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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 9 | Hilde Stern (1900-1961)

Auf die Schwestern kann ich nur ein paar Schlaglichter werfen, da die Quellenlage mehr als dürftig ist. Ich beginne mit Hilde, der älteren, der Erstgeborenen. Ihre Biographie gilt als weitgehend unerforscht. Einige in den Kindertagen erworbene Eigenschaften lassen sich über die Tagebücher der Mutter erschließen. Beginnen möchte ich bei den ersten Sätzen, die die Mutter über Hilde schrieb, bei den ersten Sätzen der Tagebücher überhaupt: „geb. d. 7.April 1900, nachts 2 Uhr. [...] Geburt erfolgte nach 24stündigen Wehen. Als nur der Kopf geboren war und dem Kind die Augen m. kaltem Wasser ausgewischt wurden, verzerrte d. Kind d. Gesicht, so wie zum Weinen.“ (Tagebuch I / Hilde / 7.4.1900)

Die Entwicklung Hildes verlief normal. Zu ihren herausragenden Eigenschaften, im Vergleich zu den beiden anderen Geschwistern, gehörte ein ausgesprochener Gemeinsinn, der sich schon darin äußerte, daß sie früh in der Lage war, sich bewußt sozial zu verhalten: „Günther war krank und durfte nichts ‚Gutes‘ essen. Sonntag sollte er sich mit einfachem Backwerk begnügen, während Eva und Hilde vom ‚Hochzeitstagbuch‘ verlockendere Stücke erhielten. G. fing gekränkt an zu weinen – was thut Hilde? Sie bringt mir ihr Stück zurück und bittet, sie wolle auch nur das haben, was G. habe, damit er ruhig würde. Ich willfahrete ihr und lobte sie. Ich bin mir natürlich klar, dass hier der Wunsch, vor der Mutter brav dazustehen und ein grosses Lob einzuheimsen, noch kausaler war als der, dem Bruder etwas Gutes zu thun – immerhin aber versagte sie sich materielle Genüsse ideeller wegen.“ (Tagebuch XI / Hilde / 10.3.1908)

Eine, wie ich meine, notwendige Voraussetzung, um in einer idealistischen, revolutionären Bewegung, der sie in den dreißiger Jahren angehörte und die vor allem im Untergrund agierte, bestehen zu können. Ein zweites Element aus ihrer Kindheit half ihr sicherlich ebenso dabei, Kommunistin zu werden, zu sein und zu bleiben – ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl. Selten konnte sie eine zu erledigende Sache länger liegenlassen. Hier einige Beispiele aus den Tagebüchern: „Ich kann getrost sagen, dass H.‘s Schulleistungen uns nach den Erwartungen, zu denen uns die ersten Jahre des Privatunterrichts und überhaupt ihr ganzer geistiger Habitus in den Kinderjahren berechtigt hatte, einigermassen enttäuschten. Nur ihre Leistungen, nicht ihr Pflichteifer. Sie sucht sich niemals um eine Aufgabe herumzudrücken und arbeitet oft stundenlang unermüdlich.“ (Tagebuch XII / Hilde / 19.9.1910) „Für Hilde existiert schon Pflicht ohne Neigung, im Kantischen Sinne, wenigsten ohne bewusste Neigung. Obgleich sie die Anfangsgründe des Klaviers leicht erfasst und auch nicht ungern übt, so bedauert sie doch manchmal, dass ‚morgen Stunde ist’. Ich meinte nun, sie müsse ja nicht spielen lernen, wenn sie nicht gern wolle – darauf Hilde: ‚Ich muss es doch aber lernen’; sie meint damit nicht den Zwang von aussen, sondern den von innen, den sie selbst auf sich ausübt.“ (Tagebuch XII / Hilde / 17.8.1909) „Sie hat gerade der Schule gegenüber eine höchst wundervolle Stellungnahme: sie ist voller Pflichtgefühl und arbeitet getreu; sie nimmt alles ernsthaft, aber nicht zu wichtig.“ (Tagebuch XII / Hilde / 8.12.1909)

Hinzu kam ein unbeugsamer Wille, der sogenannte aufrechte Gang, den die Familie Stern ja durchwegs auch in der Öffentlichkeit pflegte und nach innen von den Eltern den Kindern gegenüber an den Tag gelegt wurde. Die Mutter war sehr erfreut darüber, daß sich Hilde von der Schule nicht „zermahlen“ ließ: „Deutsch-Lesen war auch ‚gut’, ebenso Fleiss und Betragen. Aber die Körperhaltung lautete auf ‚Noch zu unruhig’. Ich hatte im Geheimen meine Freude daran; ist es doch ein Zeichen, dass sie sich nicht allzuschnell zermahlen lässt. Bisher verträgt sie – rein äusserlich genommen – die Schulluft trotz ihrer Schlechtigkeit vortrefflich. Sie kommt nach 5 Std. mit so hochroten Backen und leuchtenden Augen heim, als sei sie 5 Std. spazierengegangen. Auch in anderer Hinsicht scheint sie gewappnet zu sein. Natürlich bringt sie manch kleine Angewohnheiten heim, die sie von den Kameradinnen annimmt – doch im Grossen und Ganzen bleibt sie sie selbst.“ (Tagebuch XII / Hilde / 6.1.1910)

Hilde Stern verließ Anfang der zwanziger Jahre den elterlichen Haushalt und heiratete am 20. September 1922 Rudolf Schottländer, zu dem sie nach seinem Gastaufenthalt im Hause der Sterns eine Beziehung entwickelte, die schließlich in die Ehe mündete. Kennengelernt hatten sich Hilde Stern und Rudolf Schottländer durch Günther Anders, der sich 1921 mit seinem zukünftigen Schwager in Freiburg aufhielt. Günther Anders hatte ihm „von seinen Eltern und von seinen beiden schönen Schwestern, zwischen denen er, selbst ein schöner jüdischer Jünglingstyp, dem Alter nach in der Mitte stand, vorgeschwärmt und seine Eltern dazu überredet, mich einzuladen“. (Schottländer 1986:29) Das Ehepaar Schottländer richtete sich in Berlin in der Wohnung seiner Mutter ein, die kurz zuvor verstorben war, um durch Vermietung Einnahmen zu erzielen, denn vom Geld seines Schwiegervaters wollte er nicht leben.

Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor: Hanna Obermann (geboren 1925), die heute noch in Berlin lebt, und Michael Schottländer (geboren 1924), später unter dem Namen Scott geführt, der nach der Emigration in Amerika blieb und dort auch starb. In Amerika führte Hilde Stern bis zur Heirat mit Hans Marchwitza den Namen Scott. Die Scheidung von Rudolf Schottländer im Jahr 1927 argumentierte dieser mit unterschiedlichen Interessen. Ausschlaggebend dürfte aber eine dritte Schwangerschaft gewesen sein, die Hilde Stern nicht zu Ende führen wollte. Ganz sicher gab es aber massive politische Differenzen. Rudolf Schottländer schrieb dazu in seiner Autobiographie: „Der Tod meiner erste Frau Hilde, [...] im September 1961, kurz vor meiner Übersiedelung nach Ostberlin, gibt mir Anlaß zum Rückblick auf die nicht nur persönlichen, sondern mehr noch politischen Gründe einer so tiefen Entfremdung. Spätestens das Exil in New York hatte in der Bürgerstochter mit gemäßigt emanzipatorischen Linkstendenzen die radikale Wendung zu einem fanatischen Kommunismus bewirkt, die wohl schon vor der Auswanderung nach Amerika eingetreten war und dort endgültig wurde. Nicht gerade hungernd, aber doch in großer Armut lebend, fristete sie mit beiden Kindern eine Existenz am Rande der kapitalistischen Gesellschaft.“ (Schottländer 1986:96)

Was für Rudolf Schottländer Ausdruck von Fanatismus war, könnte ja durchaus eine legitime Reaktion auf die Verhältnisse in Deutschland gewesen sein. Der aufkommende Nationalsozialismus trieb sie nicht in die innere Emigration, sondern zum Widerstand, zur Rebellion gegen das faschistische System. Viele Möglichkeiten, sich einer Bewegung gegen den Nationalismus anzuschließen, gab es nicht. Es war also nicht besonderer Fanatismus, der Hilde zur Kommunistin werden ließ, sondern eine logische Konsequenz der politischen Verhältnisse. Bereits 1926 verließ Hilde ihren Mann und kehrte nach Hamburg zurück, wo sie wieder eine Tätigkeit im Arbeitsamt aufnahm, aus dieser wurde sie „auf Grund ‚des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums’ vom 7. April 1933 [...] im Juli 1933 entlassen“. (Weinke 1991:185)

Die immer prekärer werdenden politischen Verhältnisse veranlaßten sie, ihre Kinder Michael und Hannah in einer Quäkerschule in Holland unterzubringen. Hilde Stern schloß sich einer von Hans Westermann geführten Gruppe an, die der KPD nahestand. Zu ihren politischen Überzeugungen schrieb die Schwester Eva Michaelis-Stern in einem Brief an Wilfried Weinke: „Ich bin überzeugt, daß ihre politische Tätigkeit und ihr Anschluß an linksgerichtete Kreise der Ausdruck ihres Gerechtigkeitssinnes war. Sie hat immer betont, daß sie kein Mitglied der Kommunistischen Partei war, da sie jede Gewaltanwendung ablehnte. Sie schloß sich deshalb einer Widerstandsgruppe an, die mit ihrer Auffassung übereinstimmte.“ (Weinke 1991:186)

Auf Grund ihrer Tätigkeit im Widerstand wurde sie am 6. März 1935 verhaftet. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt und in das Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof eingeliefert. Ihre Schwester Eva besuchte sie regelmäßig alle zwei Wochen. Die Haft hatte an Hilde Stern gezehrt, konnte aber ihren Willen, sich weiter gegen den Nationalsozialismus zu engagieren, nicht brechen. Die Verantwortung für ihre beiden Kinder und die sich verschärfende politische Situation in Deutschland bewogen sie schließlich doch, eine Auswanderung in Erwägung zu ziehen. Eva Michaelis-Stern schrieb dazu: „Hinzu kam, daß (zu meiner großen Erleichterung) die Gestapo dem Anwalt mitgeteilt hatte, daß sie nach den zwei Jahren nur entlassen werden würde, falls sie sich schriftlich verpflichtete, Deutschland sofort nach der Entlassung zu verlassen. Zu meiner Erleichterung erklärte sie sich zu dieser Unterschrift bereit.“ (Weinke 1991:187)

1937 emigrierte Hilde mit Evas Hilfe über Holland nach Amerika, womit sie dem Weg der Eltern und ihrem Bruder folgte. Dort lernte sie 1941 Hans Marchwitza bei German America in New York kennen, wo sie beide – Hilde Stern als Sozialarbeiterin – tätig waren. Das Verhältnis zwischen Hans Marchwitza und Clara Stern war seltsam gespannt. Ihre Vornehmheit schüchterte ihn ein. Im Grunde lebte die Familie Stern aber sehr eng beieinander. Jeder kümmerte sich um den anderen. Dies galt für die Kinder ebenso wie für die Mutter. Nach dem Tod der Mutter im Jahre 1945 gingen die Kinder wieder getrennte Wege. Hilde heiratete noch in den USA Hans Marchwitza, um leichter nach Deutschland zurückkehren zu können. Die Beziehung zwischen Hans Marchwitza und Hilde Stern beschreibt die Tochter Hannah Obermann in einem Interview als sehr eng. Hilde Stern überbrückte durch die gemeinsame Arbeit an Büchern so manche Wissenslücke ihres Mannes. Sie redigierte seine Texte und begann selbst wieder zu studieren. Sie wird als wissbegierige und kluge Frau beschrieben. (Interview Obermann 2005)

Die Rückkehr gestaltete sich schwierig, da die Amerikaner kein großes Interesse hatten, allzu viele Parteigenossen beim Wiederaufbau Deutschlands dabeizuhaben. Nach Beantragung der Ausreise dauerte es noch eineinhalb Jahre, bis eine kleine Gruppe von Kommunisten (etwa 20 Personen) zurückkehren konnte. Ihre Rückkehr betrachteten sie in gewisser Weise auch als Parteiauftrag. Hilde und Hans Marchwitza „kehren nach 1947 nach Babelsberg und schließlich nach Ost-Berlin“ zurück. „Hier verschreibt sich die überzeugte Kommunistin der Idee des Aufbaus eines kommunistischen deutschen Staates, unterstützt die schriftstellerische Tätigkeit ihres zweiten Mannes in der DDR, ist aber selbst nicht mehr als Autorin tätig.“ (Lohfeld 2006:2)

Hilde Stern starb 1961 in Ostberlin an einem Herzinfarkt.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 8.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 8.4.2020
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