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Meine Büchnerpreisrede 2027


Sehr geehrte Damen und Herren!

Lange schon habe ich diesen Preis erwartet und dennoch sehen Sie mich überrascht, dass ich ihn nun doch erhalten habe, denn es sprechen tausenderlei Gründe gegen eine Verleihung an mich und für mein Werk: Meine sprachliche und literarische Ferne zu Büchner, meine Echolosigkeit auf dem Literaturmarkt und letztlich meine Biographie.

Bachmann sagte am Beginn ihrer Rede im Jahr 1964: Wie jeder, der hier gestanden ist und es nicht wert war, Büchner das Schuhband zu lösen, habe ich es schwer, den Mund aufzutun, den Dank trotzdem abzustatten mit einer Rede.

Das wirft die Frage auf: Warum denken wir, dass wir denen, die vor uns waren das Wasser nicht reichen können? Warum müssen wir uns als Dichter im Angesicht der Geschichte, immer klein reden? Widerspricht das nicht dem Gedanken der künstlerischen Evolution? Und wäre dann nicht Kafka einer der kleiner wäre als Büchner. Und Brecht kleiner als Kafka.

Eine Genealogie der Poesie macht keinen Sinn, denn jeder hat die Größe, die die Epoche von ihm verlangt. Büchner ist nicht wichtiger und sprachlich brillanter als Bachmann. Jeder Autor und jede Autorin ist gebunden in seiner/ihrer Zeit. Deshalb muss ich mich auch nicht vor Büchner, Bachmann, Kafka oder Brecht verneigen. Aber liebe Anwesende, es macht Sinn, immer wieder über Sie zu sprechen, immer und immer wieder. Obwohl wir natürlich vor allem über diejenigen sprechen sollten, die unbekannt geblieben sind, die echolos in ihren Stuben hocken und schreiben, was sie schreiben müssen. Ich muss nicht die ehren, die als Leichen unsere Wege pflastern. Ich muss ihnen meine Referenz erweisen, weil sie als eines von vielen Echos in mir nachklingt, meine Literatur ein Echo ihrer Zeit war und ist.

Aller Geschichte zum Trotz, da ich den Preis nun einmal erhalten habe, möchte ich mit einem Zitat aus einer Laudatio für Karl Krolow aus dem Jahre 1956 beginnen, wo Kasimir Edschmid über die Wahrnehmung eines Dichters folgendes schreibt: Wer immer es unternimmt, nutzlose Wahrnehmungen, vergängliche Empfindungen, sich zur Erforschung vorzunehmen, wer sich den Umgang mit Eindrücken und ihre Verwandlung ins Bleibende zur ausschließlichen Beschäftigung erwählt, zur Lebensarbeit, der darf ohne den Nachweis von Lehranstalten, ohne ›Zulassung‹ die Gezeiten des Daseins schauen, er darf die Straßen der praktischen Vernunft hinter sich lassen.

Nichts könnte meinen Versuch, den Literatur ja immer auch darstellt, das literarische Experiment, das Kafka so meisterlich beherrschte, besser bezeichnen, als das Vergängliche, nämlich die Natur und ihre Erscheinungen, in ein Bleibendes, Nachhallendes, Dokumentarisches zu verwandeln.

Dennoch will hier weniger von dem Sprechen, was Sprache möglich macht und wo ihre Grenzen liegen, nicht über die Lyrik, wie Celan dies 1960 in unnachahmlicher Weise konnte, wovon ich leider sagen muss, dass ich wenig verstehe. Ich will auch nicht über die Rede reden, wie dies Helmut Heißenbüttel im Jahr 1969 in wunderbarer Weise auf den Punkt brachte.

Ich will hier über den Preis selbst sprechen. Über einen Preis, der mit guten Gründen vergeben wird und mich im besten Alter trifft, um ihn verliehen zu bekommen. schon in wenigen Jahren wäre ich zu alt dafür gewesen, denn das Durchschnittsalter der Preistragenden liegt bei fünfundsiebzig Jahren. Natürlich gibt es da die Preismethusalems, wie Albert Drach, der noch in hohem Alter von vierundachtzig seinen Preis erhielt und damit der älteste unter allen Ordensträgern war. Aber es gibt auch diejenigen, die früh geehrt wurden, wir Durs Grünbein der Jüngste mit seinen dreiunddreißig Jahren.

Nun gut, ich liege gut im Schnitt. Wie immer in meinem Leben. Guter Durchschnitt. Umso mehr überraschte mich die Zuerkennung des Preises, Teil einer Ahnengalerie werden zu dürfen, ausgewählt von einer Institution, die sich der deutschen Sprache verschrieben hat, wie keine zweite. Aber eben weil es eine Akademie ist, die mir den Preis verlieh, muss die Frage erlaubt sein, wer hat denn in ihr das sagen und wie kommen Preisverleihungen zustande und welchem gesellschaftlichen Umständen tragen sie Rechnung.

Ich muss Ihnen, bevor es zu politisch und gesellschaftskritisch wird, an dieser Stelle gestehen: Ich liebe Statistiken. Nicht, weil sie irgendetwas signifikantes über die Welt aussagen könnten, sondern weil sie uns etwas über die Welt enthüllen, wenn wir sie auf poetische Weise lesen und nicht nur als kalte, nackte Zahlen, die das Leben sezieren und offenlegen.

Statistiken sind ja mehr als Daten, sie sind das äußere Zeichen der Welt, die sich durch das Sprechen über sie enthüllt. Und wenn wir hinter diese pontemkinschen Dörfer aus Zahlen blicken, dann sehen wir etwas, was sich anspürt wie Wissenschaft und doch nichts weiter ist, als die Notwendigkeit die Kunst- und Kulturkritik selbst kritisch zu hinterfragen. Zu hinterfragen wie Kunst in der Welt ein Echo wirft oder eben nicht. Preise sind in vielerlei Hinsicht eben ein Echo einer hierarchischen, kapitalistischen Welt, in der die Mechanismen des Kunstmarktes ihre besondere Grausamkeit enthüllen. Wie Ingeborg Bachmann es in ihren Frankfurter Vorlesungen geschrieben hat: Sicher ist, daß nicht zur Literatur gezählt zu werden oder eines Tages nicht mehr dazu gezählt zu werden, für den Schriftsteller eine schreckliche Vorstellung ist, daß es einem Todesurteil gleichkommt.

Wagen Sie also mit mir einen Blick in das Gerüst des Preises und welch vielfältige strukturellen, poetischen und abgründigen Wahrheiten er enthüllt. Es kann natürlich nur ein oberflächlicher Ausschnitt sein. Der tiefgründiger analysiert werden müsste, welche Themen beschäftigen die Preistragenden und ihre Laudatoren und Laudatorinnen. Ist es die Natur, die Poesie, die Gesellschaft, die Welt, die Technik, Aufbruch, Leidenschaft, Not, Krieg und menschliche Abgründe?

Wie häufig bezieht sich eine oder einer auf Büchner? Wie sehr unterwirft man sich seiner Größe? Und warum ist dies notwendig? Warum muss man sich geehrt fühlen, geadelt? Selbst jene, die immer gegen die Hierarchie schreiben, anerkennen die Hierarchie des Preises, der sich selbst ermächtigt hat, Büchner im Wort zu führen. Was hätte Büchner wohl dazu gesagt, dass ein Preis nach ihm benannt ist?

Und Sie sehen, wie schwer es für mich ist, nicht über die Welt zu sprechen. Bei der Sache des Preises zu bleiben, den Markt durch seine Mechanismen zu entlarven. Wer den Preis erhält, kann doch nicht ignorieren, dass Büchner die Sprache zwar meisterlich beherrschte, aber sie doch nutzte, um sie gegen die Herrschaft der Mächtigen einzusetzen.

Nun ja, zurück zur Schönheit und Offenherzigkeit von Statistiken. Ich sagte es schon: Ich liebe Statistiken, weil sie uns die Risse in der Welt enthüllen. Und da Literatur und Kunst ein Teil der Welt sind, geht auch durch sie ein Riss hindurch. Wobei Helmut Heißenbüttel, einer der Ordensträger in seiner Rede folgendes formuliert hat: Wenn Literatur definierbar ist als eine Sonderform der Sprache kann man auch von Sprache allgemein das sagen was Literatur tut: sie bewahrt den Riß auf. Wobei er in dem Zitat den Riss zwischen den Gebildeten und Ungebildeten anspricht. Erweiternd zu ihm könnte man aber sagen, dass zwischen dem Menschen und der Welt immer schon ein Riss bestand. Und die „Dichter“, und ihre weiblichen Gegenstücke, eben in der Lage sind, diese Risse zu erkennen. Jedoch erfassen sie diese nicht nur, sondern sind auch fähig sie zu beschreiben, sie aufzuzeichnen und aufzubewahren. In diesem Sinne ist die Literatur eben ein Archiv der Erscheinung von Rissen in der Welt, die sich manchmal zu Spalten verbreitern, wie in einem Meer aus Eis, in das wir unsere literarischen Äxte schlagen. Und die Spalten weiten sich zu Abgründen, in die wir ohne Sprache, ohne Schrift, letztlich ohne Literatur verdammt sind, hinabzustürzen.

Nun bin ich, wie es im Leben manchmal ist, wieder einmal abgeschweift, weil mir das Nachdenken über das Gewesene als Historiker oft näher liegt, als das Schreiben über das Gegenwärtige als Autor.

Es geht also ein Riss durch all das was Literatur ausmacht, so wie Risse auch durch unsere alltägliche Welt gehen. Ein Riss zwischen den Schreibenden, die aus Glück, Zufall oder Leidenschaft ein Echo finden und jenen, die nie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren, nie das Glück hatten, einen Verlag zu finden oder einen Kritiker, der sie rückhaltlos unterstützte.

Das ist nicht larmoyant gemeint, sondern eine Tatsache, denn literarischer Erfolg ist ja nicht nur Ausdruck eines außergewöhnlichen Könnens, das ja immer nur im Rückblick festgehalten werden kann, sondern auch Ausdruck eines Marktes, der aufgreift, was ihm nützlich scheint. Und dieser Markt ist keine unsichtbare Hand, die im Hintergrund wirkt, etwas beinahe Göttliches, wie Adam Smith einmal formulierte, sondern es sind Menschen, die einen Markt hervorbringen, seine Mechanismen, Unterdrückungsstrategien, seine unmenschlichen Verwerfungen und letztlich jeden noch so feinen Haarriss, der sich später in einen Abgrund, eine Hölle, einen Schmerz verwandelt.

Nun, wenn alles mit rechten Dingen zu gehen würde und ein Preis der Spiegel der literarischen Möglichkeiten von Schreibenden, von Dichtenden wäre, dann wäre nun die Zeit der Boomer angebrochen, denn das Durchschnittalter der Preisträger, zum Zeitpunkt der Preisverleihung liegt bei siebundfünfzig Jahren. Und nun müsste es rasch gehen, ansonsten wird die Kohorte der Unbrauchbaren wieder einmal übersehen und übergangen. In den letzten zehn Jahren hat ja kein Boomer gewonnen. Zumindest keiner der nach Jahrgangszahl einer gewesen sein könnte, außer man wäre großzügig, dann könnten wir Marcel Beyer noch dazu zählen.

Was lässt sich daraus schließen, dass einer wie ich sechzig werden musste, um den Preis zu erhalten. Kritiker könnten sagen, es gibt nun mal Generationen, aus denen kommt nicht viel. Das mag stimmen, dass es unter uns Boomern wenige Riesen gibt, dass wir allesamt Zwerge sind. Man könnte aber auch vermuten, dass wir eine Generation sind, die sich ihrer Besonderheit nicht bewusst ist, die im Dienste der anderen, selbstvergessen und dadurch letztlich von den anderen übersehen wurden und damit nicht einmal vergessen werden konnten, denn vergessen kann nur etwas werden, was sich einmal im Bewusstsein, im Licht befunden hat. Was immerwährend im Schatten lebte, verbleibt, wo es immer schon existierte.

Der Literaturbetrieb ist angefüllt mit Geschichten der vergessenen Kohorte. Einmal mehr, es ist keine Larmoyanz, die mich zu dieser Aussage verführt, denn es sind ja nicht nur die Boomer vergessen worden, sondern es gibt auch ein eklatantes Missverhältnis zwischen ausgezeichneten Frauen und Männern. In siebzig Jahren wurden elf Frauen ausgezeichnet. Und niemand von den Anwesenden wird wohl behaupten wollen, dass es eben Geschlechter gibt, von denen wenig kommt.

Was ich damit sagen will. Wovon ich hier rede, ist nicht Kunst, sondern von den Herrschaftsverhältnissen innerhalb der Kunstinstitutionen, von den Gesehenen und den Ungesehenen. Ich spreche nicht von Qualität, Begabung und Genie, sondern von den statistischen Häufungen, die sich aus einem Markt ergeben, der aus Zufällen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Freundlichkeiten zu dem führt, was wir in Statistiken sehen können. Statistiken sind aus diesem Grund eben die Abbildung poetischer Erscheinungen der Welt, sie sind ein Abbild der Risse, die sich in unseren Gesellschaften auftun. Und deshalb sollten wir viel mehr Statistiken lesen und nicht Romane oder Gedichte, denn nur Zahlen enthüllen das wahre Elend der Welt. Nur Poesie, die sich der Datenflut bedient, kann eine Welt erfassen, die sich seit drei Jahrhunderten durch technische Revolutionen immer weiter von dem entfernt, was unsere Gesellschaften bedeutend gemacht hat, die Aufklärung, die Bürger und ihr Denken.

Worüber ich spreche, ist nicht die Risse zu kitten, sondern genau hinzusehen und jeden Riss, der sich in einer Statistik zeigt, wahrzunehmen, ernst zu nehmen, aufzudecken und zu realisieren, dass sich hinter jedem statistischen Riss politische, künstlerische, menschliche Schicksale verbergen, die wir mit jeder Preisverleihung und der Heraushebung einer oder eines Dichters unter Vielen weiter vertiefen.

In diesem Sinne ist jede neuerliche Verleihung des Büchnerpreises, sei es an mich oder meine Nachfolger und Nachfolgerinnen ein Affront gegen die Losung, die Büchner einst ausgegeben hat: Friede den Hütten, Krieg den Palästen. In diesem Sinne, will ich mit Bachmann schließen: Halten Sie die Ohren steif, denn es kommen härter Tage.

Für jeden von uns.

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eingestellt: 19.11.2021 | zuletzt aktualisiert: 19.11.2021
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