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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren VII
Ein Versuch das Beste aus zwei Welten zu vereinen


Habe wieder einmal in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann gelesen und mir sind einige interessante Aspekte aufgefallen. Fragen, die mich selbst oft genug umtreiben. Mir scheint es, als wäre Hoffmanns Novelle prototypisch für unsere heutige Gesellschaft, auch wenn sie aus einer anderen Epoche stammt und sich darin die Grundzüge der Romantik wie in wenigen anderen Texten zeigen: Der Mensch, der sich in der technologischen Wende zu verlieren beginnt, der Mensch, der in einer Welt am Übergang verloren zu sein scheint, weil nur er sehen kann, was vor sich geht und die anderen ihn nicht verstehen können, weil das, was er sieht, für die anderen unsichtbar bleibt. Weil das Sprechen über das Neue, das Ungewisse, das Verwandelte nicht gelingt. Und so bleibt der eine, der Sehende, alleine in seiner Welt gefangen, zieht sich zurück in das, was wir anderen wie selbstverständlich ICH nennen und koppelt sich ab, von dem, was andere gemeinhin als Realität bezeichnen und manche sogar als Wahrheit.

Wie brüchig das Konzept von Realität und Wahrheit aber ist, zeigt sich heute in besonderer Form, da den Wirklichkeitsprinzipien der Einzelnen und ihren kollektiven Erscheinungsformen eine besondere Bedeutung zukommt. Was wir sehen, riechen, schmecken, ertasten und hören können, ist das, was aus der Welt auf uns einstürmt und wir nehmen es auf, verwandeln es, bauen uns unsere eignene Sicht der Welt daraus, wie Nathanael im Sandmann, der mit Hilfe von Okularen (künstlichen Augen) eine andere Sicht auf die Welt entwickelt und eine neue Welt entdeckt, eine mechanische, eine technologische, eine unmenschliche, letztlich aus diesen Gründen auch unheimliche.

Und die Wirklichkeiten, die mindestens so zahlreich sind, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt, treffen in Diskursen, in Gesprächen, in Beziehungen aufeinander und im besten Falle wird verhandelt, welche der Wirklichkeiten nun der Realität näher ist und welche ferner. Doch was es dafür braucht, ist Kommunikation. Die Individuen müssen miteinander sprechen, sich absprechen, sich aussprechen. Sie müssen sich öffnen, preisgeben, was ihre Wirklichkeit ist und noch viel wichtiger, sie müssen zuhören, aufnehmen, annehmen. Doch wo dieses Annehmen und Preisgeben nicht mehr funktioniert, weil jede und jeder auf seiner Weltwirklichkeit beharrt, werden die Menschen weltfremd, ziehen sich im einen Fall aus ihr zurück oder schlagen im anderen Fall auf die Andersgläubigen, Uneinsichtigen oder Fehlgeleiteten ein. In jedem Fall bedeutet es aber, dass die Weltaneignung misslingt.

Günther [Anders] hatte 1928 in seiner Rede in Frankfurt einen Begriff geprägt, den wir heute unter dem Namen Weltfremdheit kennen. Im Grunde ist damit gemeint, dass ein Mensch, der es nicht schafft, sich die Welt nach seiner Geburt im Laufe des Lebens anzueignen, weltfremd bleiben muss, weil es ihm nicht gelingt, sich der Welt zu nähern, die Welt, die er vorfindet, nicht annehmen kann, weil sie nicht für ihn Da ist, nicht für ihn gemacht ist, wie Anders ausführt. Wir nennen diese Menschen leichtfertig Spinner. Ein Begriff, den wir häüfiger gebrauchen, als uns lieb sein sollte, obwohl er doch nur eines aussagt, dass es auch der Welt, der Gesellschaft, den Anderen nicht gelungen ist, sich des weltfremden Menschen zu bemächtigen. Das Band zwischen der Realität und dem Individuum ist sozusagen nie geknüpft worden oder dort, wo es einst genüpft war, ist es brüchig, spröde und in in manchen Fällen auch gerissen.

Sigmund Freud hatte eine Basis für Anders gelegt mit seiner Theorie vom ES (Trieb), ICH (bewusste Persönlichkeit) und ÜBER-ICH (Gewissen). Der Trieb, das Es, ist das, worauf wir am wenigsten Einfluss haben, denn er ist immer schon da, von Geburt an. Er ist die biologische Konstante in uns, wir können ihn zwingen, unterwerfen, unterdrücken, manchmal aufschieben und zivilisieren, aber wir können ihn nicht zum Verschwinden bringen. Das Über-Ich bildet sich in uns durch den Kontakt zu anderen heraus, ist das, was die Gesellschaft, andere Menschen, aus uns werden lassen, manche nennen diesen Einfluss Moral, andere Vernunft, aber es ist eben etwas Fremdes, etwas, das uns nicht von Anbeginn unserer Zeit innewohnt, etwas Erworbenes, Angenommenes, im besten Falle etwas, dem wir mit Einsicht begegnen. Und das ICH? Ja, nun Freud meinte, das ICH entstehe in einer Art Kriegssituation zwischen dem Es und dem Über-Ich, es sei das, was wir selbstreflexiv als Eigenes bezeichnen, das, worin wir uns selbst erkennen, wenn wir sagen: Ich will, ich bin, ich werde sein.

Wie passen diese beiden Bereiche nun zusammen? Anders und Freud. Der eine hatte keine Kenntnis vom anderen und der andere war kein begeisterter Anhänger des einen. Dennoch. Wenn das ES eine Form der Realität ist, mit der man lernen muss, zu leben und das ÜBER-ICH eine Form der Wahrheit, die durch Gesetze, moralische Maßstäbe, gesellschaftliche Koventionen und viels mehr von uns angenommen werden muss, so ist das Ich gezwungen sich beides anzueignen, sich von beiden Seiten her formen zu lassen. Wird kein Einvernehmen zwischen ES und ÜBER-ICH hergestellt, so geht das ICH in der Welt verloren.

Ähnliches gilt auch bei Günther Anders, aber nicht weil er davon ausgeht, dass es soetwas wie eine Natur des Menschen gäbe, sondern weil er denkt, dass das Wesen des Menschen eben seine Künstlichkeit sei, dass er gar nicht anders kann, als die Welt nach seinem Willen zu gestalten. Bei Freud ist das ICH ja irgendwann einmal da, und im Grunde immer schon angelegt, als etwas, das sich formt, aus inneren und äußeren Einflüssen. Bei Anders gibt es dieses ICH nicht. Er fragt auch nicht danach, denn gäbe es dieses ICH tatsächlich, wäre es ja eines, das aus purer Fremdheit bestünde und wenn der Mensch ICH sagen würde, dann meinte er immer das Fremde in sich selbst, das Andere, die Anderen.

Bei Freud strebt das ICH immer zum Selbst, zum Eigenen, zum Psychologischen. Bei Anders strebt das ICH immer zum Anderen, zum Kollektiv, zum Politischen. Beides hat seine Berechtigung. Doch die Frage ist, wenn meine Grundannahmen stimmen sollten, was machen wir mit dieser Erkenntnis. Ist das ICH also etwas Eigenes oder etwas Fremdes. Oder müssen wir das Fremde einfach nur in etwas Eigenes verwandeln? Und gelänge uns dies nicht, scheitern wir dann mit unserer Existenz in der Welt? Hätten dann nicht Freud und Anders in gleichem Maße recht? Und wenn dem so wäre, was bedeutet das für unser heutiges gesellschaftliches Handeln?

Nathanael im Sandmann geht zwischen dem Anspruch dessen, was er in der Welt sieht und was er daraus in seiner Wirklichkeit macht und jener Forderung, die von Clara an ihn herangetragen wird, dem Rationalitätsprinzip, dem Naturprinzip, verloren, weil er eben die Welt nicht mehr nur als naturgegeben begreift und er sich selbst darin nicht mehr als Naturwesen verorten kann, sondern weil er durch die Brille der Wissenschaft die Welt als veränderbar, unmenschlich und zerstörerisch wahrnimmt. Deshalb kann er auch nicht zurück in das, woraus er hervorgegangen ist, in die Familie, zu Clara, zur bürgerlichen Existenz, in die Gemeinschaft, denn er hat gesehen, wie sie wirklich ist.

Das Band zwischen ihm und der Welt ist gerissen. Konsequenter Weise wird er wahnsinnig, kehrt in sein Innerstes ein, verirrt sich in seinem ICH und geht darin verloren. Das, was ihn retten könnte, das Politsiche, das Kollektive, das Fremde ist ihm nicht mehr zugänglich. Nathanael wäre an Freuds Kategorien gemessen ein kranker Mensch, ein Patient, nach Günther Anders Denken wär er einfach nur weltfremd.

Im einen Fall wäre er behandelbar, er müsste nur wiedergewonnen werden für das Realitätsprinzip, zurückgeführt werden in die Welt der anderen, wodurch er in die Mühlen der modernen Medizin, der Psychiatrie geriete, eingewiesen in eine Irrenanstalt, eine Rehabilitationsklinik, wo er gut untergebracht, verwahrt und überwacht werden könnte, bis man ihm mit Hilfe von Therapien, Medikamenten und Elektroschocks seine Brille von der Nase gerissen hätte. Eine der zahllosen Varianten wie die vormoderne Gesellschaft auf die ersten Menschen reagierte, die die aufkommende Moderne bereits sichtbar am Horizont heraufdämmern sahen.

Im anderen Falle wäre die Antwort auf die Verlorenheit des Menschen, ihm einen Weg in eine Welt zu bahnen, in der er nicht fremd wäre, sondern heimisch sein könnte. Eine Welt, die für ihn da wäre und sich nicht gegen ihn stellen würde. Demnach müssten ihm die Anderen zu Hilfe eilen, in dem sie ihm ein paar Schritte entgegengehen, sich seine Welt aneignen müssten, um zu verstehen, warum er nicht in der Lage ist, ihre anzunehmen. Sie müssten ihm sein Brille zwar auch entreißen, aber nur um sie sich selbst auf die Nase zu setzen, um die Welt mit seinen Augen zu sehen, um die Welt, die ihn umgibt, begreifen zu können.

Nathanael ist nicht verloren, weil er an seinen Fantasien zerbricht, sondern weil die Anderen nicht in der Lage sind, zu sehen, oder nicht sehen wollen, was er sieht: die Monstrosität der am Horizont heraufdämmernden Moderne.

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eingestellt: 6.12.2022 | zuletzt aktualisiert: 6.1.2022
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