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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XVI
Warum ich mich nicht als Philosophen bezeichnen kann


Die Philosophie der letzten dreihundert Jahre, im Grunde die Philosophie aller Zeiten, war mir immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Ein jedes Mal, wenn ich versuchte mich in sie zu vertiefen, und der Versuche gab es viele, sie mir durch das Lesen der Bücher von Philosophen und Philosophinnen anzueignen, habe ich nach wenigen Kapiteln, meist aber bereits nach wenigen Seiten, oft bereits nach den ersten Sätzen, aufgegeben.

Dass ich dennoch bis heute versucht habe zu philosophieren, wie ich es nenne, liegt vielleicht in einer Erfahrung begründet, die ich in grauer Vorzeit machte, am Ende des letzten Jahrtausends, das diesem vorangegangen ist, als ich nämlich eine Vorlesung an der Fakultät der Philosophie belegte.

Es war die Einführung in das Fach Philosophie. Ich saß jede Woche ein Semester lang im auditorium maximum der Universität Wien und lauschte diesem kleinen Professor, der von meiner Warte aus wie jemand wirkte, der weit entfernt zu stehen schien, auf einem Podium, hinter einem Rednerpult, wie eine Figur aus Kafkas Texten, die oft nah erscheinen und doch unendlich und weit entfernt sind, unerreichbar und unnahbar in Form und Gestalt. Hinter dem Professor, auf dieser Bühne der Wissenschaft, ein Vorhang und hinter diesem, so ließ sich vermuten, eine Leinwand, die das moderne mediale Universum, das sich darauf projizieren ließ, verbarg. Wie prophetisch diese wöchentliche Anordnung war, lässt sich erst in der Rückschau ermessen, in einer Zeit, wie wir sie heute erleben, in der das multimediale, digitale Universum der Sprachbanalisierung das Rednerpult und seinen verwegen sprechenden, Sprache entwickelnden Philosophen (der nicht nur klein schien, sondern auch Klein hieß) abgelöst hat.

Dieser kleine Mann, der mich nicht wegen seiner Präsenz, seiner Körperlichkeit faszinierte, sondern wegen seiner Sprechtechnik, die es mir beinahe verunmöglichte, ihm inhaltlich zu folgen. Er begann einen Satz und sprach in beinahe ununterbrochener Aneinanderreihung von Wörtern Satzgliedern, Inhalten, ohne Komma und Punkt, um dann unvermittelt inne zu halten, ein Glas zur Hand zu nehmen, zu trinken, dieses danach wieder abzustellen und weiterzusprechen, als gäbe es keinen Zusammenhang zu dem davor. Diesem kleinen Mann verdanke ich meinen unbedingten Willen zur Philosophie, der nur begrenzt wird durch meine Lesefaulheit, denn ich lese nicht gerne, es strengt mich an, sondern ich schreibe lieber, denn ich bin zu früh zum Schreiben gekommen. Bevor ich noch ausreichend Lektüre hinter mich gebracht hatte, schrieb ich schon, da hatte ich den Steppenwolf (mein erstes Buch von Bedeutung) von Hermann Hesse noch nicht ausreichend intellektuell verdaut.

Bevor ich mich an dieser Stelle in Abseitigkeiten verliere, zurück zum Herrn Klein, der mich am Ende des Vorlesungssemsters zu einer mündlichen Prüfung bat und mir die Frage stellte, was der ontologische Unterschied zwischen Mensch und Tier sei. Nun den Begriff Ontologie kannte ich noch aus Gymnasialzeiten, in der mich mein Biologielehrer lehrte, dass sich in der embryonalen Entwicklung des Menschen in der Phylogenese die Ontogenese wiederhole. Dennoch scheine ich keine inhaltlich befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden zu haben, denn mit einem milden Lächeln, dass den alten weisen Männern scheinbar eigen ist, sagte Herr Klein sinngemäß zu mir: Sie haben keine Ahnung, wovon sie sprechen, aber philosophieren können sie.

Heute könnte ich auf diese Frage einiges von Relevanz beitragen und wahrscheinlich die Prüfung auch inhaltlich mit Bravour bestehen, damals bekam ich meine Eins offensichtlich für meine Philosophier-Kompetenz und nicht für den Zustand meiner Weisheit. Und vielleicht habe ich dieses Lächeln des Herrn Klein als einen inneren Auftrag betrachtet, weiterhin dem Philosophieren nachzugehen. Dennoch gab ich den Besuch von philosophischen Vorlesungen auf.

Nach diesem Semester in zugigen Hörsälen hat es beinahe dreißig Jahre gedauert, bis ich den ersten und bisher einzigen Philosophen mit seiner Biographie und seinem Werk bewältigen konnte. Günther Anders war es, der mir meine intellektuellen Grenzen erneut aufzeigte, jedoch durch seine Art zu schreiben, aber mir auch gleichzeitig einen Weg durch den Dschungel meiner verstreuten Gedanken wies. Er selbst bezeichnete sich als Gelegenheitsphilosophen und er war mehr Essayist als Philosoph, was mich darin bestärkte mich auch als solchen zu begreifen.

Möglicherweise liegt aber auch ein Missverständnis zwischen dem, was ich denke, was ich sein könnte und dem, was der Begriff der Philosophie vorgibt zu sein. Der Begriff Philosophie bedeutet ja im Grunde aus dem Griechischen übersetzt, wo die abendländische Philosophie herkommt, wie man sich erzählt, nichts anderes als die Liebe zur Weisheit. Nun ja, aber was wiederum ist Weisheit? Weisheit scheint die Fertigkeit zu sein, aus zahllosen Möglichkeiten die schlüssigste Handlungsweise zu identifizieren. Das grimmsche Wörterbuch gibt für Weisheit eine Zusammensetzung aus dem Adjektiv weise und der substantivierenden Silbe heit an. Und weise wiederum bedeutet laut des grimmschen Wörterbuches einsichtig sein. Also weise sei einer, der eine Einsicht, vielleicht im erweiterten Sinne auch eine Erkenntnis erlangt hat. Philosophie dient vielleicht also lediglich dazu, sich in den Zustand der Weisheit zu versetzen, Einsichten zu erlangen und Erkenntnisse zu gewinnen.

Stellt sich nun die Frage, welcher Mittel sich die Philosophie bedient. Die Philosophie bedient sich, wie Wittgenstein einmal gesagt haben solle, der Sprache. Sie ist das Element, in dem sich die Philosophie bewegt, sie ist das Mittel der Erkenntnis. Nun in diesem ureigensten Sinne bin ich vielleicht doch ein Philosoph, denn was mich seit Jahrzehnten umtreibt, ist die Sprache, ihre Möglichkeiten und Grenzen, das Sprechen und das Schreiben, die Missverständnisse, die sich aus ihr ergeben, weil die Menschen sich nicht ihrer Möglichkeit und Präzision besinnen. Sprache, und zwar die gesprochene und die geschriebene, ist das Werkzeug, mit dem ich in die Welt hineinrufe und mich in sie einschreiben kann. Was für die meisten Menschen einfach klingt und nicht der Rede wert ist, weil sie einfach sprechen, wenn sie ihren Mund öffnen, um Laute von sich zu geben und schreiben, wenn sie Buchstabenketten als Worte aneinanderreihen und daraus Sätze formen, ist für mich eine komplexe Angelegenheit, denn Sprache ist für mich nicht nur Chance, sondern im gleichen Maße Unglück, denn, wo Sprache echolos im Strom der Zeit treibt, ist sein Sprecher und Schreiber wie ich ein Verlorener.

Nun bin ich ja, wie alle anderen Menschen in diesem Land, in der Schule alphabetisiert worden, also habe das buchstabengetreue Zusammensetzen von Worten gelernt, weiß wie mühselig das Erlernen der Sprache ist. Wie schwierig und oft beschwerlich das Schreiben ist, das eigenes Denken zum Ausdruck bringen will. Sprechen erlernen wir ja durch Hören und Nachahmen und so sprechen wir immer die Sprache der anderen. (Es heißt ja nicht umsonst Muttersprache, auch wenn es oft auch die Sprache des Vaters ist, die durch uns spricht.) Und die anderen sind und bleiben uns immer fremd, wie wir den anderen fremd sind und bleiben. Mit der Sprache denke ich, versuchen wir (und wenn ich wir sage, meine ich vor allem auch mich) diese Fremdheit zu überwinden, indem wir uns mitteilen. Ich würde sogar sagen, dass Mitteilungen über die Welt, Nachrichten aus fremden Landen, aus denen wir selbst kommen, der eigentliche Motor und Antrieb für die Verwendung von Sprache sind, für das Sprechen ebenso wie für die Schrift, denn als soziales Wesen, ist der Mensch darauf angewiesen die Fremdheit, die er in sich vorfindet, aus der er im Grunde besteht, zu verwandeln in Eigenes, in so etwas wie ein Selbst, um sich selbst und seine Welt anderen sichtbar und verstehbar zu machen. Nirgendwo aber scheitert der Mensch grundlegender und ist sein Scheitern tragischer, als bei der sprachlichen Überwindung der ihm eingeborenen Fremdheit.

Nun ja, um am Ende dieses Textes doch noch auf den Punkt zu kommen, folgendes: Letztlich ringe ich mit mir selbst, mit den Etikettierungen, die die Welt für Menschen wie mich erfunden hat, die sich nicht einordnen lassen und die sich nicht einordnen wollen oder können. Der eine wird als Philosoph gebrandmarkt, der andere als Historiker angetan, der dritte zum Installateur herabgewürdigt, der vierte als Mönch belächelt und so weiter und so fort. All diese Berufsbezeichungen und Zuschreibungen (von denen Kafka meinte, sie wären die eigentliche Existenzgrundlage des modernen Menschen) sind nichts weiter als leere Hüllen, die wir maßgeschneidert bekommen, um unsere Möglichkeiten zu begrenzen und unsere Bedürfnisse zu beschneiden, damit wir uns nicht auf unsicheres Terrain vorwagen, nicht Erfahrungen sammeln, in Bereichen, zu denen uns der Zutritt verwehrt bleiben solle.

Kurz und gut: Ich ringe mit dem Wunsch, mich in einem Diskurs zu verorten, irgendwo dazuzugehören, mich intellektuell heimisch fühlen zu können. Und weil der philosophische Diskurs sein Ansehen immer schon wie eine Ehrenbezeichnung vor sich hergetragen hat, ihm wie ein Orden anhaftete, wäre ich gern ein Teil von ihm.

Doch was wäre gewonnen, wenn die Welt eines Tages sagen würde: Er war ein Philosoph von Rang. Nichts wäre gewonnen, außer meine Eitelkeit befriedigt und mein ursprünglicher Wunsch, in die Mitte vorgedrungen zu sein, erfüllt. Doch der Preis, den ich zu zahlen hätte, wäre hoch. Mein Schreiben würde hohl und leer klingen, meine Argumente wie ein Regenguss auf die Erde niederprasseln, versickern im Erdreich, ohne Nutzen. Mein Denken würde nicht leicht und locker wie Schnee vom Himmel taumeln und könnte nicht alle im Sommer gesammelten Erkenntnisse, Erfahrungen und Weisheiten vor den kommenden kälteren Tagen des heraufdämmernden Winters bewahren.

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eingestellt: 7.1.2023 | zuletzt aktualisiert: 7.1.2023
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