literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum
blättern [zurück] [weiter]
Die Österreichische Dramatikerinnen Dramatiker Vereinigung
ÖDV 1993-1999


Ich setze auf die Jungen!

Interview (1998) von Peter Bergh (Autor/Journalist) mit Raimund Bahr, österreichischer Autor (Jg.1962) und Obmann der AG Literatur, über Parallelen, Versäumnisse und Status quo der Wiener Literatur- und Theaterszene.

Peter Bergh: Hast du als Autor Interesse und Lust, Stücke für das Theater zu schreiben?
Raimund Bahr: Natürlich. Aber die Frage ist ja nicht, ob ich Lust habe, sondern ob es noch politischen, ökonomischen oder philosophischen Sinn macht, für das Theater zu schreiben.

Gibt es deiner Meinung nach in Wien sinnvolles Autorentheater?
Nein! Weil niemand die Frage beantwortet: Ist Theater heute noch möglich, nach Becketts Endspiel? Nach Beckett ist Sprechtheater ohnehin nur mehr ein spielerischer Zeitvertreib, eine Wiederholung eine Auslöschung. In einer Zeit, da der Mensch/Schauspieler immer stärker an die Peripherie der Maschinen/Medienwelt rückt, ist doch nur mehr eine Frage zu beantworten: Was ist ein Mensch? Und stellt sich diese Frage jemand im Sprechtheater? Nein. Die Frage ist, ob darauf am Sprech-Theater überhaupt eine Antwort zu finden ist.

Wie könnten literarische Texte jenseits traditioneller Methoden (Drama/Inszenierung) für das Theater der Gegenwart fruchtbar verwertet werden?
Ich denke, Theater macht nur Sinn, wenn es einen kollektiven Prozess der verschiedensten Menschen darstellt, wenn es nicht ergebnisorientiert arbeitet, sondern prozessorientiert. Das muss für das Sprechtheater ebenso gelten wie für das experimentelle Theater. Die Aufführung, das Ergebnis, interessiert mich eigentlich überhaupt nicht. Eine Aufführung müsste auch im Autorentheater zu einem einmaligen, nicht reproduzierbaren Event werden. So wie die Clubbings, die irgendwo in abgelegenen Räumen abgehalten werden.

Wo befinden sich derzeit die Parallelen von Wiener Theater- und Wiener Literaturszene?
Die Parallele besteht wohl darin, dass es sich um keine Szene handelt. Es gibt keine Gruppen, die gemeinsam arbeiten. Es sind lose Individuen, die manchmal wie durch Zufälligkeiten ins Theater geraten. Theaterkarrieren werden meist über den Umweg der Prosa oder der Lyrik gemacht. Gewinnst du den Bachmannpreis, darfst du auch fürs Schauspielhaus schreiben. Denn dann kennt dich das Publikum und ist auch bereit, ein Stück von dir zu sehen. Ob das Stück Qualität besitzt, ist ohnehin eine zweitrangige Frage. Die enge Verknüpfung von Literatur und Theater macht das Sprechtheater in Wien auch so unglaublich geschwätzig. Bernhard ist ja nur die Spitze eines Eisbergs. Auch ist eine gewisse Stagnation zu beobachten. Nicht unbedingt, weil es keinen Generationenwechsel gibt. Der findet langsam und schleichend durchaus statt: nehmen wir nur Namen wie Franzobel, Kreidl, Cjepek, Streeruwitz etc. Wir haben es mit einer analytischen Phantasielosigkeit zu tun. Das zeigt sich ja nicht nur im Theater, sondern auch bei den Romanen, in der Lyrik oder in der Essayistik. Wo sind denn die großen Intellektuellen? Was ist denn das für ein Land, wo ein Rabinovici zum großen Paradeintellektuellen aufsteigen kann? Da kann ich nur sagen: Die Szene liegt am Boden, weil es sie nicht gibt. Es gibt so etwas wie eine Selbstinszenierung von Personen. Und ich kann das gut verstehen. Auch ich muss mich selbst inszenieren, um auch nur ein wenig Gehör in diesem sumpfigen, morastigen Kulturmief zu finden. Doch in der Selbstinszenierung greift die Gesellschaftsanalyse oft zu kurz. Wir sind so mit uns selbst beschäftigt, dass wir gar nicht mehr sehen, was rund um uns geschieht und was die Welt aus uns macht. Sie degradiert uns zu Schriftstellern, zu Theaterautoren.
Wir erheben uns gar nicht mehr selbstbewusst in den Status eines schreibenden Intellektuellen, wo das Schreiben die Beifügung ist. Heute ist man ein intellektueller Autor. Da wird der Intellekt zur Beifügung. Und dementsprechend sehen dann die Theater- und Literaturprodukte auch aus.

Welche Rolle spielt deiner Meinung nach die Kulturpolitik für Entwicklung/Status quo der Wiener Kunst-/Theaterlandschaft?
Ich denke, dass die Kulturpolitik immer mehr zu versagen beginnt. Das kann ich eigentlich nicht nur den Politikern anlasten, sondern aus dem eben Gesagten vor allem den Künstlern und Künstlerinnen. Wo sind denn die Visionen? Und wenn es nur Untergangsvisionen wären, die die Kulturpolitik zwingen würden, offensiv zu reagieren, so wie damals Kreisky reagieren musste, weil die Künstler und Künstlerinnen ihn mit Aktionismus dazu gezwungen haben? Kulturpolitik hat zwei Aspekte: Politik und Kultur. Wenn eine der beiden Seiten auslässt, lässt sie die andere im Stich. Im Augenblick haben wir eine Situation, in der sich beide Seiten nicht mehr bewegen. Und warum? Weil die gesamte Szene in den letzten zwanzig Jahren ökonomisiert wurde. Die kulturelle Sozialpartnerschaft hat die Literaturszene lahmgelegt. Damit will ich nicht sagen, dass die Literatur nicht mehr Geld bekommen soll. Damit will ich nur sagen, dass die Szene mit dem Geld nichts weiter macht, als sich weiter zu institutionalisieren. Jede Gruppe strebt ein Haus an. Da steckt eine unglaublich kleinbürgerliche Moral dahinter. Habe ich ein Haus, kann ich leben. Kann ich leben, kann ich Kunst betreiben. Ein kleinmütige Position, die die Politiker zu keiner Großzügigkeit in der Kulturpolitik verleitet. Wir müssen jedoch die Politiker zu der Kulturpolitik zwingen, die wir von ihnen erwarten. Da muss ich schon sagen, dass so mancher Kulturbeamter weiter ist als die Politik und die KünstlerInnen selbst.

Was wird/kann sich in den nächsten Jahren am Sektor Literatur/Theater ändern?
Da bin ich pessimistisch. Ich sehe nirgendwo eine Aufbruchsstimmung. Was sich ändern sollte, ist meiner Meinung nach, dass wir unsere defensive Position aufgeben müssen. Wir sollten zwar weiter Geld fordern, aber nicht um unser Überleben zu sichern, sondern um unsere künstlerischen Prozesse zu sichern. Kunst ist natürlich Arbeit. Aber Kunst war immer Freizeitvergnügen, außer wir hatten einen Mäzen. Heute ist halt der Staat als Mäzen eingesprungen, deshalb denken wir Schriftsteller auch, dass wir von der Ökonomie, vom Kapital unabhängig sind. Aber das stimmt so nicht. Unsere Stipendien, unsere subventionierten Bücher sind Steuergelder, die ja schließlich irgendwer einbezahlt hat. Mit welcher Selbstverständlichkeit wir auf die Staatssubventionen zurückgreifen und uns über eine Billa-Angestellte erheben ist eigentlich unglaublich. Ich bin pessimistisch, was die Szene betrifft. Ich setze da schon eher auf die Jungen. Die haben keine Berührungsprobleme mit Institutionen. Die kennen die alte Szene nicht. Die schaffen sich ihr eigenes Milieu, abseits aller Kulturbürokratie, abseits aller ökonomischen Verhältnisse, abseits der Verlage. Die werden sich einfach ins Internet begeben und dort publizieren. Ich denke, das Internet wird das Buch nicht umbringen, aber es wird das Urheberrecht außer Kraft setzen. Und da wäre ja schon viel gewonnen, wenn wir von der Ökonomisierung der Kunstprozesse wegkämen. Noch mehr wäre allerdings gewonnen, wenn wir von der Ökonomisierung aller sozialen Prozesse wegkämen.
blättern [zurück] [weiter]

Redigierte Version von: Armin Anders (Hrg.) | ÖDV-Handbuch für DramatikerInnen und TheatermacherInnen
Edition Art Science / Wiener Theater, Band 1, Erstausgabe Dezember 2000


autor: armin anders | eingestellt: 2.12.2018 | zuletzt aktualisiert: 2.12.2018
index: [a] | [b] | [c] | [d] | [e] | [f] | [g] | [h] | [i] | [j] | [k] | [l] | [m] | [n] | [o] | [p] | [q] | [r] | [s] | [t] | [u] | [v] | [w] | [x] | [y] | [z]


literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum