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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XXIV
Über künstliche oder wie ich sie nenne digitale Intelligenz


Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen war ein Satz, den ich im Spiegel [18/2023, S.16] gelesen habe. Der Satz des Philosophen Armitai Ezioni lautet: Irgendwann während der industriellen Revolution hat der Mensch die Kontrolle über den technologischen und ökonomischen Fortschritt verloren. Seitdem kämpft er darum, diese Kontrolle zurückzugewinnen. Künstliche Intelligenz macht dieses Rennen noch einmal schneller und schwerer zu gewinnen. Zugleich kommen neue soziale Bewegungen auf, die keine Gesellschaft wollen, in der uns diese Kräfte dominieren.

Als Historiker kann ich diesere Analyse vorbehaltlos zustimmen. Es gibt noch ein zweites Zitat, das ich an dieser Stelle anführen möchte und es ist wieder einmal eines von Günther Anders, der gesagt hat, dass der Mensch dabei sei, eine Welt mit ihm, in eine Welt ohne ihn zu verwandeln. Und an diesen beiden Perspektiven von Ezioni und Anders sollten wir uns in der Debatte um die künstliche Intelligenz orientieren. Warum? Weil im einen Fall die technologische Revolution mit einer ökonomischen zusammen gedacht wird und im anderen Fall die implizite Gefahr festgehaten wird, dass die multimediale Netzwerktechnologie uns Menschen obsolet machen könnte. Auch wenn dies manche heute noch für undenkbar halten. Aber das galt auch für Zugführer und wir wissen heute, dass es bereits technisch möglich ist, Züge ohne Führungspersonal auf die Reise zu schicken. Wir Menschen halten das nur psychologisch nicht aus. Deshalb lassen wir als historischen Reflex noch einen Mann oder eine Frau am Steuer sitzen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bevor ich mich in die Materie selbst vertiefe, möchte ich mich noch kurz mit dem Begriff künstliche Intelligenz beschäftigen. Warum nennen wir die nichtmenschliche Intelligenz künstlich? Ich würde meinen, sie ist weniger künstlich, denn digital, also eine digitale, virtuelle Intelligenz, die auf unsere Realität und analoge Wirklichkeit wirkt. Wieviel Wirkung sie dort entfalten soll oder darf, das sollte letztlich noch von uns Menschen bestimmt werden. Warum nun denke ich, dass sie nicht künstlich sei. Das hat mit einem weiteren philosophischen Schlüsselsatz von Günther Anders zu tun. Er sagte einst, 1928: Das Wesen des Menschen ist seine Künstlichkeit und seine Unbeständigkeit. Der Mensch hat sich im Grunde, im Laufe der Jahrtausende, aus der naturgegebenen Ordnung emanzipiert. Wenn der Mensch also in seinem Wesen künstlich ist (dafür spricht aus religiöser Perspektive ja auch eine Schöpfung Gottes / Gott ist Natur, der Mensch ist künstlich) und er sich als Teil der Evolution aus determinierenden Ordnungsprinzipien eine Welt schaffen konnte, in der er eben diese nicht mehr als gültig oder bedeutsam erachtet, könnte es ja durchaus auch dazu kommen, dass die digitale Existenz, das digitale Universum, das ja ein Produkt des Menschen ist, eines Tages für sich ähnliches in Anspruch nehmen wird. Warum sollte sich die digitale Existenz nicht wie der Mensch eines Tages aus ihrem vorgegeben Rahmen, aus dem sie hervorgegangen ist, verabschieden?

Sollte das, was manche kluge Köpfe behaupten, korrekt sein, also wahr, dass die digitale Welt, das digitale Leben, das multimediale netzwerktechnologische Universum, nur das tun könne, was der Mensch ihm beigebracht, mitgegeben, eingepflanzt hat, dann muss ja auch gelten, dass seine Möglichkeit aus der Determiniertheit auszubrechen, der digitalen innewohnt. Nun so weit zu ein paar grundsätzlichen Überlegungen. Was mich an dem Spiegelartikel besonders zum Nachdenken anregte, war der Satz des Fotografen Eldagsen, dem nachgesagt wird, Bilder mit Hilfe von KI herzustellen, und dem die Behauptung zugeschrieben wird, dass die Welt, die er abbildet, in der Maschine entstehe - und diese Welt von der echten Welt kaum noch zu unterscheiden sei. Ich würde noch einen Schritt weitergehen und das In durch ein Durch ersetzen, denn ist es in Wahrheit nicht so, dass die Welt mittlerweile durch die Maschine entsteht, wenn Algorithmen neue Algorithmen entwickeln?

Doch was beunruhigt uns daran so sehr? Ist das nicht immer schon so gewesen, dass in künstlerischen, kreativen Prozessen ddie Maschine Mensch neue Welten entwickelt hat, die, bevor der Mensch sie nicht dachte, eben nicht existierten? War das nicht immer schon Teil des künstlerischen Prozesses. Und heißt Kunst im griechischen nicht techné. Erinnern wir uns doch nur an die Hörspielfassung von H.G. Wells Krieg der Welten, die Orson Wells 1938 als Hörspiel im Radio veröffentlichte und eine nicht geringe Anzahl von Menschen, das nicht für eine Kunstaktion hielten, sondern für eine Reportage einer realen Invasion durch Aliens. Hätte man bei ein wenig Recherche und Nutzung des eigenen menschlichen Verstandes und der Anwendung von Wahrscheinlichkeitsrechnung, nicht selbst herausfinden können, dass eine Alieninvasion auf der Erde unwahrscheinlich ist. Und selbst wenn sie stattfinden sollte, warum sollten diese Aliens uns feindlich gesinnt sein. Warum sollten Außerirdische Milliarden von Kilometern zurücklegen, um uns unbedeutende Zivilisation zu vernichten? Das führt mich zu einer einfachen Vermutung: Wir fürchten uns vor der digitalen Intelligenz, weil wir denken, dass wir unser eigenes Potential der Unmenschlichkeit an die digitale Intelligenz mitvererbt haben könnten. Wir leben in der Angst, dass die digitale Intelligenz die gleichen Fehler machen wird wie wir, unterprivilegierte, schwächere, ökonomisch Ausgebeutete, Minderheiten zu entrechten und entmenschen. Mehr noch, wir unterstellen ihr, wie den Aliens, dass sie dieselbe Menschenfeindlichkeit an den Tag legen wird, wie wir sie selbst in unseren ökonomischen, sozialen und bildungspolitischen Prozessen seit Jahrtausenden propagieren.

Das Gefahr der digitalen Intelligenz liegt ja gar nicht so sehr in ihrer rasanten Entwicklung, sondern dass wir parallel dazu die Bürger*innen nicht nur sozial und kommunikativ entmachtet haben, sondern auch denkerisch von der Aufklärung und dem damit verbundenen sapere aude abgeschnitten haben. Würde der Mensch heute noch seine Umgebung, die Welt in der er lebt, genau beobachten, (wie Adam Smith, Karl Marx, Immanuel Kant oder Sigmund Freud) sich ihr denkerisch und nicht nur emotional nähern, könnte er die meisten der von der digitalen Intelligenz hergestellten Produkte und Manipulationen durchschauen. Aber was verhindert denn dieses kritische, eigene Denken. Warum sitzen soviele den Fake-News auf, warum erkennen wir künstliche Welten nicht, wenn sie uns entgegentreten? Weil die meisten Menschen dem Denken, dem Wissen, der Wissenschaft und dem Glauben misstrauen. Sie glauben nicht mehr daran, dass so etwas wie reale Erkenntnis möglich sein könnte. Die Mächtigen, der Geldadel ist ja nur deswegen so erfolgreich, weil sie alles unterstützen, was das Misstrauen in den Staat (also uns selbst als Selbstermächtigung), die Politik, die Religionen und letztlich auch in die Kunst selbst, schürt. Und es ist kein Zufall, dass gerade die großen multimedialen Technologieunternehmen sich mit der Entwicklung von digitaler Intelligenz in besonderem Maße beschäftigen. Wir werden mit Diskussionen über die digitale Intelligenz und der Angst vor ihren Möglichkeiten in eine Weltuntergangsstimmung getrieben, damit wir nicht bemerken, wie diejenigen, die im Besitz der Medien, der Politik und letztlich der digitalen Intelligenz selbst sind, uns systematisch ausrauben und die Welt in noch nie dagewesener Weise plündern.

Im Artikel heißt es weiter: Dann gerät die Wahrheit in Bedrängnis. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die sich auf keine Realität mehr einigen kann? Darauf antworte ich als gelernter Historiker: Die Wahrheit war immer in Bedrängnis und in Krisenzeiten umso mehr. Und zur Frage der Realität: Es gibt nur einen Weg, sich auf Realitäten zu einigen, durch Diskurs. Durch Gespräche. Diese will jedoch kaum noch jemand ernsthaft führen, denn sie erfordern Kraft und eine ergebnisoffene Beschäftigung mit der Welt, sie erfordern einen unbändigen Willen herauszufinden, was Realität eigentlich ist und sie erfordern eine wohlwollende Freundlichkeit dem Diskursgegenüber. Alles in allem erfordern sie eine aufrichtige, offene, ehrliche Begegnung zwischen den Menschen, ohne Schild und ohne Schwert. Einen Geist, der die Wahrheit sucht und sobald er denkt, sie gefunden zu haben, diese wieder in Frage stellt.

Selbst erfundene Storys, ließen sich auf Grund von Gesprächen relativ leicht klären, indem Journalist*innen sich die Mühe machen würden, real existierende Menschen nach ihren Erlebnissen zu fragen, aber das würde bedeuten, dass man seine eigene Trägheit, das eigene Desinteresse an den Menschen überwindet und nicht auf der Jagd nach der nächsten Sensation einfach von einem Blog, einem Twitteraccount oder einer Telegramdiskussion abschreibt. Gibt es keine realen Menschen, die über ein Ereignis berichten können, war es entweder so monströs, dass alle daran Beteiligten ausgelöscht wurden oder es hat nie stattgefunden. Ja, und selbst wenn wir glauben würden, dass 2001 ein Erdbeben in Oregon einen Tsunami ausgelöst haben könnte, muss uns das nicht kümmern, denn wir leben nicht in Oregon und es hat uns schon vor den digitalen Medien nicht gekümmert, wo Menschen gstorben sind, weil wir es einfach nicht wussten, keine Kenntnis davon erhalten haben. Warum sind wir nicht in der Lage erfundene News zu ignorieren, wie wir ignorieren, dass laut UNO-Bericht alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, denn dagegen unternehmen wir seltsamer Weise nichts, weil wir ja beschäftigt sind, in der digitalen Welt nach Katzenvideos zu suchen. Nun ja, aber auch das könnte ja eine Lüge sein, weil auch die UNO-Interessen hat.

Woher diese moralische Aufgeregtheit in der Debatte um die digitale Intelligenz kommt, ist relativ offensichtlich. Diesmal sind wir so aus dem Häuschen, weil die Auslöschung eben nicht die Dinosaurier oder irgendein Korallenriff betrifft, sondern uns Menschen selbst. Der Sinn und die Relevanz des Menschen als reales Produkt der Evolution steht zur Debatte und wie immer, wenn unsere Spezies verhandelt wird und ihre potentielle Vernichtung, reagieren wir sentimental, aufgebracht, manchmal sogar zornig, denn der Mensch denkt immer noch, dass er Herr im eigenen Haus ist, obwohl er doch längst wissen müsste, dass er das nie gewesen ist. Sein individuelles Leben und sein Überleben als Kollektiv hing immer schon am kosmischen Faden. Und selten war ich so froh über die Gnade, noch vor der Mitte dieses Jahrhunderts sterben zu dürfen und nicht mitansehen zu müssen, wie sich das menschliche Kollektiv selbst vernichtet.

Was ich jedoch durchaus bedauere, als Vater, dass meine Kinder sechzig, siebzig Jahre alt sein werden, also so alt wie ich heute, wenn sie die analoge und digitale Auslöschung hautnah miterleben. Sie werden bis dahin nicht nur als Subjekte daran beteiligt gewesen sein, diesen Prozess voranzutreiben, sondern auch als Objekte davon betroffen sein. Die große Tragödie, die ich fürchte, ist, dass der Homo sapiens, als vernünftiger, einsichtiger Mensch der Totengräber seines eigenen Wesen werden wird. Ich fürchte, der Homo sapiens wird an sein Ende kommen. Und meine größte Befürchtung ist, dass nur er sich selbst retten kann.

Aber was ich im Besonderen fürchte am Homo sapiens, ist nicht die Auslöschungskraft, der von ihm hervorgebrachten digitalen Intelligenz, sondern ich fürchte eine Politik, die sich im Geiste der normaldenkenden Mitte engagiert. Wer soll denn das sein? Der kleinbürgerliche Arbeiter, der aus dem Sumpf seines Elternhauses gekrochen ist und nun als Aufsteiger Schulen, politische Parteien, Unternehmen und Wissenschaftsinstitutionen leitet? Oder ist damit der Kleinbürger gemeint, der mit seinem SUV die Welt bereist und sein schwer verdientes Geld den multinationalen Konzernen hinterherwirft, die damit digitale Intelligenzen hervorbringen? Oder ist damit jene schweigende Mehrheit gemeint, die bereits in der analogen Welt zu keinem widerständigen Handeln mehr bereit ist, die nun aber in die digitalen Foren abgewandert sind, um dort Hass und Häme über jene auszuschütten, die sich nicht wehren können, weil sie selbst diesen analogen Auwand des Mobbings meiden wollen? Oder sind damit die Oskars, Alfreds und Valeries gemeint, die kleinbürgerlichen Geschäftsleute, die immer schon für den eigenen Vorteil Menschen verraten und verkauft haben, unter den Nazis ebenso wie unter demokratischen Bedingungen? Ich habe keine Angst vor der kleinbürgerlichen Mitte, denn ich gehöre ihr selbst an, sondern vor einer Politik, die sie im Sinne der großbürgerlichen Ränder und ihren kapitalistischen Wertschöpfungsketten instrumentalisiert. Und was ihr dabei in die Hände spielt, ist die digitale Intelligenz, weil sie von Kleinbürgern erfunden und vermarktet wird, um kapitalistische Interessen zu vertuschen und damit zu befördern.

Wahr ist und bleibt: Auch die digitale Intelligenz dient letztlich einem ökonomischen Ausbeutungsprozess, in dem die Arbeiter*innen schuften, die Kleinbürger*innen hetzen und der Geldadel lacht.

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eingestellt: 6.8.2023 | zuletzt aktualisiert: 6.8.2023
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