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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XXIII
Warum die radikalen Klimakativist*innen mit ihren Aktionen Recht haben


Günther Anders hat 1984 folgendes formuliert: Ich komme nun zur Hauptbedeutung des Begriffes Mensch ohne Welt, den Menschen im Zeitalter des kulturellen Pluralismus; denjenigen Menschen, der, weil er an vielen, an zu vielen Welten gleichzeitig, teilnimmt, keine bestimmte, und damit auch keine, Welt hat. Er führt weiter aus, dass wir seit dem neunzehnten Jahrhundert gewohnt sind, einem Pluralimus zu huldigen, der darauf hinausläuft, etwas als falsch Unterstelltes zu dulden; daß die Wahrheit des Pluralimus darin besteht, letzlich kein Interesse an der Wahrheit zu haben; genauer daran, den Wahrheitsanspruch der tolerierten Position (und letztlich damit auch der eigenen) nicht ernst zu nehmen. Er schließt an diesen Gedanken die Frage nach der Freiheit an und stellt fest, daß wir, durch den heimlichen Totalitarismus der Medien in der sog. freien Welt dazu gewzungen sind, uns für frei und für Gegner des Totlitarismus zu halten.

Nun, warum halte ich mit derart schwieriger Materie auf, weil ich verstehen will, warum die sogenannten freien Bürger*innen bereit waren, alle aufklärerischen Konzepte und Errungenschaften innerhalb dreier Jahrzehnte über Bord zu werfen. Jeden Tag lese ich in digitalen und analogen Medien, wie Menschen sich in Interviews in Widersprüchen verheddern. Wird ein Flugfeld von Klimaaktivisten besetzt, so kann man da durchaus folgende Sätze hören: Ich bin ja auch für Klimaschutz, aber warum müssen die hart arbeitende Bürger*innen dabei stören, ihre Urlaubsreisen anzutreten. Klimaschutz ja, aber nur solange er meine Interessen nicht gefährdet. Ist damit nicht der Erste kategorische Imperativ von Kant verletzt? Der da lautet: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Oder in einem anderen Sprachregister formuliert: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Oder umgekehrt formuliert: Was ich tue, muss ich jedem anderen auch zugestehen.

Nein, Kants These ist davon nicht betroffen, wie ich denke und darin liegt auch das größte Problem unserer Zeit, denn im Grunde haben beide Seiten recht. Die Klimaaktivist*innen würden jedem anderen zugestehen, sich ebenfalls auf eine Landebahn kleben zu dürfen. Sie handeln also in ihrem Sinne nach der aufklärerischen These und damit vernünftig. Die Urlauber*innen, die allen anderen zugestehen, ebenfalls mit dem Flieger zu verreisen, handeln auch vernünftig. Die Unvernunft jedoch besteht darin, die Konsequenzen dieses Zugeständnisses nicht zu Ende zu denken, denn fliegen wir weiterhin im gleichen Ausmaß an unsere Urlaubsdestinationen, dann wird die globale Temperatur steigen und die Urlaubsorte, die sie heute noch bereisen, werden dann unbewohnbar sein. Beide handeln im Sinne der Aufklärung. Das Problem dabei ist, dass die Flugpassagiere, obwohl sie zum weiteren Kohlendioxidanstieg beitragen, im Recht sind und die Klimaaktivist*innen, die diesen verhinden wollen, kriminalisiert werden. Mit Kant kommen wir da also nicht weiter.

Was hat das nun mit Günther Anders Thesen zu tun. Er hebelt Kant in dieser Frage aus. Die Urlauber*innen, fühlen sich in ihrer Freiheit beschränkt und in ihrer liberalen Pluralität gefährdet. Sie rufen nach Gesetz und Ordnung, nach der Durchsetzung der liberalen Demokratie und fühlen sich in ihrer pluralistischen und aufgeklärten Haltung sicher und moralisch gefestigt. Sie wissen, was man darf und was nicht. Sie haben im Grunde nichts gegen rechtlich korrekten Widerstand, aber wer das Gewaltmonopol in Frage stellt, hat keine Gnade zu erwarten, den soll die volle Härte des Gesetzes treffen. Im Namen des Pluralismus wird hier die liberale Demokratie ausgehebelt und verwandelt sich vor unseren Augen in eine autoritäre Struktur, die die Wohlstandsinteressen einer zunehmend isolierten Minderheit gegenüber den Überlebensinteressen der Mehrheit schützen will.

Was hingegen fordern die Klimaaktivist*innen. Sie fordern politische Handlungen ein, die die Auslöschung der Menscheit verhindern sollen. Wir hatten das schon einmal, in der Atomdebatte. Damals kam es zu ähnlichen Erscheinungen. Was sich die Klimaaktivist*innen aber durchaus vorstellen können, ist eine Form des Totalitarismus, nämlich eine Verbotsgesetzgebung im Sinne der Klimarettung. Und wie wir bei Günther Anders nachlesen können, ist es uns freien Bürger*innen nicht erlaubt, Totalitarimus zu fordern, weil dies nämlich unserem Glauben an den Pluralismus widerspricht, selbst wenn uns eine totalitäre Gesetzgebung in diesem Fall vielleicht den Arsch retten könnte. Wir sind so gewohnt, uns als frei in einer völlig unfreien und von Verboten beherrschten Welt zu definieren, dass wir nicht einmal mehr wahrnehmen können, dass manche Verbote eben nicht totalitär sind, sondern überlebensnotwendig für unser gesellschaftlliches Kollektiv.

Wir sind bereit die eigene, individuelle Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen, auch wenn es den Untergang des gesellschaftlichen Kollektives bedeuten würde. Das kann ich nur dann verstehen, wenn ich die ideologische Indoktrination der Menschen durch den bürgerlichen Individualismus und die völlige Negierung der Vernunft als Anlaysekatgeorien heranziehe. Das, was die bürgerliche Gesellschaft als Pluralismus bezeichnet, nämlich die Gleichberechtigung der Weltanschauungen, wie wir sie in der offenen, liberalen Demokratie unserer Jugend vorfanden, hat sich spätestens mit dem Ende der Sowjetunion in einen Pluralismus verwandelt, in der jeder und jede das Recht hat, seine eigene Meinung als wahr zu propagieren, zu institutionalisiern, zu verteidigen und wenn es nicht anders geht, mit Gewalt durchzusetzen.

Und in dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den Wahrheitsanspruch, die Diskurshoheit hält sich der Staat nobel zurück und greift nur dann ein, wenn das staatliche Gewaltmonopol gefährdet ist. Solange man wie Fridays For Future friedlich demonstriert, aber damit die politischen Akteur*innen nicht daran hindert, das Land und seine Menschen auszurauben, solange lässt man sie gewähren. Hier ist der gesellschaftliche Pluralismus der liberalen Demokratien noch intakt. Doch wird diese Grenze von den Aktivist*innen der Extinction Rebellions oder den frustrieten Jugendlichen in Frankreich überschritten, dann trifft sie nicht nur die Verachtung der freien Bürger*innen, sondern auch der Staat mit all seiner Macht und seinen gewalttätigen Herrschaftsstrukturen.

Was mich zu Günther Anders Thesen zurückführt: Die Grundlage der Demokratie im Kapitalismus ist nicht die Gleichberechtigung aller Bürger, sondern die aller Produkte. Nun man könnte diese These natürlich abwandeln und mit Fug und Recht heute folgendes formulieren: Die Grundlage der Demokratie im Kapitalismus ist nicht die Überlebensberechtigung aller Bürger*innen, sondern die individuellen Interessen aller Konsument*innen. Wohin das führt, werde ich noch in meiner Lebenszeit sehen: Zu weiteren wesentlich gewalttätigeren Auseinandersetzungen zwischen jenen, die sich in ihrer Existenz bedroht sehen und jenen, die im Namen des liberalen Pluralismus alles ignorieren, was ihrem Weltbild entgegensteht und dafür bereit sind, den Staat als Henker herbeizurufen, um alles aus dem Weg zu räumen, was sich ihren Interessen als Konsument*innen in den Weg stellt.

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eingestellt: 14.7.2023 | zuletzt aktualisiert: 14.7.2023
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