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Leben und Denken im Wort
§ 11 | Familienleben
Resümierend kann man sagen: Trotz der Unterschiede, die zwischen den Eltern und ihren Kindern bestanden, gab es viele Gemeinsamkeiten, die sie als Familie stark aneinanderbanden und ein intensives Familienleben gewährleisteten. Diese Gemeinsamkeiten, die sich in den Lebenslinien von Vater, Mutter, dem Sohn Günther sowie den beiden Töchtern Hilde und Eva finden lassen, sollten aber nicht dazu verleiten, die Kinder als Spiegelbild ihrer Eltern zu betrachten – weder im Denken noch im Leben.
So sehr sich die Kinder Günther und Eva einig im Urteil über ihre Eltern und deren Beziehung waren, so unterschiedliche Auffassungen hatten sie hinsichtlich ihrer Einstellung zur Welt. Über die Konstellation der Kinder in der Kindheit und Jugend zueinander ist nicht viel zu sagen. Ihre Kindheit war geprägt von bürgerlicher Normalität. Es wurde gestritten und versöhnt, es gab selbständige Entwicklungen, die in unterschiedliche Berufe und Weltanschauungen mündeten. Der eine, Günther, hochbegabt, wurde von den Eltern deutlich bevorzugt. Dies zeigte sich am deutlichsten in der Tatsache, daß die Mutter sein Tagebuch am längsten führte – über die Pubertät hinaus. Neben den traditionellen Werten, die dem Sohn auch in nicht-orthodoxen jüdischen Familien eine Sonderstellung zuwiesen, spielten vor allem die besonderen Begabungen, die Günther schon in frühen Jahren zeigte, eine große Rolle. Die Begabungen der Kinder konnten auch deswegen in diesem hohen Maße hervortreten, weil im Hause viel gespielt wurde. Die Kinder wurden zu vielfältigem Spielen animiert. Und so konnten sich die Geschwister im Miteinander in unterschiedliche Richtungen entwickeln, was vielleicht die zweifellos starke Bindung aneinander noch in der Jugendzeit und später als Erwachsene erklärt. In gewisser Weise stärkte das Sternsche Familienleben die Solidargemeinschaft unter den Kindern. Sie schätzten einander wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie so verschieden waren.
Das Familienleben verlief im Grunde harmonisch. In Breslau blieb die Familie weitgehend unter sich. Der Vater war noch nicht der berühmte Psychologe, der Hamburger Institutsgründer. Er engagierte sich noch viel stärker als Familienvater. Das Tagebuchprojekt nahm die gesamte Familie in Anspruch und führte dazu, daß es eine starke Konzentration auf die Familie gab, vor allem von den Eltern, was sich natürlich auch auf die Kinder übertrug. Die Kinder des Ehepaars Stern rückten damit in den Blickpunkt öffentlichen Interesses. Dennoch blieben in Breslau familiäre und öffentliche Sphären streng von einander getrennt: "Ich kann nicht sagen, daß die Kindheit öffentlich war. Ich meine, wir hatten ein sehr gutes, geschlossenes Familienleben. Damals war es zum Beispiel gar nicht üblich, daß man wie heute die Kinder überall hin mitnimmt; die Kinder blieben immer zuhause, wenn die Eltern ausgingen oder gesellschaftliche Verpflichtungen hatten. Ich erinnere mich zum Beispiel: In Breslau mußte jeder Professor einmal im Jahr ein großes Dinner geben für alle Kollegen, und da war ich immer beleidigt, daß ich nicht einmal dabei sein durfte, wenn die Leute kamen. Kinder- und Elterngeselligkeit war vollkommen getrennt." (Graf-Nold 1989:61)
Mit dem Umzug nach Hamburg kam es zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit: weg von der Kernfamilie, hin zur Welt. Der Vater war nun ein anerkannter Wissenschaftler, das Haus der Familie Stern, ein mehr oder weniger "offenes Haus, was schon dadurch deutlich wird, daß sie teilweise Dauergäste hatten, wie den amerikanischen Psychologen Allport, der zeitweise bei den Sterns in Hamburg gewohnt hat; also ich sehe da einen Unterschied, einmal eine Konzentration auf die Kernfamilie in Breslau, die Familie als Mittelpunkt des Lebens, und in Hamburg dann die Familie als Anlaufstelle für die vielen sozialen Beziehungen und Kontakte, die sich durch die Situation in Hamburg ergeben haben".(Interview / Deutsch / 2005)
Das Familienleben unterschied sich von dem anderer Familien zu dieser Zeit kaum, nur in einem Punkt wich es massiv ab: Alle drei Kinder erhielten Förderung in einer Form, wie es zur damaligen Zeit – und auch heute noch – äußerst ungewöhnlich – wenn nicht sogar außergewöhnlich – war. Die Tagebücher spiegeln keine "normale Entwicklung wieder. […] Dazu war die familiäre Situation der Sterns zu exklusiv. Einmal durch die Konzentration auf die familiäre Situation, durch die Konzentration darauf, daß die Eltern das Beste für ihre Kinder verwirklichen wollten, also nicht nur in dem Sinn, daß sie die Überzeugung hatten, daß sie das Beste tun müßten, sondern sie haben sich tatsächlich in der Weise auch engagiert. Es kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt hinzu: die Eltern konnten deshalb so sehr Eltern sein, weil sie an dem Thema der Entwicklung wissenschaftlich interessiert und gleichzeitig auch entlastet waren durch Personal, das in der Familie mitwirkte. Solche Situationen gibt es heute kaum noch, und wenn, dann in der Oberschicht. Von daher sollte man sich davor hüten, was in der familiären Situation passiert ist, auf andere Familiensituationen zu übertragen. Es war schon was ganz Besonderes mit der Sternfamilie." (Interview / Deutsch / 2005)
Hilde, Günther und Eva waren Kinder der Jahrhundertwende, und dies spiegelte sich vor allem im Verlust ihrer Heimat wieder. Dort, wo sie geboren wurden, starben sie nicht. Sie wurden herausgeholt aus Breslau, zuerst durch die Eltern, dann durch den Krieg. Eine Rückkehr in die glücklichen Tage von Breslau war nicht mehr möglich. Durch die Erfahrung, von der Kindheit abgetrennt zu sein, nicht mehr in das verantwortungslose Glück zurückkehren zu können, entwickelten die Schwestern Hilde, Eva und Günther unterschiedliche Strategien, um mit dem Verlust des Pardieses fertigzuwerden. Während sich Hilde im sozialistisch-kommunistischen und Eva im zionistischen Feld bewegten, also Gruppenzugehörigkeiten suchten, um das familiäre Element auf anderer Ebene erhalten zu können, koppelte sich Günther vollständig von jeder Gruppenzugehörigkeit ab. Sein soziales Leben spielte sich fortan nur noch in Zweier- oder maximal Dreierkonstellationen ab. Er mißtraute jeder Form von Gruppenbildung und Gruppenmeinung.
Hinter diesem Versuch, das soziale Feld für sich zu erhalten beziehungsweise zu verweigern, stand aber auch die Unmöglichkeit, das symbiotische Verhältnis zwischen Clara und William Stern im eigenen Leben zu wiederholen. Im Denken und Handeln entwickelten sich alle drei Kinder zu starken, unabhängigen Persönlichkeiten. Im Alltag jedoch – in ihren Beziehungen zu Männern und Frauen – versuchten sie das familiäre Glück zu wiederholen, zurückzukehren in die Tage der Kindheit. Dieser Versuch scheiterte aus verschiedenen Gründen, die Sehnsucht danach ist allen stets geblieben. Das, was wir als Heimatgefühl empfinden – irgendwo dazuzugehören –, haben alle drei in besonderer Weise verloren und nur in einer Art geographischen Seßhaftigkeit (Israel, DDR, Österreich) wiedergefunden. Dieses besondere Heimatgefühl der Familie Stern gründete in drei Elementen, die nach dem Wegzug aus Breslau und dem Exil in Amerika nicht mehr herstellbar waren.
Das erste Element stellte der geographische Ort dar. Breslau war die geographische Mitte ihrer Kindheit. Mit dem Umzug von Breslau nach Hamburg war die geographische Mitte verloren und verursachte vor allem bei dem jugendlichen Günther eine schwere Krise. Er versuchte, die geographische Mitte in seiner Reise nach Breslau 1966 wiederzufinden, doch dieser Versuch scheiterte – Breslau war nahezu ausgelöscht.
Das zweite Element war der soziale Ort ihrer Kindheit, also die intakte Kernfamilie, die Beziehung zu Vater und Mutter, die von Eva und Günther als äußerst positiv beschrieben wurde. Schon durch den Ersten Weltkrieg, dann aber vor allem durch die Erfahrung des Exils und das Wissen über Auschwitz und die Ereignisse in Hiroshima zerfiel die Kernfamilie. Der Vater starb bereits 1938, die Mutter folgt 1945. Die Kinder zerstreuten sich nach Israel, in die DDR und nach Wien. Der soziale Ort ging 1945 verloren. Eva Michaelis-Stern gelang die Herstellung eines Familienlebens mit ihrem Mann Dolf Michaelis durch die Gründung einer eigenen Kernfamilie und die Verortung in Israel. Hilde versuchte als einzige bereits vor dem Tod der Eltern, den sozialen Ort mit Rudolf Schottländer herzustellen, und scheiterte. Einen zweiten Versuch unternahm sie mit Hans Marchwitza, dieser gelang zumindest in intellektueller Hinsicht. Günther Anders‘ sozialer Ort war ab 1945 Elisabeth Freundlich. All diese Versuche gelangen jedoch nur teilweise, waren im Verhältnis zu den Eltern letztlich ein Scheitern. Die Heimat, das Vertraute, die familiäre Kette war zerrissen – für alle Zeiten und künftige Generationen verloren.
Das dritte Element war der intellektuelle Ort – das Schreiben und Denken. In ihm fühlten sich alle drei Kinder aufgehoben, so wie sie durch die Eltern in den Tagebüchern aufgehoben und erinnert waren. Alle drei versuchten sich die Welt immerzu schreibend und denkend anzueignen. Doch gerade dort, wo sie sich am nächsten waren, nämlich in dieser speziellen literarisch-philosophischen Art und Weise der Welt- und Vergangenheitsaneignung, lagen sie im Ergebnis am weitesten voneinander entfernt. Hilde wurde Kommunistin, Eva Zionistin, Günther Atheist. "Ich denke, die Kinder haben sich die Wege gesucht, die zu ihrem Temperament und ihrer Begabung paßten. Das ist der eine Punkt, der zweite Punkt ist, daß sie sich deshalb unterschiedliche Wege gewählt haben, weil sie sich als Individuen verstanden haben und nicht einen Weg wählen wollten, den eines ihrer Geschwister schon gewählt hatte; und drittens, sie wollten die Wege wählen, die nicht identisch waren mit denen der Familie. Was heißt die Familie, die die Eltern für sie repräsentiert hatten. Und daher wird das, was so auffällig scheint, im nachhinein wieder sehr leicht erklärbar. Das ist auch ein psychologisches Phänomen, daß Geschwister versuchen, sich in manchen Punkten maximal zu unterscheiden, weil dann die Konflikte geringer werden, die Konkurrenz geringer wird. Und es ist deutlich, daß der Einfluß der Eltern weniger stark ist, als man so oft vermutet oder als die Eltern es selber wünschen. Die Entscheidung zu diesen Wegen ist erst in der Jugend, in der Adoleszenz, gefallen – nicht vorher." (Interview / Deutsch / 2005)
Gerade das Denken und Schreiben, das in der Adoleszenz reifte, führte dazu, daß die Kinder sich in ihrer geistigen Entwicklung voneinander entfernten. Auch hier galt, was Günther Anders über seinen Vater sagte, der in einer Zeit lebte, als das Grauen noch nicht geschehen war. Der Vater konnte noch arglos vertrauen auf das Weitergehen und den Fortschritt. Dieses Vertrauen in die Entwicklung der sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse teilten seine Kinder nicht. Eva und Hilde fanden es zum Teil in ihrer Identifizierung mit zwei Staaten, Israel beziehungsweise der DDR, wieder. Günther Anders war auch hier radikaler als die Schwestern. Er verweigerte die Versöhnung ebenso mit Deutschland wie auch mit Israel, und letztlich blieb er Österreich gegenüber immer mißtrauisch: Die Nation, der Staat, konnte ihm keine Heimat bieten, er wohnte in Österreich, mehr nicht. Mit dem Umzug von Breslau nach Hamburg verlor Günther Anders seine Heimat, den Ort, die Familie und das Denken, dem er sich zugehörig fühlte. Alles mußte neu entworfen, neu angeeignet werden. Vielleicht liegt darin ja auch eines der Wesensmerkmale für die Originalität seiner Philosophie.
Damit ist gemeint, daß er nicht nur einen höheren Verbreitungsgrad seiner Schriften erreichte, sondern auch ein vollkommen anderes Leben führte. Dieser andere Lebensstil und die damit einhergehende Loslösung von den Eltern vollzog sich in den Lebensläufen aller drei Kinder ohne die üblichen Brüche, ohne große Konflikte, ohne gröbere Streitigkeiten und Revolten gegen die Eltern. Die Kinder standen in einem gemeinsamen geistig-kulturellen Koordinatensystem, das am Ende der Kindheit als etwas Vergangenes, nicht weiter Entwickelbares wahrgenommen wurde.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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