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[Unbrauchbar XVI] blättern [chronos]
Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren XVII
Über die Prinzipien einer kapitallosen Gesellschaft


Warum hört man von Superkapitalisten, wie sie der Spiegel in seiner neusten Ausgabe nennt, derzeit Sprüche, die eine Reform des Kapitalismus fordern. Das scheint mir leicht erklärbar, weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Vermögen und Profite haben. Stirbt nämlich der Kapitalismus, stirbt mit ihm das Kapital und mit dem Kapital der Kapitalist, der an ihm hängt wie die Trauben an der Rebe. Und wenn sie nicht zu Grunde gehen wollen, die Kapitalisten und auch Innen, so müssen sie sich für eine Reform des kapitalistischen Wirtschaftssystems einsetzen. Aber wer jetzt Hoffnung schöpft auf eine gerechtere Welt durch eine Reform des Kapitalismus und den Einsatz von Kapital, der hat eine einfache Grundregel nicht verstanden, nämlich nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern das dieser Ideologie zugrunde liegende Kapital, der kapitalistische Tauschhandel, der alleinig dazu dient, eine Ware mittels Kapitaleinsatz in eine mehrwertigere Ware zu verwandeln, zu verkaufen und somit Profit zu erzielen, den der Kapitalist in die eigene Tasche wirtschaftet. Demokratie hin oder her, denn das ist auch das Wirtschaftsprinzip das unserer Gesellschaft zu Grunde liegt, auch wenn wir es durch Begriffe als ökologische oder sozialliberale Marktwirtschaft tarnen. Im Grunde geht es immer um Produktionsmechanismen, in denen Kapital dazu eingesetzt wird, eine Gesellschaft reicher zu machen und innerhalb dieser Gesellschaft manche reicher als andere und manche eben auch ärmer als andere.

Die Superreichen argumentieren ja für eine Reform, um genau dieses Prinzip des Mehrwerts aufrechtzuerhalten. Abgesehen davon, sind sie vielleicht von der Angst getrieben, dass die Massen der Menschen, die Werktätigen wie man früher sagte, heute nennen wir sie die verarmende Mittelschicht, oder besser die deklassierte Mittelschicht, davonjagen könnte, sie enteignen könnte, einsperren könnte, hinrichten könnte, wie in der guten alten Zeit während der französischen und russischen Revolution. Darum also der Reformeifer, denn einer, der Milliarden besitzt, muss sich nicht vor einer Reform des kapitalistischen Systems fürchten, denn er darf dabei ja seine Milliarden behalten. Er muss in Zukunft keine Gewinne mehr machen, da er sie bereits erwirtschaftet hat. Wenn man den Superkapitalisten auf den Leim geht, wenn sie von Reformen faseln, dann hat man aus der Geschichte nichts gelernt.

Die Mächtigen und das waren immer schon die mit Kapital, nicht die Politiker, die sind nur eine unheilige Allianz mit ihnen eingegangen, um ihre Interessen gesellschaftlich durchzusetzen, die Mächtigen jedenfalls haben ihre Macht immer nur in Zeiten in Frage gestellt, in denen sie mit dem Rücken zur Wand standen, wenn ihr wirtschaftliches und physisches Überleben auf dem Spiel stand. Die Sklaverei wurde ja nicht abgeschafft, weil sich die Sklavenhalter entschieden hatten, freiwillig darauf zu verzichten, sondern weil sie in einem vierjährigen blutigen Bürgerkrieg dazu gezwungen wurden. Und machen wir uns nichts vor. Es hat noch hundert Jahre gedauert, bis die Aparheid in Amerika zu Ende ging und von gleichberechtigter Teilhabe aller Ethnien am gesellschaftlichen Diskurs und dem daraus resultierenden Reichtum sind wir in Amerika noch weit entfernt.

Also Mißtrauen ist angesagt, wenn einer wie Ray Dalio im Spiegel mit dem Satz zitiert wird: Werden gute Dinge übertrieben, drohen sei sich selbst zu zerstören. Sie müssen sich weiterentwickeln oder sterben. Das entspringt dem gleichen Geist wie der Kapitalismus selbst. Es liest sich beim ersten Mal wie eine Wohltat, dass einer wie er Einsicht zeigt. Doch hinter einer derartigen Aussage steckt ein darwinistsiches Prinzip: Survival of the Fittest. Nur die am besten Angepassten überleben. Und immer, wenn dieses Prinzip ins Feld geführt wird, werde ich hellhörig, denn mein Leben lang wurde ich mit diesem Prinzip als einzige Möglichkeit des Überlebens gefüttert. Der Stärkere hat das Anrecht auf ein Leben im Wohlstand. Nur wer leistet, darf überleben. Und nur ein leistunsgstarkes Wirtschaftssystem kann die Menschheit retten. Was dieses Prinzip jedoch außer Acht lässt, ist die Antwort auf die Frage, was bedeutet denn leistungsfähig.

Leistungsfähigkeit macht ja noch kein gerechtes Wirtschaftssystem. Auch Leistungswille ist kein Garant für das Gelingen einer gerechten Wirtschaftsordnung. Ich würde sogar festhalten wollen, Leistung zur Förderung ökonomischen Reichtums führt immer in ungerechte politische Verhältnisse, weil ein derartiges System nicht miteinbezieht, dass neben dem darwinistischen Prinzip, das in der Natur herrscht, noch ein zweites Prinzip wirksam ist, nämlich das Prinzip des Geburtenroulettes. Niemand kann vorhersagen, in welche Familie, in welche Gesellschaft, in welche politischen Verhältnisse, in welche ethnische Gebärmutter, er oder sie geboren wird. Mit welchem Energielevel, welcher Behinderung (geistig, körperlich, sozial) jemand geboren wird. Ein gerechtes Gesellschaftsmodell muss nicht nur gerecht wirtschaften, sondern vor allem die Effekte des Geburtenroulettes beseitigen.

Alle gesellschaftlichen Reformen und Revolutionen müssen sich daran orientieren, dass der gesellschaftliche Ort, an dem wir geboren werden, nicht darüber bestimmen darf, wieviel ökonomische Freiheiten wir uns nehmen können, um mit dem, was wir auf diesem Planeten sind, werden und sein wollen, jenen gesellschaftlichen Ort zu bewohnen, für den wir uns frei und unabhängig von ökonomischen Zwängen entscheiden. Das ist die wahre Front, an der wir heute zu stehen gekommen sind. Die Verteilung des ökonomischen Reichtums ist ja nur eine organisatorische Frage und lediglich abhängig vom politischen Willen derer, die die Macht besitzen und der poltischen Durchsetzungskraft derer, die ohnmächtig in ihren unterworfenen gesellschaftlichen Positionen verharren. Was aber völlig unabhängig von der ökonomischen Umverteilung ebenfalls verändert werden muss, ist das Prinzip der Leistung, die dem darwinistischen Prinzip zu Grunde liegt, denn leisten kann jeder von uns. Jeder und jede kann etwas beitragen zur gesellschaftlichen Entwicklung, doch der Wert dieses Beitrages orientiert sich derzeit am Kapital. Wir müssen das Leistungsprinzip vom Kapital entkoppeln, also von den Produktionsmitteln, den Finanzinstrumenten und letztlich von der Schaffung von Mehrwert.

Nun zu meinem Vorschlag als Anhänger eines adjektivlosen Anarchismus: Ich plädiere dafür, einen Katalog von Grundgütern in den Bereichen Konsumgüterproduktion, Bildungszugängen, politischer Partizipation, Kunstprozessen und vielen darüber hinausgehenden Bereichen zu definieren, der für alle gleichermaßen erreichbar und zugänglich sein muss und jeder sich dafür oder dagegen entscheiden kann, diese in Anspruch zu nehmen oder anzulehnen. Für diesen Zugang werden alle vorhanden Ressourcen einer Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Die Erstellung eines derartigen Katalogs muss in einem kommunalen Vertretungsprozess vorgenommen werden. Jede Kommune wählt einen Vetreter oder eine Vertreterin, die in einen gesellschaftlichen Umsetzungsprozess entsendet wird. Dieser ist nur diesem kommunalen Gremium verantwortlich. Damit wäre dem basisdemokratischen Prinzip Rechnung getragen.

Damit wären zwei wesentliche Prinzipien eines transformatorischen Prozesses angesprochen, der zu einer gerechteren, weil kapitallosen Gesellschaft führen soll, denn das muss das Ziel sein, keine antikapitalistische Gesellschaft, sondern eine, die das Prinzip des Kapitals als Prinzip von Leistung zur Aneignung eines wie immer gearteten Mehrwerts (sozial, ökonomisch, politisch) unterläuft und abschafft. Eine gesellschaftliche Theorie und Praxis, die diese zwei Grundprinzipien außer Acht lässt, könnte zwar den Kapitalismus in einen gerechteren Kapitalismus verwandeln, aber kein gerechtes Gesellschaftsmodell hervorbringen, weil das oben skizzierte Grundübel dadurch nicht beseitigt werden würde. Ich möchte an dieser Stelle zwei Grundprinzipien definieren, die die Transformation begleiten und das Ziel eben dieser sein müssen.

Das Umverteilungsprinzip: Was es braucht, ist eine radikale gesellschaftliche Umverteilung aller Ressourcen, Produktionsgüter und Partizipationsmöglichkeiten. Was bedeutet das: Die in der Natur vorhandenen Ressourcen, wie geologische Ressourcen, Wasser, Luft oder Wind müssen eingesetzt werden, um alle in der Gesellschaft lebenden Menschen mit den grundlegenden Produktionsgütern zu versorgen, wie Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Energie, Kommunikationstechnik und vieles mehr. Gleichzeitig muss das staatliche Herrschaftsprinzip beseitigt werden und jedem Menschen gleichberechtigter Zugang zu den Partizipationsprozessen der Gesellschaft gewährt werden. Die Kommune, die Gemeinde muss also im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse einer Gesellschaft stehen.

Das kommunale Prinzip: Was es braucht, ist eine Umverteilung der Herrschaftsverhältnisse, sodass nicht mehr die Ökonomie entscheidend ist, ob man mitbestimmen darf oder nicht. Dieses würde bedeuten die Parteiendemokratie, die parlamentarische Repräsentationsdemokratie zugunsten einer biasisdemokratisch organisierten Kommunalpartizipation abzuschaffen. Gleichzeitig muss im Bereich der politischen Partizipation das Top-Down-Prinzip zugunsten von permanent tagenden Bottom-Up-Strukturen geändert werden und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, dies gilt in der radikalsten Form auch für Familienstrukturen. In jedem Fall aber in den kapitalistischen Vorfeldorganisationen, zu denen ich vor allem die Schulen und die Medien zähle. Kommunale Entscheidungen bestimmen also die gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen. Wobei Kommune hier im besten Sinne des Wortes, die Gemeindestrukturen meint. Auch Städte sind in diesem Sinne in Gemeindestrukturen aufzuteilen. Und jede Kommune hat die gleiche Entscheidungsgewalt. Dazu wäre jedoch eine andere Bildungspolitik notwendig, nämlich eine, die sich nicht am Lesitungsprinzip des Mehrwertes orientiert, sondern am gesellschaftlichen Umverteilungsprinzip.

Den Haupteinwand, den ich selbst gegen diese beiden Prinzipien erheben würde, ist der Faktor Zeit. All diese Prozesse würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen, nicht nur die Transformation der derzeitigen kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch die Entscheidungsfindung in späteren Jahrhunderten. Das mag sein. Doch Geschwindigkeit und ihr Verhältnis zur Zeit sind Kennzeichen des Kapitalismus, denn wer nicht schnell genug ist, der kommt unter die Räder. Die Geschichtsbücher quellen über von derartigen Erzählungen. Und die Literatur lebt von Geschichten der Langsamkeit und den psychischen und körperlichen Folgen, die die Geschwindigkeit für Menschen hat. Jedoch, dieser Einwand wäre relativ leicht zu entkräften, denn eine Gesellschaft, die sich mit den im kommunalen Prinzip hervorgebrachten Konsumgütern zufrieden geben würde, hätte genügend Zeit und menschliche Ressourcen, da sie ja nicht mit leistunsgorientierter Kapitalwirtschaft beschäftigt wäre, um sich diesen Prinzipien und ihrer Weiterentwicklung zu widmen.

All das eben Gesagte, ist ausgelöst durch einen Artikel im Spiegel, jedoch scheint es mir, als wäre die Gesellschaft dringend auf neue utopische Gesellschaftsmodelle angewiesen, auf ein radikales Denken, dass sich in einem radikalen Handeln zeigt. Eines ist jedoch gewiss und das hat die Geschichte auch gezeigt. Kein Mächtiger und keine der kapitalistischen Institutionen wird freiwillig auf ihre erworbenen Privilegien, auf ihre Herrschaft und auf ihre Ökonomie verzichten. Es wäre zu wenig auf eine kraftvolle Reform durch die Kapitalisten selbst zu hoffen und diese als gesellschaftlichen Fortschritt zu feiern. Eine derartige Reform würde zwar das kapitalistische System stabilisieren, aber nichts dazu beitragen, das zu beseitigen, was die bürgerliche Gesellschaft und das Kapital laut Marx hervorgebracht haben: Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.

Eine Reform muss sich gegen diese Form der Ausbeutung richten und ich denke, eine Reform, die diese Ausbeutung abschaffen möchte, ist keine Refom, sondern eine Revolution. Und eines ist wohl gewiss: An einer Revolution hat der am wenigsten Freude, der durch die Revolution nicht nur seine Ökonomie, sondern auch seine Herrschaftsmöglichkeiten und im Zweifel seine Freiheit oder gar sein Leben verlieren würde. Wir sollten uns also hüten, denen zu Vertrauen, die im Schafspelz wölfische Raubtiermethoden predigen, auch wenn sie noch so freundlich, gerecht und plausibel erscheinen.

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eingestellt: 24.1.2023 | zuletzt aktualisiert: 24.1.2023
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