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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren VI
Keine Frage, der Zustand der Welt verbessert sich - täglich


Nur die Zyniker unter den Boomern, wie ein Dieter Nuhr, der Comedyprediger des deutschen Fernsehens, können behaupten, dass der Zustand der Welt besser geworden ist, seit unseren Kindertagen. Satiriker würden das mit einem Augenzwinkern kommentieren, in einem ironischen Nebensatz erwähnen oder sarkastisch auf die bürgerlichen Boomer blicken, die sich damit ihr Versagen schön reden wollen. Natürlich kann man sagen, besser sei ja nur eine Frage der Perspektive. Aus der Perspektive eines gelernten Lehrers, eine Berufsgruppe, die ohnehin eher zum Stilmittel des Sarkasmus neigt, muss die Welt eine schöne, neue Welt sein, voller Möglichkeiten, die alle Bedürfnisse zu stillen scheint. Eine bunte, vielfältige Medienwelt, in der jeder und jede sich zeigen und präsentieren kann, ein Echo werfen kann. Jede und jeder eine Toillete hat, fließend Warmwasser in der Wohung, Waschmaschine, Kaffeemaschine, drei Fernseher, vier Laptops, sechs Spielekonsolen, eine/n wundervolle/n und liebevolle/n Partner/in, einen Hund oder eine Katze, manche eine Schlange oder Spinne im Terrarium und natürlich ein Auto in der Garage, das mehr einem Panzer gleicht als einer Familienkutsche. Eine Frage sei dabei jedoch erlaubt, wenn einer wie Nuhr von einer besseren Welt spricht, wenn die Boomer ihren Wohlstand in den Industrieländern mit Zähnen und Klauen verteidigen, den sie gegen die Verarmung in einem großen Teil der Welt erwirtschaftet haben, aus wessen Perspektive stellen sie die Behauptung auf, dass sich der Zustand der Welt verbessert habe.

Mag sein, dass wir Boomer verhindert haben, dass die Welt völlig aus den Fugen gerät, dass sich die Gräben soweit vertiefen, dass es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den großen Metropolen der Welt gekommen ist, dass die Zahl der Kriege zumindest gleich geblieben ist. Die Zahl der Kriegsopfer jedoch hat in unserer Lebenszeit abgenommen, jedoch nur, weil die Menschen sich nicht mehr wie früher in aussichtslose Schlachten werfen, sondern massenweise fliehen. Im Jahr 2020 laut UNHCR, dem man nun ja nicht gerade Parteilichkeit vorwerfen kann, waren es zweinundachtzig Millionen Menschen weltweit. Ja, hör ich sie sagen, die Gesundbeter*innen unter den Boomern, die Zahl der Hungernden sei dafür gesunken - stimmt, bis vor kurzem, nun steigt sie wieder.

Dennoch bleibt die Frage, was heißt, die Welt sei besser geworden. Zu dem Wort besser gibt es einige Antonyme, die zeigen, dass besser ein moralischer Begriff ist, kein wissenschaftlicher, kein beweiskräftiger, eben ein emotionaler, ein Wort, das Ideologen und natürlich auch Ideologinnen, denn Frauen können ebenso herrschen wie Männer, gerne verwenden, wenn sie zeigen wollen, wie erfolgreich sie gewesen sind, in ihren Lebenszeiten, Amtszeiten, Herrschaftszeiten. Nur um zum Beweis ein paar Antonyme zu nennen: schlechter, ärger, böser, schlimmer, übler, boshafter, teuflischer.

Ja, an guten Tagen denke ich auch, die Welt sei besser geworden. Im Durchschnitt sei die Welt reicher geworden, weniger kriegerisch und demokratischer. Und vielleicht kann meine Generation, die Boomer, das tatsächlich als Sieg verbuchen. Doch was ist der entscheidende Fortschritt, das Herausragende, das Innovative, das wir geschaffen haben, das uns von denen unterscheidet, die vor uns gewesen sind. Haben wir nicht lediglich alle Errungenschaften weitergeführt, haben wir nicht bloß die Ideen unserer Vorfahren aufgegriffen und weitergesponnen, an denselben politischen Spinnrädern wie unsere Großväter und Großmütter, und haben wir nicht nur geringfügige Anpassungen vorgenommen, die das von unseren Vätern und Müttern gehegte und gepflegte Wirtschaftswunder noch ein halbes Jahrhundert hindurch erscheinen ließ, als wärs ein leuchtender Stern, ein Leuchturm in einer sich verfinsternden Nacht, eine Hoffnung auf ein Bald, die sich aus der unerbittlichen Sehnsucht nach Frieden, dem Wunsch nach Gerechtigkeit, nein mehr noch, Gleichberechtigung aller in einer freien und aufgeklärten Gesellschaft speiste.

Von uns wird keine herausragende Leistung, eine große Reform, eine Revolte oder gar Revolution gefordert, nein weniger noch, nicht einmal erwartet. Nein, auch das wäre noch zu viel, sie haben es uns nicht einmal zugetraut. Und dieses fehlende Zutrauen haben wir verinnerlicht, haben uns in die Peripherien der Welt zurückgezogen und geben nun aus der gesicherten Distanz der scheinbar moralisch Überlegenen, weil wir die Welt ja nicht teuflischer gemacht haben, als sie zum Zeitpunkt unserer Geburt schon war, gute Ratschläge, sehen nur, was wir sehen wollen. Was für eine erbärmliche Haltung derer, die sich die Aufklärung auf die Fahnen geheftet haben und immer im Namen der Demokratie von Freiheit schwafeln. Was für ein Niedergang des Utopischen, ein unersetzlicher Verlust der Hoffnung auf ein Bald.

Blickt man jedoch mit offenen, nicht von Sentimentalität und Melancholie getrübten Augen in die Welt, steigt man vom hohen Ross einer überlegenen Moral herunter und lässt man die Klugscheißerei mal außer Acht und versucht die Welt nicht nur in seiner Gänze zu betrachten, sondern als die Summe ihrer Teile, dann erkennt man rasch, dass die Summe aller Teile, nicht besser ist, als jeder einzelne Teile. Der Wohlstand der Nationen mag sich ja vermehrt haben, doch eine derartige Behauptung würdigt nicht ausreichend die Tatsche, dass große Teile der Weltbevölkerung keine angemessene Behausung besitzen, von gut ausgestatten Bildungseinrichtungen abgeschnitten sind, mit Müh und Not und unter tatkräftiger Mithilfe aller Familienmitglieder mehr schlecht als recht am Rande des rasant wachsenden Wohlstandes in der Welt einkommensmäßig leben, nein, es ist mehr ein Überleben als ein Leben wie wir Boomer es kennen oder bisher kannten.

Vielleicht sind wir ja so versessen darauf, zu behaupten, dass die Welt unter unserer Herrschaft besser geworden ist, weil wir Angst haben, dass auch wir im Alter nur noch ein Überleben haben werden. in jedem Fall weniger Leben, als wir erwartet haben. Wir werden nicht unter den gleichen Pflegebedingungen dahinsiechen dürfen wie unsere Eltern, denn wir sind die Vielen und die Wenigen werden immer weniger Freude daran haben, uns den Arsch für geringes Einkommen auszuwischen, wenn wir weiterhin so unfreundlich zu ihnen sind. Unsere Pensionen werden nicht dafür ausreichen, monatelang in den Süden zu reisen und unsere elenden Behausungen hinter uns zu lassen. Wir werden in den dunklen, nebeligen Abenden der Wintermonate auf einen milden, gnädigen Frühling hoffen, auf einen Sommer, in dem die Hitze uns nicht zu Boden zwingt und uns den Atem raubt. Wir werden nicht in unseren Panzern durch die Welt rollen, auf der Suche nach ein wenig Glück, das uns das Leben bis in die letzten Tage vorenthalten hat. Vielleicht ist es diese Angst des vorhersehbaren Wohlstandsverlustes, für uns und unsere Kinder, die uns immer wieder behaupten lässt, die Welt sei doch besser geworden. Wider besseres Wissen.

Zum Schluss: Wer behauptet, dass die Welt besser geworden sei, hat immer nur sich selbst und seine soziale Herkunft im Blick. Manche werfen mir, auf Grund meiner Argumentationen, Klassenkampfrhetorik vor. Mag sein, dass ich eine solche an den Tag lege. Was ich dazu sagen kann: Ich bin eben auch nur ein Boomer und sitze auf dem selben hohen Ross wie Dieter Nuhr. Doch da mir der Zynismus als Lebensform fremd ist, wasche ich mich lieber mit Klassenkampf rein, statt wie ein Kleinbürger meine Welt als eine gute und schöne, neue Welt zu verkaufen, denn sonst wäre ich einer von denen, über die Horvath spricht, wenn er schreibt: Nichts gibt so das Gefühl von Unendlichkeit wie die Dummheit.

Noch ein letztes Wort an dieser Stelle von einem Unbrauchbaren: Wer von der Welt spricht, als wäre sie besser geworden, hat nicht nur jede Form des Utopischen preisgegeben, das der Kunst als letzter politischer Impuls innewohnt, sondern zementiert darüber hinaus die Ungleichheit in der Welt, die durch eine Verbesserung des Zustands der Welt, auch wenn sie noch so plausibel und tatsächlich sein sollte, ja nicht aufgeoben wird. Menschen, vor allem Boomer, die es besser wissen müssten, die die Welt schönreden, sind nicht gewillt, die Verantwortung für das Elend in der Welt, das sie mitverursacht und den nächsten Generationen aufgebürdet haben, zu übernehmen.

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eingestellt: 1.12.2021 | zuletzt aktualisiert: 1.12.2021
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