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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 10 | Eva Stern (1904-1992)

Eva Stern, durch die Heirat mit Dolf Michaelis Eva Michaelis-Stern, stand schon in der Kindheit immer ein wenig im Schatten ihrer eiden Geschwister. Dies wird deutlich in den Tagebucheintragungen der Mutter, denn schon der erste Eintrag, der bemerkenswerterweise erst zwei Wochen nach Evas Geburt gemacht wurde, zeigt, wie selbstverständlich auch Hilde in einen Vergleich mit einfloß: "Eva Stern ist am 29. December 1904 morgens 1 Uhr als kräftiges ausgetragenes Kind geboren worden. Ihr Äusseres glich sehr dem Aussehen, das Hilde als Neugeborenes gezeigt hatte, namentlich zeigt auch Eva die großen tiefschwarzen Augen und dunkles dichtes Haar." (Tagebuch I / Eva / 15.1.1905) Derartige Vergleiche mit Hilde und Günther sind häufig. Das lag natürlich auch daran, daß die beiden anderen Geschwister bereits ihre sozialen Räume in der Familie bezogen hatten und manches sich zu wiederholen begann. Auch der Umfang der Tagebucheintragungen über Eva ist am geringsten, da natürlich die Neuigkeiten, die es zu berichten gab, nicht mehr so zahlreich waren und auch die Zeit immer knapper wurde, da ja nun über drei Kinder geschrieben werden mußte. Aber gerade durch die von der Mutter aufgezeichneten Vergleiche werden die Unterschiede erst in aller Deutlichkeit sichtbar; insbesondere in Bezug auf die spätere Berufswahl und die Lebenseinstellungen wie auch auf die verschiedenen charakterlichen Eigenschaften.

Eva war ebenso wie Günther und vielleicht auch in größerem Ausmaß als Hilde eine begabte Schreiberin. Sie schrieb immer auch für ein Publikum: "Sehr merkwürdig war eine Bemerkung Evas. Sie hatte erst geschrieben: statt ‚Anna und Mutti’‘‚unser Fräulein und Mutti’. Ich fragte erstaunt: ‚Warum sagst Du denn ‚Fräulein‘?‘ Darauf sie etwas verlegen: ‚Ja wenn’s die Leute lesen, die wissen doch nicht, wer Anna ist.‘ Hilde und ich lachten sie aus und meinten: ‚Welche Leute werden denn das lesen? Willst Du es drucken lassen?‘ Hieraus ergibt sich, dass sie nicht völlig unbefangen schreibt; und mit dem ‚Leute lesen’ hat sie ja insofern recht, als z.B. am Nachmittag Frl. G. gleich Einsicht in die Arbeit gewährt wurde." (Tagebuch III / Eva / 18.8.1912)

Noch in späteren Jahren behielt sie in ihrer Korrespondenz diese Form der Beziehung zu anderen bei. Briefe waren für sie eine Art Berichterstattung, die von ihr verfaßten Broschüren eine Dokumentation ihrer Arbeit und der mit ihr in dieser Arbeit verbundenen Menschen. Wie auch ihre Mutter berichtete sie von ihrem Leben, teilte Ereignisse mit, überlieferte Geschichte und Geschichten, legte Rechenschaft ab – von Ereignissen, Projekten und historischen Zusammenhängen – und ließ sie drucken, um sie für ein größeres Publikum verfügbar zu machen.

Im Gegensatz zu ihren Geschwistern besuchte sie eine jüdische Mädchenschule in Hamburg, die sie – die ja aus einem assimilierten jüdischen Bürgerhaus kam – stark geprägt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie im Geiste der deutschen Kultur erzogen worden. In "dieser Mädchenschule" hat sie dann "zum ersten Mal erfahren, daß es eine jüdische Kultur gibt, daß es fromme jüdische Menschen gibt. In dieser Schule wurde zum Beispiel am Sabbat nicht geschrieben, am Sabbat wurde nur Religion unterrichtet und Hebräisch gegeben. Und leider – zu meinem großen Schaden – hat mich Vater vom Hebräischunterricht dispensieren lassen, weil er der Meinung war: das ist eine tote Sprache, das hat gar keinen Zweck, daß man sie lernt." (Graf-Nold 1989:62)

Die Erfahrung, als Juden disqualifiziert zu sein – trotz aller familiären Anpassungsleistungen –, mußten alle drei Kinder machen. Eva löste diese Erfahrung aber im Gegensatz zu den beiden anderen Geschwistern durch eine Hinwendung zum Judentum und letztlich zum Zionismus. Im Verhältnis zwischen deutscher und jüdischer Kultur war in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts keine pädagogische oder aufklärerische Haltung gefragt, sondern ein politisches Verhältnis zur Welt, eine kritische Haltung zur deutschen Kultur, die weder Mutter noch Vater mitbrachten. Durch ihre Hinwendung zum Judentum und durch die Ablehnung des heraufziehenden Faschismus intensivierte sich ihre Beschäftigung mit dem Zionismus und seiner Bewegung.

Die Welt brach nach dem Ersten Weltkrieg zusammen, Stabilität und Sicherheit waren für die junge Generation nicht mehr aufrechtzuerhalten. Eva begegnete diesem Zusammenbruch mit direktem politischen Engagement, das darin bestand, einzelne Menschen vor Gefängnis, Deportation und Vernichtung zu bewahren. Obschon ihre Eltern nicht einverstanden waren mit Eva Sterns Lebensentscheidungen, blieb sie ihrem Vater und ihrer Mutter bis ins hohe Alter verbunden. Eva Michaelis-Stern sah sich als Drehscheibe der familiären Beziehungen und sorgte immer wieder für die Auffrischung von Kontakten. Ihr Vater nahm eine herausragende Rolle in ihrem Leben ein. Sie schrieb sehr emotional und freundlich über ihn, und in gewisser Weise sah sie sich als Bewahrerin seines Andenkens. Als ihr größtes Verdienst im Zusammenhang mit ihrem Vater betrachtete sie die Überführung des Archivs seiner Schriften nach Jerusalem. Als sie sechzehn Jahre alt war, versuchte ihr Vater sie zu seiner Assistentin am Psychologischen Institut in Hamburg zu machen und insgesamt für die Psychologie zu begeistern. Eva verweigerte dies aber nach kurzer Zusammenarbeit, da sie andere Pläne für ihr Leben hatte: Sie wollte Gymnastiklehrerin werden. Dieses Interesse an körperlicher Bewegung einerseits und für die Lehre auf der anderen Seite war bereits früh in der Kindheit aufgetaucht: "Ihre Ausdauer beim Laufen lässt auf ihre allgemeine Energie schliessen. Nie machte sie uns Mühe, nie liess sie sich ziehen. Immer verlangte sie, den schwersten Rucksack zu tragen und sie ging wirklich weite Strecken mit dem Gepäck auf dem Rücken. Besonders froh machten sie zwei Touren, eine am frühen Morgen – wir brachen um 6 1/2 Uhr auf und waren schon um 8 1/2 auf der Neuen Schlesischen Baude – und jene Mondscheinpartie, von der sie der Lehrerin so ausführlich berichtete. Selbst nach der Nachtwanderung war sie am nächsten Tage frisch und heiter – sie ist eine elastische Natur, schlank und behende; dicker ist sie auch in den Ferien nicht geworden, obgleich sie einen tüchtigen Appetit entwickelt hat." (Tagebuch III / Eva / 5.8.1912)

Nach Abschluß ihrer Ausbildung ging sie nach Berlin und eröffnete dort 1928 eine Gymnastikschule. In Berlin lernte sie ihren späteren Mann Dolf Michaelis, einen Bankangestellten, kennen, mit dem sie das Engagement für den Zionsimus und die jüdische Kultur teilte. In ihre Kurse kamen vor allem Schülerinnen aus zionistischen Kreisen. Mit Beginn der dreißiger Jahre wurde es immer schwieriger, die Schule zu führen. Die politische Lage in Deutschland veranlaßte sie schließlich, sich stärker in der Jugend-Aliyah zu engagieren. Sie gründete in Berlin ein Büro der Aliyah und wurde so zu einer zentralen Mitarbeiterin der Bewegung in Deutschland. Schon 1935 schaffte es Eva Stern mit Hilfe ihrer Geschwister, Vater und Mutter zur Emigration nach Amerika zu überreden. Sie selbst emigrierte mit ihrem Mann 1938 nach Palästina, arbeitete aber bis Kriegsende von London aus für die Ausreise deutscher Juden.

Mit dem Kriegsende war es dann auch endlich möglich, sich ihren eigenen Kinderwunsch zu erfüllen. 1945 wurde ihr Sohn David geboren. Im Gegensatz zu Hilde, die früh geheiratet und ihre Kinder noch in den zwanziger Jahren zur Welt gebracht hatte, war es für Eva zunächst nicht vorstellbar "ein eigenes Kind zu haben. Kinder brauchten doch Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit, […] und wir wußten damals ja nie, was am anderen Tag wäre. Unser Sohn kam dann erst nach dem Krieg zur Welt; sozusagen zum letztmöglichen Zeitpunkt für mich, ich war damals 41; deswegen ist es auch bei dem einen Kind geblieben. Die ruhige Zeit, die wir uns gewünscht hatten, haben wir auch in Jerusalem leider nicht erlebt. Mein Mann sagte dazu immer: ‚Unser Leben ist eigentlich viel zu interessant.’" (Graf-Nold 1989:66)

Wirklich zur Ruhe ist Eva Michaelis wohl nie gekommen. Nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Bewahrung des Vermächtnisses ihres Vaters trieben sie bis ins hohe Alter an, aktiv zu bleiben, sondern auch ihr bereits in den zwanziger Jahren entwickeltes soziales Engagement führte sie fort. Sie arbeitete in der Organisation zur Etablierung von Einrichtungen für geistig Behinderte – vor allem für ältere geistig Behinderte, für die es kaum Einrichtungen in Israel gab.

An eine Remigration nach Deutschland hat Eva Michaelis-Stern aus verschiedenen Gründen nie gedacht: "Zum ersten, weil sie an den Zionismus glaubte, insofern der Staat Israel den Juden eine Möglichkeit bietet, endlich eine Heimat zu finden. Der zweite Grund war, daß ihr Mann eine ganz gute Position bei einer israelischen Bank hatte. Drittens hatten sie eine ganz gute Bezugsgruppe, mit der sie ein kulturelles Leben pflegten. Ich glaube, daß nie der Gedanke bei Eva da war, nach Deutschland zurückzukehren." (Interview / Deutsch / 2005)

Eva Michaelis-Stern starb am 24. Januar 1992.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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