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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XXV
Brief an einen Naturwissenschaftler

Lieber M.!

Habe nochmals über unser Gespräch nachgedacht und lass mich dem Naturwissenschaftler, der du bist, mit dem Kulturwissenschaftler antworten, der in mir haust, wie einer, der sucht und denkt und manchmal für sich ein Körnchen Wahrheit gefunden zu haben glaubt.

Noch mal zu der Frage, die in unserer Diskussion von dir aufgeworfen wurde: Wann der Übergang des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen stattgefunden habe. Nun ich weiß nicht, ob die Frage nicht falsch gestellt ist. Ich will dir mit Günther Anders darauf antworten, der einmal geschrieben hat: Das Wesen des Menschen ist seine Künstlichkeit. Seine Künstlichkeit ist also eine anthropologische Konstante, sie macht den Menschen nicht nur zu einem Kulturwesen, sie verdammt in dazu.

Die Künstlichkeit des Menschen ist nicht die Folge von etwas, sondern die Bedingung seiner Existenz, das wollte ich ja auch mit meinem Vergleich mit der Schöpfungsmythologie andeuten. Wenn Gott den Menschen geschaffen haben sollte, so ist er an sich schon ein künstliches Wesen und da der Mensch in der Lage ist, sich einen Gott vorzustellen, der ihn hervorgebracht hat, so deutet dies doch darauf hin, dass er sich seiner Künstlichkeit bewusst ist. Aber das ist ja eine theologische Frage und soll mich als Atheisten hier nicht berühren. Viel wichtiger ist die Frage, was wir als Natur bezeichnen. Ich spreche, wenn ich über Natur spreche, nicht von der Biologie, denn natürlich ist der Mensch ein biologisches Tier und kein technologisch hervorgebrachtes, denn wäre er eine technologische Netzwerkkreatur, dann wäre er kein Mensch. Aber diese Erkenntnis spricht ja nicht gegen die Behauptung, dass sein Wesen künstlich sei, dass er von Anbeginn im Besitz eines kulturell geformten Ichs gewesen sei, denn schließlich ist ja das, etwas, das ihn von den Tieren unterscheidet, das ihn von der Natur trennt, ihn aus ihr ausstößt und in Abgrenzung zu ihr bringt.

Der Mensch hat sich aus seinem natürlichen Ursprung emanzipiert und zwar nicht nur individuell sondern auch als Kollektiv. Er bleibt natürlich weiterhin dieser biologische und unzulängliche, imperfekte Zellhaufen, und selbst wenn er ein hochentwickelter, wenig fehleranfälliger, von der Evolution perfekt an die Natur angepasster Zellhaufen wäre wie der Schimpanse oder der Bonobo, könnte er doch keine Atombombe erfinden, um damit nicht nur sich als Individuum zu töten, sondern mit sich gemeinsam die gesamte Spezies Mensch auszulöschen. Was ich damit sagen möchte, wenn der Mensch Teil der Natur wäre, warum hat er dann über Jahrtausende hinweg alles unternommen, um ihr zu entkommen. Wir haben als Menschen die Natur immer bekämpft, sie unterworfen, sie uns angeeignet, weil wir ihr eben nicht angehören, sondern anthropologisch etwas anderes sind. Und jetzt, plötzlich, wo es uns an den Kragen geht, wo wir an unserer Künstlichkeit und Kulturbeflissenheit beinahe sprichwörtlich zu ersticken drohen, wollen wir zurück in die Natur? Glauben wir wirklich, dass wir in ihr Rettung finden?

Da frage ich doch, wie ich denke, zu Recht: In welche Natur wollen wir zurückkehren? In die uns umgebenden Kulturlandschaften? In das Feindesland Natur, in der Tigermücken und Eisbären hausen, die uns an den Kragen wollen? Also, ich möchte nicht an einem Ort wohnen, wo hinterm Haus ein Tiger lauert oder eine Affeherde, die mir ungezähmt nach dem Leben trachtet. Die Natur war immer der Feind des Menschen, nie sein Freund. Deshalb haben wir sie uns angeeignet und unterworfen. Genderdebatten hin oder her. Und ein Zurück in die Natur gibt es nicht. Nur ein nach Vorne. Auch um den Preis der Auslöschung oder Marginalisierung der eigenen Spezies durch die von uns hervorgebrachten multimedialen digitalen Universen.

Wir können gar nicht zurück in die Natur, weil unser Überleben von den derzeit stattfindenden technologischen Revolutionen abhängt. Auch wenn sie gleichzeitig unser Überleben gefährden. Das ist, was ich die Dialektk des Menschen, des Kulturmmenschen bezeichnen möchte. Deswegen denke ich auch, dass wir längst nicht mehr in einem Anthropozän leben, sondern einem Technozän. Und die, die denken, die Bestimmung und der Zielhorizont des Menschen sei die Natur, der irrt grundlegend. Das war er spätestens nicht mehr, als der Mensch von den Bäumen stieg und sich nach Asien aufmachte, um sich auf seiner langen Reise in einen technokratischen Europäer zu verwandeln.

Wir können uns also in Zukunft entweder über die Biologie des Menschen unterhalten und wie wir dem Zellhaufen, der er ist, ein längeres Leben bescheren oder darüber, was der Mensch als Kulturwesen ist, aber zu behaupten der Mensch wäre Teil der Natur, weil er aus Zellen besteht, ist nicht nur gewagt, sondern einfach Unsinn, denn was diesen Zellhaufen über die vierziger Lebensgrenze bringt, ist nicht seine Natürlichkeit, sondern sein intellektuelle Kraft, sein Wissen über Chemie, Medizin und Physiologie. Und selbst wenn wir behaupten würden, dass die Chemie Natur sei, wäre auch das Unsinn, denn ohne Menschen gäbe es nichts, das mit Chemie oder Medizin vergleichbar wäre und das mich als der Zellhaufen, der ich bin, so alt werden hätte lassen, wie ich mittlerweile geworden bin und ich ziehe, wenn ich Schmerzen leide, die Chemie immer der Natur vor.

Ich hoffe, wir sind uns zumindest darin einig, dass Naturwissenschaften sich ja nicht mit der Natur, sondern mit ihren Erscheinungen, also mit Biologie, Chemie, Physik oder Mathematik beschäftigen. Diese Wissenschaften tun ja nichts weiter, als das, was wir als Natur bezeichnen, zu beschreiben, um das, was sie beschreiben, für unsere Ernährung, unser Überleben und unsere Ausbeutungsprozesse zur Verfügung zu stellen. Naturwissenschaften beschreiben die Natur nicht, um sie zu schützen, sondern sie zu nutzen und zu benutzen. Alles andere wäre widersinnig und würde dem Gedanken des Menschen als Kulturwesen widersprechen, denn wäre der Mensch ein Naturwesen, würde er wie die Yanomami unberührt mitten im Urwald leben. Aber selbst die Yanomami haben sich Werkzeuge entwickelt, um zu jagen, Sozialstrukturen, die hoch komplex sind. Und auch sie nutzen die Natur für ihr Überleben und sie bennnen sie. Sie sprechen mit ihr. Sie treten in Kontakt mit ihr, weil sie wissen, dass sie eben nicht der Natur angehören, auch wenn wir in unserem europäischen, sentimentalen Naturreflex glauben, sie als Naturmenschen bezeichnen zu dürfen, um sie dann in edle Wilde zu verwandeln, die wir als Kulturmenschen bewundern und unter Naturschutz stellen, womit ja einmal mehr bewiesen wäre, dass wir uns durch sie als Abkommen der Natur fühlen können. Doch das alles ist kolonialer, europäischer Wahnsinn und dient nur dazu, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, das uns als Kulturmenschen seit Jahrtausenden begleitet, seit wir uns intensiv der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur widmen.

Noch ein Nachsatz zu den Yanomami: Nur weil Menschen im Einklang mit der Natur leben wollen, heißt das ja nicht, dass sie Teil von ihr sind. Um mit der Natur mitklingen zu können, muss man ja getrennt von ihr sein, darf man nicht ident mit ihr sein.

Nun noch ein Letztes: Wir sind aus der Evolution nicht als Naturwesen hervorgegangen, sondern eben als Kulturwesen und das von Anbeginn, denn evolutionär ist der Mensch ja ein Homo erst, seit er kein Anthropoidea mehr ist. Und seit damals ist er aus der Natur ausgestoßen. Im Gegensatz zu uns, versuchen die sogenannten Naturvölker mit ihr zu koexistieren, aber das macht sie nicht automatisch zu Naturwesen, sondern auch sie sind Hominiden und keine Anthropoiden. Sie sind lediglich, wie alle Menschen, ein aus der Natur ausgestoßener Zellhaufen, der den Schoß, aus dem er gekrochen ist, als feindselig erlebt und den er entweder zu besänftigen sucht oder zu unterwerfen.

In diesem Sinne, genieße die Natur, in dem du dich als Kulturwesen durch sie hindurch bewegst und nicht mit den Augen eines Zellhaufens auf sie blickst, sondern mit den Augen eines gestaltenden, künstlichen und letztlich künstlerischen Wesens.

Liebe Grüße
Raimund

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eingestellt: 30.9.2023 | zuletzt aktualisiert: 30.9.2023
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