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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XXVI
Über Literatur Eins

Man hat erzählt, daß der Läufer von Marathon schon eine Stunde tot war, als er in Athen eintraf. Er war tot und lief immer noch: er lief als Toter, tot verkündete er den Sieg Griechenlands. Das ist ein schöner Mythos. Er zeigt, daß die Toten immer noch einige Zeit wirken, als wären sie am Leben. Einige Zeit, ein Jahr, zehn Jahre, fünfzig Jahre vielleicht, in jedem Fall eine endliche Zeit; und dann begräbt man sie zum zweitenmal. Dieses Maß schlagen wir dem Schriftsteller vor: solange seine Bücher Wut, Verlegenheit, Scham, Haß und Liebe hervorrufen, wird er leben, und wenn er nur noch ein Schatten ist! Nach ihm die Sintflut. Wir sind für eine Moral und für eine Kunst des Endlichen.
Jean Paul Sartre, Für seine Epoche schreiben, September 1946.

Dieses Zitat fiel mir in die Hände, als ich wieder einmal begonnen habe, Sartre zu lesen, seine Texte und Aufsätze zur Literatur. Eine Fundgrube an Worten, die zum Widerspruch und zur Zustimmung anregen. Immer schon. Und sie führen mich zu den Fragen, die mich, seit ich zu schreiben begonnen habe, beschäftigen: Was ist Literatur? Was kann Literatur? Was bedeutet Literatur? Und wie hat sie sich über die Jahre verändert, nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen. Die Literatur der Freunde und Freundinnen, der Weggefährt*innen? Warum schreiben wir und warum schreiben wir in dieser Welt immer noch? Das sind Fragen, die mich jenseits der Notwendigkeit zu schreiben, weil es einem Überlebensinstinkt entspringt, beschäftigen. Und in der Literaturgeschichte haben sich Autor*innen immer wieder mit dieser Frage auseinadnergesetzt: Wozu brauchen wir Literatur? Als erste und vorläufige Antwort sei hier gesagt: Weil sie [mein] Leben ist.

Oft habe ich mich gefragt, warum ich mich für die Literatur, den Schriftsteller und gegen die akademische historische Wissenschaft, also die Laufbahn eines Historikers, entschieden habe? Das liegt darin begründet, dass die Literatur immer ein Spiegel ihrer Zeit ist. Sie ist gegenwärtig, immer leidenschaftlich, immer hat sie dokumentarischen Charakter. Sie verdaut ihre Zeit und verarbeitet sie in Sprache. Die Wissenschaft, vor allem die akademische, die historische, ist immer retrospektiv, immer vergangenheitsbezogen, sie sucht die Schwachstellen des einmal Gewesenen auf, sie relativiert alles gewesene Handeln und reflektiert Möglichkeiten und Grenzen der individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten. Aber Literatur ist eben eine Form von Leben, eine Form des absoluten Scheiterns, weil sie eben nichts weiß, sondern immer nur ahnt, immer nur ein Versuch ist, ein Irrtum, ein Wagnis. Sie ist eine Form der Existenz und weil dem so ist, könnte man mit Sartre auf die Frage, warum ich immer die Literatur und nicht die Wissenschaft wählen würde, antworten: Leben heißt auf kurze Sicht planen und sich mit den erstbesten Mitteln behelfen.

Ja, und so verhält es sich auch mit meiner Literatur. Schreibe ich, tappe ich im Dunkeln, im Nebel, taumel zwischen den Rebstöcken meiner Kindheit dahin und verirre mich in den Erinnerungen meines Lebens, und jeder Text, den ich über damals oder mein gegenwärtiges Tun oder eine mögliche Zukunft verfasse, ist ein Leben auf kurze Sicht und das erbstbeste Mittel, um mich meinem Verzweifeltsein und dem Wunsch aufzugeben zu widersetzen.

Ich möchte an dieser Stelle ein Zitat von Jean-Paul Sartre abwandeln, um zu zeigen was Literatur kann. Er spricht in seinem Zitat von einer Epoche. Ich würde statt Epoche den Begriff Literatur einsetzen und schon enthüllt sich, was Literatur im Kern für mich und vielleicht auch für manch andere kann: Die [Epoche]|Literatur hat immer unrecht, wenn sie [tot]|Geschichte ist, sie hat immer recht, wenn sie [lebt]|gegenwärtig ist. Mag man sie hinterher auch verurteilen, zuerst einmal hat sie ihre leidenschaftliche Art gehabt, sich zu lieben und sich zu peinigen, wogegen die künftigen Urteile nichts auszurichten vermögen; sie hat ihren Geschmack gehabt, den sie allein geschmeckt hat und der genauso unvergleichlich und unauslöschlich ist wie der Geschmack des Weines in unserem Mund.

Und wenn dem so ist, wie Sartre schreibt, dann Frage ich mich, in Bezug auf manchen Gegenwartstext, was ist der Geschmack auf der Zunge, der zurückbleibt, wenn ich zum Beispiel die Erzählung der Bachmannpreisträgerin des Jahres 2023 Valeria Gordeev, mit dem Titel Er putzt, lese. Es ist der Geschmack und vor allem der Geruch von Schleim und Putzmitteln. Es ist der Ekel vor all den Bakterien, die hinter unserer sichtbaren Welt lauern. Die bekämpft werden müssen, um jeden Preis. Aber zu welchem Zweck? Das bleibt mir verborgen. Der Zweck der Handlungen enthüllt sich mir nicht. Ja, Gordeev enthüllt das Leben eines verzweifelten Menschen, denn kein glücklicher Mensch putzt wie Er, der keinen Namen hat, so wenig wie seine Schwester und seine Mutter, aber sie bietet uns keine Alternative an. Sie lässt uns mit diesem Schrecken zurück, diesen ekligen, genauen und eindrucksvollen Beschreibungen eines Lebens in den Zwischenräumen und Ritzen unserer Wohlstandsgesellschaft. Aber was will sie mir damit sagen. Was ist die Leidenschaft, was ist die Liebe, was die körperliche Beteiligung dieses Ers, von dem sie schreibt. Was ist das Lebendige an ihm, selbst im Putzwahn muss sich doch noch ein Leben verbergen, wenn es sich lohnen sollte, darüber zu schreiben. Es ist die bloße Darstellung des status quo. Die letzten beiden Sätze enthüllen jedoch noch viel Schlimmeres, sie sind literarisch vollkommen leere Sätze, die weder auf die Geschichte noch über sie hinausweisen, sondern die Banalität von allem entlarven, was hier aufgeschrieben steht und das Entsetzen, das uns beigebracht wurde, wieder außer Kraft setzen und mich ratlos zurücklassen: Im Flur, neben den Schulranzen, lehnt ein blauer Geigenkasten; seit seine Schwester auf das Gymnasium gekommen ist, haben ihre Freundinnen immer Instrumententaschen bei sich. Konstantin sieht sie beide auf dem Teppich vor dem Fernseher sitzen und klopft gegen die offen stehende Tür.

Ich verlange von einem Bachmannpreisträger*innentext ja nicht, dass er die Welt heilt, denn Literatur kann nichts wiedergutmachen, sie kann weder die Autorin noch den Leser von ihrer Schuld befreien. Sie ist keine Heilsbringerin. Sie verwandelt die Welt nicht. Sie kann das Elend der Welt, ihre Not und ihre Schönheit nur abbilden, niemals verwandeln. Nur das Handeln in der alltäglichen Realität, das Eingreifen, das Revoltieren kann die Menschen aus ihrem Elend befreien. Was Literatur jedoch kann, neue, noch nicht existierende Welten beschreiben, sich ihnen nähern, wie es Ingeborg Bachmann einmal formulierte, als sie davon schrieb, dass eine Literatur, die keinen utopischen Gehalt hat, nicht wert ist, geschrieben oder gar gelesen zu werden. Doch warum beharre ich darauf, dass Literatur auf ein Leben verweisen muss, weil eben das Handeln der Menschen eine Vision braucht, eine Utopie, einen Entwurf in die Zukunft, eine Alternative zum allgegenwärtigen Unglück, denn nur wer eine Vorstellung davon hat, was ihn glücklich machen könnte, kann dieses Glück auch im tätigen Handeln herbeiführen.

Aber ich verstehe beim Text Er putzt nicht, zu welcher Handlung er bereit ist, zu welcher Handlung ich aufgefordert werde. Wie das gegenwärtige Unglück überwunden werden kann. Diese Darstellung des puren Alltages bleibt mir in seiner Seltsamkeit unerklärlich, auch wenn ich seine Bedeutung begreife, denn auch in meinem Abfluss hausen all die Dinge, die in seinem hausen, aber was hilft mir dieses Wissen, dass da draußen noch einer ist, mit zivilisatorischen Überresten in seinem Abflussrohr und einer Verwandtschaft, die amerikanische Serien schaut, während er putzt. Selbst wenn ich diesen Text als eine Art aufklärerischen Text über das Grausame und Versiffte unserer Zeit begreife, so halte ich es auch an dieser Stelle mit Sartre: Es geht nicht darum aufzuklären, sondern es geht einfach darum, ihm eine Art totalen Sinn seiner selbst zu geben, mit dem Eindruck, daß dahinter die Freiheit ist, daß er einen Augenblick der Freiheit hat, indem er sich selbst entging und mehr oder weniger klar seine gesellschaftliche und sonstigen Bedingtheiten verstand. Wenn er diesen Augenblick der Freiheit erlebt hat, das heißt, wenn er für einen Augenblick durch das Buch[den Text] den Entfremdungs oder Unterdrückungskräften entgangen ist, seien Sie sicher, daß er ihn nicht vergessen wird. Das glaube ich, kann Literatur oder zumindest eine bestimmte Literatur.

Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Das muss Literatur können, denn wofür wäre sie sonst noch gut, außer uns in Zeiten des Unglücks und der Gewalt ein kurze Spanne des Tages und der Nacht den Anschein zu geben, dass es ein Stück vom Glück auch für uns geben könnte, wenn wir nur reich, außerirdisch oder ein mystisches Wesen wären. Letztlich kehren wir aber nach der Lektüre wie nach einer langen Reise oder eine Psychotherapie in die Zumuntungen unseres Lebens und unserer Epoche zurück. Autor*innen, die uns keine Einsicht in unsere Unterdrückung verschaffen, sind Mitläufer*innen und Täter*innen. Auch in dieser Frage halte ich es mit Sartre und fordere eine engagierte Literatur, die den Menschen einen Weg aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit weist und die auf ihrer Zunge einen Geschmack von Freiheit zurücklässt. Noch eines: Er putzt hat keinen Nutzen, richtet aber auch keinen Schaden an. Schaden richtet eine Literaturkritik und Literaturjury an, die einen Text, der nicht einmal auf sich selbst verweist, zum Sieger*innentext eines der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturpreise macht.

Ein letztes Wort zur zeitgenössischen Literatur, die ich als Verleger und Autor zu lesen verpflichtet bin: Was mir darin fehlt, ist das, was Ingeborg Bachmann das Utopia der Sprache nennt, denn wir begreifen uns in der Dichtung als zur Sprache gekommen. Und diese Suche nach dem utopischen Gehalt in der Sprache, nach dem Überschreiten des Eigenen hin zum Fremden, das vermisse ich in der Literatur von heute. Ich habe immer gelesen und geschrieben, nicht um mich zu finden, denn wer soll dieses Ich schon sein, das mir dann aus meinen Texten entgegengetreten wäre, sondern ich wollte einen Weg finden, der mich zu den anderen führt. Einen gangbaren Weg heraus aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die mich nach der Erkenntnis, dass nur meine Mutlosigkeit und meine Angst mich von meinem Glück trennt, heimgesucht hat. Die Sprache ist der Weg, der uns zu den anderen führt. Und mit ihr können wir nicht nur über uns, wie es viele von uns so gerne tun, sprechen, sondern vor allem von den anderen. Von den verstörenden und tödlichen Welten, in denen sie leben müssen. Diese Literatur der anderen vermisse ich. Was ich finde, ist meist eine Selbstbespiegelungsliteratur, die sich unentwegt um das eigene Ich und das Individuum dreht. Das Kollektive, das Gesellschaftliche ist aus dem Schreiben, das sich mir offenbart, scheinbar verschwunden.

Aber es ist vielleicht gar nicht die Schuld der jungen zeitgenössischen Autor*innen, denn worüber sollten sie denn schreiben, als über ihre Zeit. Vielleicht ist ja ihre Zeit nichts weiter als die Ansammlung individueller Bedürfnisse, in der sich alle Gewissheiten aufgelöst haben. Heute ist man genderfluid. Man wechselt von einer ökologischen Bewegung zu einer rechtsliberalen Partei. Man konvertiert vom Christentum zum Islam und wieder zurück. Man leugnet das Unvermeidliche, den Kollaps der Aufklärung. Und so zieht man sich auf das zurück, was man vermeintlich am besten kennt, das Ich, dieses seltsame Schattenwesen, das schon Freud nicht fassen konnte und es in der psychoanaltischen Theorie einkerkerte, in der Hoffnung, dass es sich zeigen würde, wenn wir es in theoretische Ketten legen. Aber dieses Ich, von dem alle unentwegt sprechen, ist eine Chimäre, eine Fata Morgana. Es kann nur dort hausen, wo es nichts gibt, wo kein Gras wächst, keine Leidenschaft ist, keine Fremdheit existiert. Die Literatur jedoch sucht ja gerade das Fremde, das Unbekannte, das Neuland. Hat eine Generation aber erstmal aufgegeben, denkt sie, dass der Untergang vor der Tür steht und ihnen ideologische Gewissheiten zwischen den Worten zerrinnen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie über sich und ihre Alltäglichkeiten schreiben, denn um sich zu überschreiten, braucht es ein Prinzip Hoffnung, der Wunsch eine Wahl zu haben, die Sehnsucht nach eigenverantwortlichem Handeln im und mit einem Kollektiv, das einem ein Leben ermöglicht, das Jenseits von Eden, jenseits des Moralischen liegt, denn an dieser einen Stelle will ich Sartre explizit widersprechen. Ja, wir brauchen eine Moral, einen Kompass, aber niemand sollte das Moralische nutzen, um über andere zu richten. Weder im realen Leben noch in der Literatur.

Dennoch halte ich es auch am Schluss meines Textes mit Jean Paul Sartre, der festhielt, dass man für seine [Epoche]|Zeit schreiben muss, das heißt aber nicht, dass die Texte, die man schreibt, nicht über die eigene Zeit hinausweisen sollen, also die Gegenwart zur Zukunft hin überschreiten sollen, aber es bedarf eben einer Anstregnung, eines selbsttätigen Denkens, damit wir uns und unsere Zeit überschreiten können und nicht in einem bloßen Bespiegeln dieser unserer Zeit verharren, denn aus meiner Perspektive gibt es kein unglücklicheres Leben als jenes, das sich eine Gegenwärtigkeit aus seinen Vergangenheiten webt. Und wenn Literatur eines kann, sie kann aus der Vergangenheit und Gegenwart eine Zukunft weben, von der wir uns noch keinen Begriff gemacht haben. Oder um es mit Ingeborg Bachmann zu formulieren: Dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nicht regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachhahmen. [...] Es gilt weiterzuschreiben. Und ich möchte hinzufügen: Es gilt weiterzuschreiben, um zum Kern dessen vorzudringen, was wir noch nicht sind, aber sein könnten.

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eingestellt: 27.10.2023 | zuletzt aktualisiert: 27.10.2023
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