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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XIX
Über die Sehnsucht nach Prosa


Seit meinen ersten literarischen Schritten habe ich mich in verschiedenen Textsorten versucht. Und ich war in ihrer Trennung immer strickt. Übergreifende Textproduktion, die zwischen Lyrik und Prosa, zwischen Prosa und Drama, zwischen Drama und Lyrik wandert, blieb mir auf Grund meiner literarischen Sozialisation verwehrt. Das Experiment war mir immer fremd. Aber was sich mit Sicherheit sagen lässt, dass seit ich vor mehr als vier Jahrzehnten begonnen habe zu schreiben, eine unausrottbare Sehnsucht nach der Prosa in mir wuchert. Wie ein Geschwür breitete sie sich von den ersten Tagen in mir aus. Das lag wohl an meinen ersten Leseerfahrungen, denn von Beginn an las ich Prosa. Begonnen hat es mit Astrid Lindgren. Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü habe ich mir immer und immer wieder aus der Bücherei ausgeliehen, die nahe von Hoffmannsthals Rodauner Schlösschen lag, an dem ich in späteren Jahren oft vorbeispazierte. Danach folgten drei Bände Winnetou, die ich an den Heizkörper unserer Gasetagenheizung lehnend im kalten, nach Norden gelegenen Kinderzimmer las und die endlich, Buch wie Heizung, ein wenig Wärme in meine ersten Jugendjahre brachte.

Was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden soll, mit Winnetou endete mein erstes Prosaabenteur auch schon wieder, denn danach las ich die meiste Zeit Comics. Der letzte Schrei, damals und verbotene, verruchte Literatur. Schund nannte man sie. Und in der Schule galten sie den Lehrern als Teufelszeug. Schädlich für die Seele und eine Gefahr für die deutsche Sprache, die ohenhin immer vor dem Kollaps zu stehen schien, denn jede Generation war von Lehrern, den Sprachpolizisten unserer Gesellschaft, dem Untergang geweiht, weil die nachlassende Sprachkompetenz unsere Gesellschaft immer schon in eine Horde von stammelnden Höhlenmenschen zurückverwandeln würde und Comics und anderer literarischer Schund würden diesen Prozess nur beschleunigen. Und die Dealer dieses gefährlichen gesellschaftlichen Suchtpotentials waren im Wien der Siebziger Jahre sogenannte Tauschläden für Romanhefte, Bücher und Comics. Einer dieser Läden lag in den Nähe des Wohnhauses meiner Großmutter väterlicherseits. Ich erinnere mich an einen kleinen Raum, nicht größer als so manche Tabak-Trafik in den siebziger Jahren. Regale links und rechts bis unter die Decke. Eine Verkaufstheke im hinteren Bereich über die gesamte Breite des Raumes. An den Geruch kann ich mir nicht mehr erinnern, auch nicht, ob eine Frau oder ein Mann das Geschäft führte, nur die Hefte sind in meinem Gedächtnis haften geblieben. Und wenn ich mich nicht täusche, konnte man für zwanzig Groschen ein Comic, ein Heft, ein Buch gegen ein anderes tauschen. Und das war für mich, als Kind aus der Arbeiterschicht viel Geld. Aber dennoch las ich mich mit meinen kleinen Geldgeschenken, die ich von Tanten, Onkeln und Großeltern erhielt, durch Donald Duck, Asterix und Lucky Luke, die ich mir später, als ich endlich mein eigenes Geld verdiente, selbst kaufte und auch sammelte.

Mein erstes Buch allerdings, das ich als Literaturerfahrung gelten lassen würde und ich jenseits der gnadenlosen Schullektüre las und seither meine Sehnsucht nach Prosa nährte, war Steppenwolf von Hermann Hesse. Aufgefordert von meiner Tanzpartnerin, das Buch zu lesen, ließ ich mich verführen und las es, um bei etwaigen Rückfragen nicht wie ein Trottel dazustehen. Und ich las es zügig. Rückblickend würde ich sagen, verstanden habe ich nicht viel davon, aber die Begeisterung für Literatur nahm sofort Wohnsitz in mir und verließ mich seither nicht. Und dann ging es Schlag auf Schlag, Buch für Buch, der ganze Hesse wollte gelesen sein. Mit einem grippalen Infekt ins Bett gezwungen, kämpfte ich mich durchs Glasperlenspiel und zu anderer grippalen Glegenheit las ich den Idioten von Dostojewski. Für die Brüder Karamasow hat es dann nicht mehr gereicht. Später kamen dann die Werke Sartres und Camus hinzu. All die Stunden, die ich damit verbrachte, mich durch die Welt der anderen zu kämpfen, waren süß und nie langweilte ich mich. Die aufgefundenen Welten unterschieden sich so sehr von der meiner Eltern und allem, von dem ich umgeben war. Und dann kam dieser eine Satz von Hermann Hesse, der wie ein Blitz in mich einschlug, den ich irgendwo gelesen habe und in dem sich die anmaßende Selbstbehauptung eines jungen Geistes zeigte, als er schrieb, er wolle Dichter werden oder gar nichts. Und ich dachte bei mir, wenn ein Hesse das kann, warum sollte ich das nicht auch können.

Was ich dabei außer Acht ließ, war die unterschiedliche Herkunft, die unterschiedlichen intellektuellen Voraussetzungen, die unterschiedlichen Bildungszugänge. Aber in dieser Selbstbehauptung lag so ein wahnsinniger Entwurf von einem Selbst, das sich gegen die Welt stellte und sein wollte, was es ist, ein Mensch, ein Eigenes, ein Dichter eben. Wie schrieb Hesse so zutreffend: Dichter war etwas, was man bloß sein, nicht aber werden durfte. Und der Größenwahn war die Brücke, um von der Vorstellung Dichter sein zu wollen, zu dem Zustand ein Dichter zu sein, zu gelangen. Und er hatte recht behalten, er wurde ein Dichter. Und in dieser Rechthaberei lag für mich etwas Grandiose, etwas Utopisches, etwas Geniales, wie Sartre einmal sagte: Ein Genie ist ein Mensch, der einen Entwurf für sein Leben hat. Und diesen Entwurf hatte Hesse und von ihm habe ich diesen für mein Leben übernommen. Schließlich starb er ja im Jahr meiner Geburt. Ein Leben für ein Leben. Und so wollte auch ich, wenn schon kein Dichter, doch zumindest Schriftsteller werden und dabei nicht kleinmütig sein, sondern mir ein großes Ziel stecken, der bedeutenste Schriftsteller Österreichs an der Wende zum 21. Jahrhundert wollte ich werden. Und ich trug diese Pose vor mir her, wie einen Schild und mein Schwert war eine Vision, der Literaturnobelpreis. Was für ein Größenwahn, was für eine Selbstbehauptung. Nun, ich bin nicht der bedeutenste geworden, aber ich bin einer geworden und die größenwahnsinnige Selbstbehauptung meiner frühen Jahre war das Schmiermittel zur Zielerreichung ein Schriftsteller zu sein.

Und um mit den Worten von Elisabeth Freundlich zu sprechen: Ich bin geworden, wofür ich angetreten. Ich habe das Ziel erreicht, gegen alle Widerstände, gegen alle, die behaupteten, dass mit meiner Sprachkompetenz kein Blumentopf zu gewinnen sei. Meine Lehrerinnen, mit einem kleinen I, weil es bis zum bitteren Ende meiner Schulzeit immer Frauen waren, die mir Bildung in deutscher Sprache vermittelten, kein Mann, kein männliches Sprachvorbild im Schulbetrieb. Danach, bei meinen ersten schriftstellerischen Versuchen, wurde ich abgekanzelt für meine konservative Schreibweise, das Experiment galt als das Ziel, nicht das Erzählen selbst. Und dann die bitterste Erfahrung, meine erste Frau hielt mich für größenwahnsinnig und unbegabt, und auf Basis der Texte würde ich über mich rückblickend das gleiche Urteil fällen. Doch für mich war ja nie der Text, den ich schrieb das Entscheidende, sondern immer sein Inhalt, sein kommunikativer Impuls, immer der Dialog mit der Welt. Wichtig war mir früher ja nicht die Form, sondern der Inhalt.

Was mir aber das Lesen der Prosa von Anbeginn einbrachte, war ein Wissen darüber, was Schreiben eigentlich bedeutet. Es ist Kommunikation mit der Welt. Für mich bedeutet Schreiben, mich in der Welt zu verorten, mehr noch mich in ihr zu verankern, festen Boden unter meine Füße zu bekommen. Nein, noch viel mehr, den Boden, auf dem ich stehe, mit anderen zu teilen. Und auch wenn ich immer ein Publikum vor Augen hatte, war es mir letztendlich egal, dass ich es nicht erhalten habe, dass ich in einer Art Echokammer gefangen bin. Meine Texte immer nur auf mich selbst verweisen und wie ich die Welt sehe, ohne dass die Welt meine Texte oder mich sehen würde. Emotional war das immer belastend für mich, da Erfolg in der Literatur natürlich immer nur daran gemessen wird, ob man sich verkauft, ob man publiziert, ob man sein Einkommen damit sichern kann, ob man gesehen wird, wahrgenommen wird von der Kritik, anderen Autor*innen, Verleger*innen, der Wissenschaft, Preise gewinnt. Intellektuell belastete mich die Echolosigkeit nicht, weil ich mein Leben lang im Austauch mit anderen Menschen stand, immer versuchte in die Echokammern der um mich befindlichen Autor*innen vorzustoßen, um mein Denken und mein Schreiben an ihnen zu schärfen, aber letztlich auch davon abzugrenzen.

Nun habe ich mich doch ein wenig vergallopiert. Ich wollte eigentlich von meiner Sehnsucht nach dem Schreiben von Prosa berichten und bin auf die Abwege des Entstehens meiner Vision von einem Leben als Schriftsteller gelangt. Nun, wahrscheinlich ist das gar nicht so abwegig, denn mein Leben als Schriftsteller ist eng mit der Prosa verbunden. Bereits meine ersten großen Texte waren Romane. Klassische bildungsbürgerliche Entwicklungsromane. Selbst mein einziges Buch von Bedeutung, mein einziges (unpubliziertes) Kinderbuch, ist ein Enwticklungsroman und zeigt, wie ich über die Welt denke, wie ich sie gerne hätte, enthält meine Utopie. Und all das ist meiner Sehnsucht nach der großen Prosa, die ich gerne schreiben würde, geschuldet. In meinen ersten Gehversuchen schrieb ich den Stil von Hesse ab, dann kopierte ich Sartre und irgendwann schrieb ich wie ein Bahr. Und hinter meinem Rücken, während ich all die Dramentexte, Lyrikbücher und Biographien und Essays verfasste, entstanden zahlreiche Prosatexte. Und diese Sehnsucht nach Prosa ist in mir lebendig wie eh und je. Auch wenn sie mir nach all den Jahrzehnten unschreibbar zu sein scheint, denn was Prosa und erzählende Literatur ausmacht, spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert, sind Geschichten über Menschen, die sich entwickeln wollen, bürgerliche Geschichten, selbst wenn sie in der Verkleidung von Aufstiegsgeschichten daherkommen, als Geschichten über Arbeiter.

Aber wie soll man denn nach Kafka, der Raum und Zeit im Erzählen aufgehoben hat, uns vor Augen führte, wie das Individuum im System festgehalten wird, herumirrt, seinen Bau nicht mehr verlassen, keine Botschaft mehr überbringen kann, in einer Welt, in der es kaum noch Aussicht auf Entkommen gibt, weil man abgeknallt wird, wie ein Hund, wenn man sich gegen sie stemmt, gegen die Bürokratie, gegen die Reaktion, gegen das Kapital, gegen die Herrschaft. Wie also über ein bürgerliches Individuum schreiben, das heute nur noch in sich selbst ruht, ohne historischen, revolutionären oder utopischen Impuls, die ja Voraussetzung für Entwicklung sind. Dennoch suche ich noch nach einem Weg ins Herzen der Prosa, weil diese Sehnsucht nach ihr unausrottbar in mir haust, seit diesen ersten Tagen, als ich den ersten aller Sätze las, der mein Leben veränderte: Dieses Buch enthält die uns gebliebenen Aufzeichnungen jenes Mannes, welchen wir mit einem Ausdruck, den er selbst einmal gebrauchte, den "Steppenwolf" nannten.

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eingestellt: 5.3.2023 | zuletzt aktualisiert: 5.3.2023
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