte Erinnerungsstück, das er in sein Erwachsenenleben hinüberrettete. Das Naturerleben und damit die eigene Körpererfahrung, der Genuß, der daraus resultierte, die eigenen Grenzen zu erproben, spiegelte sich auch später in seiner Lyrik, als er in seinem Gedicht "Winter 1947" schrieb:
"Nun gehts bergab,
die Kufen sind vereist,
die Bahn poliert,
die Bremse ausgebrochen.
Der Schlitten rennt,
drei Kurven noch, drei Meilen
vorausgezählt,
und dann,
und jetzt
der Sturz." (Anders 1985e:332)

Diese Gabe, die Natur in all ihren Facetten erkennen und sich dem Genuß, sie zu betrachten, hingeben zu können, hatte er von der Mutter geerbt, denn es waren ihre Worte, mit denen sie das Naturerleben des Sohnes in den Tagebüchern beschrieb. Die Bewegung in und das Erleben der Natur wurde von den Eltern als ebenso wichtig erachtet wie das Ausüben künstlerischer Tätigkeit. Erst in der Verbindung von beidem schien ihre Erziehung zu glücken. Für Günther Anders als Schriftsteller und Philosophen bedeutete dies, daß sich seine emotionale Naturerfahrung mit seinen intellektuellen Begabungen in künstlerischer Hinsicht trafen. Er betätigte sich auf verschiedenen Gebieten: "Er dichtet, schriftstellert, komponiert und zeichnet." (Tagebuch VII / Günther / 15.3.1911)

Warum aber entschied er sich trotz der Naturliebe, trotz des ausgelassenen und als positiv erfahrenen Körpergefühls, trotz der hohen zeichnerischen und musikalischen Begabung für das Schreiben? Vielleicht war es die Attraktivität, die das Denken auf ihn ausübte. Im Denken konnte er all seine Begabungen zu einer synthetischen Einheit führen, die er im Schreiben hervorragend umsetzen konnte: die Emotion, die er durch die Musik erfuhr, die Bildhaftigkeit der Zeichensprache und seine Begabung für Alltags- und Naturbeobachtungen.

Darüber hinaus ist Denken jederzeit und überall verfügbar. Es bedarf keiner besonderen Gerätschaften und keines bestimmten Ortes. Um Musik zu machen (falls nicht gerade eine Gesangskarriere angestrebt wird), muß zuerst einmal ein Instrument gelernt werden; um zu zeichnen, sind Stift und Blatt notwendig. Allerdings ist das Zeichnen dem Schreiben näher als die Musik. Es setzt kein Instrument und langwieriges Üben von Noten voraus. Und im Zeichnen besaß der junge Stern eine besondere Begabung, wie der Vater feststellte: "Die zeichnerische Entwicklung unseres am 12. VII. 1902 geborenen Sohnes Günther eignet sich besonders gut zu einer psychologischen Darstellung, weil der Knabe schon sehr früh mit großer Lust und einigem Erfolge Stift und Kreide handhabte und für jede der deutlich erkennbaren Entwicklungsphasen ein sehr umfangreiches Material produzierte." (C & W. Stern 1910:2)

Bereits mit 5 Jahren und 8½ Monaten schlich sich bei ihm eine zweite Form der künstlerischen Betätigung ein. Er begann die Bilder, die er zeichnete, mit Texten zu versehen, meist mit Gedichten. Da er aber noch nicht selbst schreiben konnte, diktierte er den Eltern die Geschichte, die sie unter die Zeichung einzufügen hatten: "Zu einem Wandbild mit Rotkäppchen und untergehender Sonne:
In dem schönen grünen Wald,
Wenn da die Glocke furchtbar schallt,
Kommt Rotkäpchen herein
Mit Herzen und Jubelschein.
Und wenn die Sonne untergeht
Dann ist es schön, so schön!" (C & W. Stern 1910:23-24)

Letztlich hielt sich Günther Anders bei der Entwicklung seiner Talente nur an die Reihenfolge ihres Auftretens. Früh erkannte er einen wichtigen philosophischen Gedanken: "Kürzlich kam beim Zubettgehen ein philosophisches Gespräch auf. Evchen sinnierte plötzlich: ‚Die Welt hört nie auf.’ Sie meinte es wohl nur räumlich. Als wir die Kinder nun darauf hinwiesen, dass nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit kein Ende zu denken sei. Als Hilde dem weiter nachdachte, dass weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit ein Ende der Zeit zu finden sei, sagte Günther (wörtlich): ‚In der Welt kann man immer nur Präsens sein.’ Auf unsere Frage, was er darunter verstehe, sagte er: ‚Da ist es immer jetzt, z.B. am 12. Juli 1910 (sein letzter Geburtstag) kann man nur einmal sein. Da kann man nicht zweimal sein. Immer nur Präsens kann man in der Welt sein, nie kann man zurückgehen.' Hier sind zwei philosophische Gedanken miteinander verknüpft: die nicht umkehrbare lineare Richtung der Zeit und das immerwährende Gegenwärtigkeitserleben des Menschen, das ‚stehende Jetzt'." (Tagebuch VI / Günther / 13.9.1910)

Entscheidend für die Entwicklung seines Denkens und Schreibens war, daß sich beide, Vater und Mutter, zu Hause denkend und schreibend präsentierten. Der Vater gab dem Sohn in späteren Jahren immer wieder Impulse, die ihn in die Richtung der Schriftstellerei brachten: "Auf dem Spaziergang fragte er die Mutter: ‚Ich weiss gar nicht, was ich werden soll.' Mutter: ‚Vor allem ein braver Mann.' G.: ‚Ja, das ist doch aber kein Beruf.' Ich ging absichtlich in dieser Erholungsstunde nicht auf seine Grübeleien ein. Am Abend beim Waschen bestürmte er mich wieder, was er denn werden solle. Es sei schrecklich, er habe soviel Begabungen und alles sei nichts Rechtes. Herr Bild meine, er solle Musiker werden, Herr Kick, er solle bildender Künstler werden. Ich: ‚Das haben Beide nicht gemeint, sie meinen nur, Du sollst Deine Fähigkeiten möglichst in künstlerischer Weise ausbilden. Ich glaube bestimmt, Du wirst studieren und Vater wird Dir immer ein Vorbild sein.' Als er beim Zubettgehen mit dem Vater noch einmal das Gespräch begann, hob dieser hervor, dass seine Lehrer im Auge gehabt hätten, ihm die Kunst als einen Schmuck des Lebens nahezuführen; auch das sei eine grosse Bereicherung und der Vater selbst sei noch heute dem Berliner Musikprofessor dankbar, der ihm abgeraten habe, Musiker zu werden." (Tagebuch VIII / Günther / 21.5.1916)

Was aber befähigte Günther Anders, zurückschauend betrachtet, sich für das Denken und Schreiben, letztlich für die Existenz eines Autors und Philosophen und gegen die Musik beziehungsweise die bildende Kunst zu entscheiden? Es waren vor allem Verhaltensweisen und Begabungen, die ihm halfen, bestimmte Techniken zur Weltaneignung zu entwickeln. Früh zeigte sich ein tiefgehendes Interesse an Etymologie: "G. erzählte uns dieser Tage, dass er zu gern lateinische Vokabeln läse, er hätte das Buch schon mehrmals durchgelesen. Da vergliche er immer das Lateinische mit dem Deutschen und suche, ob er einen Zusammenhang fände; das macht ihm sehr viel Freude. Wir haben ihn natürlich bei Beginn des Lateinischen oft auf Beziehungen hingewiesen, schon der leichteren Lernbarkeit halber: so sagte ich ihm bei hortus – Hortensie, bei forma = Form, ager – Acker, bei servare erinnerten wir ihn an Conserven. Sicher findet er die waghalsigsten und abenteuerlichsten Verwandtschaften heraus – er hat uns noch nicht eingeweiht; aber sein etymologisches Interesse, das er schon als kleiner Junge offenbarte, wird befriedigt." (Tagebuch VII / Günther / 27.5.1911)

Zusätzlich zu diesem Interesse an der Sprache, Wörter an ihre Ursprünge zurückzuverfolgen, sie von Grund auf zu verstehen, kam, daß er Formulierungen fand, mit denen er die Welt sehr präzise und genau beschreiben konnte: "Die Eigenschaft, die Günthers Sprache schon in früher Kindheit kennzeichnete, nämlich eine eigentümliche, den Nagel auf den Kopf treffende Originalität des Ausdrucks, zeigt sich auch jetzt noch zuweilen." (Tagebuch VI / Günther / 27.12.1909)

Mit dieser Originalität im Spracherwerb und -gebrauch ging ein Prozeß einher, der für ihn später wichtig werden sollte, nämlich alles aus sich heraus noch einmal zu denken, sich nicht mit dem Nachdenken zufriedenzugeben oder sich von anderen bei seinen Handlungen beeinflussen oder sie sich aus den Händen nehmen zu lassen. Dies äußerte sich auch in banalen Alltagssituationen: "Er kommt nach Hause vom Spaziergang, sucht mich in der Küche auf, zieht sich den Mantel aus, wirft ihn einfach auf die Erde und setzt sich auf den Stuhl. […] Ich verwies ihm streng sein Benehmen und forderte, dass er den Mantel aufheben sollte. Hilde war aber schon meinen Worten zuvorgekommen. Doch er in seinem neugeborenen Gehorsam, sprang auch sofort auf, und genau wie er es als kleines Kind immer getan hatte, legte er den Mantel wieder auf die Erde und hob ihn dann auf, um ihn an Ort und Stelle zu tragen. Als die Schwester sagte: ‚Du hättest ihn doch nicht erst wieder hinlegen sollen’, sagte er: ‚Na ja, wenn ich ihn doch aufheben soll.’" (Tagebuch VI / Günther / 29.7.1909)

In die Philosophie übersetzt, bedeutet dieses Ereignis, er mußte es selbst tun, damit es richtig getan war, er ließ es sich nicht abnehmen, sondern wollte die Welt selbst gestalten und die Pflicht erfüllen, alles wieder in Ordnung bringen. Er überließ die Entscheidung nicht der Schwester, sondern wiederholte die Tat, deren Ursache er gewesen war. Was er nicht selbst dachte (tat), war nicht sein Denken (seine Tat), also nicht getan (gedacht). Aus dieser Selbstbestimmtheit heraus wurde er schließlich zum Vordenker. Dieser unbedingte Wille, alles durch Selbsterkenntnis zu erfahren, traf auf eine permanente Selbstkontrolle des Gedachten, Gesagten oder Getanen, woraus sich eine ausgeprägte Selbstkritik entwickelte: "Das lang vernachlässigte Zeichnen bereitet ihm wieder kurz vor Weihnachten frohe und schwere Stunden. Unzähliges graues Papier und zahllose Pastellstifte mussten daraufgehen, ehe ein paar Bilder seiner Kritik genügten." (Tagebuch VI / Günther / 27.12.1909)

Neben dem Interesse an Etymologie, der Originalität und Selbstkritik fand sich noch eine weitere hilfreiche Eigenschaft – er war ein leidenschaftlicher Sammler. Sein Kinderzimmer wirkte in späteren Jahren wie ein Naturkundekabinett: "Natürlich ist das Interesse für Länder und Völker durch das Markenalbum in ihm geweckt worden. Ich hoffe, dass gerade durch seine ästhetische Veranlagung der Sinn doch immer aufs ‚Ganze' gerichtet bleiben wird, dass die Art des jetzigen ‚Sammelns' nur eine Vorstufe für ihn bedeute." (Tagebuch VI / Günther / 18. 8. 1909)

Neben der Naturkunde war die Geographie seine zweite naturwissenschaftliche Leidenschaft. Keine Weltgegend schien ihm zu unbedeutend, um sich nicht mir ihr zu beschäftigen. Über seinem Bett hing eine Weltkarte, die er abends betrachtete und mit der er sich stundenlang die Zeit vertreiben konnte. Die Eltern förderten dieses Interesse, indem sie Bezüge zu anderen Sachgebieten herstellten: "Im Anschluss daran bemerkte ich, dass Geographie eigentlich nie langweilig sein könne; sie [Hilde] solle nur einmal überlegen, wie unendlich die Fäden von der Erdkunde zu anderen Gebieten menschlichen Forschens gingen. Und nun überlegten beide Kinder und wurden ordentlich warm vor Eifer, immer neue Beziehungen zu finden. Sie entdeckten selbst folgende: Beziehung zur Geschichte, zur Sprache, zur Kunst, zur Bevölkerung, zur Kleidung, zur Rechtspflege, zur Medizin, zur Religion. Gerade durch den letzten Punkt kamen wir dann irgendwie auf den Buddhismus zu sprechen und ich versuchte, so kindgemäss wie möglich, eine Erklärung." (Tagebuch VII / Günther / 4.12.1911)

Die gesammelten Dinge, die erworbenen Kenntnisse dienten ihm aber nicht als Besitz, als bloße Ausstellungsstücke, als Trophäen, sondern als Orientierung, die Welt zu ordnen, die ihn umgab: "Es liegt ihm nicht daran, Marken als sein Eigentum anzuhäufen, sondern er macht ein autodidactisches Studium daraus. […] Er kennt schon alle möglichen Charakteristika, Zeichen, Inschriften, Formen, er kann meistens neuempfangene Marken selbst richtig einordnen, und zwar dient ihm hierzu seltener die oft schwer zu entziffernde Schrift, als die ganz bildhafte Komposition." (Tagebuch VI / Günther / 24.10.1909)

All dies mündete nun von der Begabung her in ein sehr spezifisches Lernverhalten. Er suchte beim Lernen nicht das Detail aufzufassen, sondern hatte immer das Ganze im Auge. Letztlich lief alles darauf hinaus, sich die Welt so anzueignen, wie es ihm richtig erschien: "Für das Gedichtlernen hat er seinen eigenen Modus gefunden; wiederum wie alle Kinder trifft er das, was die Psychologie schon längst konstatiert hat, und was immer noch nicht in die Schulpraxis übergegangen ist: er lernt ‚im ganzen'; ob es sich nun um einen oder um vier Verse handelt, er liest das Gesamtpensum, welches er bewältigen soll, und stockt er, so beginnt er wieder von neuem beim Anfang, sich so niemals künstliche Anfänge oder Enden schaffend. Ich hörte einst wie mein Kindermädchen ihn ermahnte: ‚fange doch nicht immer wieder von vorne an' und ich konnte noch grade ihrer falschen Psychologie entgegenwirken." (Tagebuch VI / Günther / 16.5.1909)

Dabei hielt er sich nicht an Leistungsvorgaben, orientierte sich nicht nur passiv an gestellten Aufgaben, sondern versuchte sich Instrumente, Texte und anderes in eigener Erkundung anzueignen, er lernte nicht als passiver Konsument, sondern erforschte zum Beispiel die Funktion des Klaviers auf eigene Faust und kam dadurch zu sehr spezifischen Erkenntnissen: "Die erste Hälfte bis ‚Traum’ gelang tadellos, in der zweiten Hälfte hatte er sich einige Fehler eingeübt; als ich es ihm richtig vorsang, fand er bald die richtigen Tasten. Überhaupt ist diese Möglichkeit der Selbstkorrektur eines der hervorstechendsten Merkmale. Er probiert in der Gegend, die in Betracht kommt, die Töne, und zwar meist im Zusammenhang mit einem oder zwei vorausgehenden Tönen, um den Intervallschritt richtig herauszubekommen, und merkt sofort, ob er nun das Richtige gefunden hat." (Tagebuch VI / Günther / 27.12.1909)

Beides also, intellektuelle Betätigung und offene Zuwendung zur Welt in der Naturerfahrung, verbunden mit einer beglückenden Kindheit, ermöglichten es Günther Anders schließlich, sein originelles Denken und Schreiben zu entwickeln. Die Förderung beider Aneignungsstrategien machte es ihm später möglich, intellektuell die physischen Auslöschungsprozesse in der Welt zu erfassen, sich davon betroffen zu fühlen und dies in seine Sprache zu übersetzen und schließlich den Lesern nahezubringen, um bei diesen Betroffenheit und eine Gegenbewegung auszulösen. Sein Schreiben resultierte also aus der Erkenntnis, daß nur die Verbindung von intellektueller und physischer Aneignung der Welt zu ihrer Veränderung beitragen kann: "Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns." (Anders 1980:5) Seine spätere Abkehr von der akademischen Philosophie war vielleicht nur möglich, weil er in der physischen, materiellen Gestaltung der Welt positiv durch die Eltern bestärkt wurde. Toben, spielen, angreifen, zerlegen war nicht tabuisiert, sondern erwünscht.

Gerade die aus dem Gedächtnis aufgezeichneten letzten beiden Jahre des Tagebuches zeigen den Übergang vom Kind, das experimentierend seine Möglichkeiten auslotete, hin zu einem reflektierten und gefestigten Arbeiten, in dem vieles rascher und eindeutiger gelang. Günther Anders trat gut gerüstet in die Zwischenwelt des Jugendlichen ein, der sich schreibend auf die Suche nach seiner Welt machte und dabei die Weltfremdheit und Weltlosigkeit des Menschen entdeckte, die er philosophisch und politisch immer wieder bearbeitete, die ihm aber persönlich erspart geblieben war.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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