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Marie Langer
31. 8. 1910 Wien | Buenos Aires 22. 12. 1987
Argentinien | Zweite Heimat
Durch die die Zuspitzung der politischen Lage in Österreich und Europa zeichnete sich für politisch und rassisch Verfolgte eine düstere Zukunft ab. Für klarsichtige Menschen, die ihre Augen vor den Ereignissen in Europa nicht verschlossen, war die Grausamkeit der Nationalsozialist/inn/en offensichtlich und ein heraufziehender imperialer Krieg unausweichlich. Wer Adolf Hitlers Mein Kampf gelesen hatte, die Ereignisse im Spanischen Bürgerkrieg beobachtete und von der zunehmenden Polizeistaatlichkeit wußte, die mit einer expandierenden Rüstungsindustrie verbunden war, konnte sich ausrechnen, sofern er/sie die Nationalsozialist/inn/en ernst nahm, daß ihre Politik direkt in einen Vernichtungsfeldzug führen würde. Die österreichische Regierung setzte dieser Politik nur wenig Widerstand entgegen und gab die Eigenstaatlichkeit 1938 kampflos auf. Bereits ein Jahr darauf, und wahrscheinlich zum letztmöglichen Zeitpunkt, entschloß sich Marie Langer gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Max Langer (sie heirateten kurz nach ihrer Ankunft in Montevideo) neu anzufangen. Ein Neuanfang war aber nach ihrer Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg nur jenseits des atlantischen Ozeans möglich. Bei ihrer Wahl des Ausreisezieles stand Mexico an erster Stelle. Dieses Land war für die Langers mit einem hohen revolutionären Prestige ausgestattet, betrieb eine großzügige Einwanderungspolitik und hielt bis 1942, durch ihren Generalkonsul Gilberto Bosques in Marseille, das letzte Schlupfloch offen für eine Flucht von vornehmlich kommunistischen und anderen linken Exilierten deutscher und anderer nichtspanischer Nationalitäten, die keine Aussicht auf ein USA-Visum hatten. (Pohle 1994:48) Da sich Marie Langer 1939 jedoch im Sudetenland aufhielt, war es ihr nicht möglich, in den Besitz eines mexicanischen Visums zu gelangen. Da sie für Mexico zu spät kam, nahm sie ein Visum für Uruguay an, um Europa rechtzeitig zu verlassen: Als wir auf dem Schiff in Richtung Uruguay waren, besetzte Hitler Sudetendeutschland. Meine Eltern, mein Onkel und meine Tante verließen die kleine Stadt, während auf der anderen Seite die Nazitruppen einmarschierten. Wir hatten die Situation richtig erfaßt. Als mein Onkel beim Abschied vorwurfsvoll zu Max sagte: ‚Du bist ein Abenteurer’, hat Max ihm geantwortet: ‚Ich glaube, du bist viel mehr Abenteurer als ich, wenn du bleibst.’ (Langer 1986:105)
Über die Umstände der Reise von Europa nach Montevideo ist nur wenig bekannt, sie dürfte aber ohne größere Zwischenfälle vonstatten gegangen sein. Bald danach folgten ihre Eltern, die ihre Fabrik aufgeben mußten, über London nach Uruguay ausreisten und dort mittellos ankamen. Ein in London ansässiger Geschäftsfreund, dem sie schon vor der Abreise Geld überwiesen, hatte sich aus dem Staub gemacht. (T.Langer 3/10/1992) Zur Mittellosigkeit meint Alfredo Bauer, daß es sehr vom Zeitpunkt der Auswanderung abhängig war, wer als mittellos galt. 1936 waren es noch jene, die Hab und Gut, 1939 jene, die nur Wertgegenstände und danach jene, die nur ihr nacktes Leben retten konnten. (Bauer 11/1/1992) Im Falle der Familie Glas bedeutete mittellos wohl eher, daß sie Wertgegenstände mitnehmen konnten, die sich in Uruguay zu Geld machen ließen. Marie Langers Eltern eröffneten eine Pension in Montevideo, während Marie und Max Langer ins Landesinnere zogen, da Max eine Arbeit in einer Textilfabrik erhielt.
Max Langer erlitt jenes Schicksal, das meist Frauen berühmter Männer ereilt, die an der Seite ihres Mannes, eher im Hintergrund leben, arbeiten, Haushalt und Kinder versorgen. War Marie Langer 1936 noch als Assistentin an der Seite von Dr. Max Langer in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen, kehrte sich dieses Verhältnis nach ihrer Ankunft in Argentinien rasch um. Nun war Marie Langer als Mitbegründerin der Asociación Psicoanalítica Argentina (APA) in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt, während ihr Mann nur als Direktor in einer Textilfabrik arbeitete. Von nun an war Max Langer der Mann an der Seite der berühmten Frau und Psychoanalytikerin. Er ließ sich nie analysieren und er sich in der psychoanalytischen Familie, aus deren Kreis die meisten Freunde der Langers kamen, den Status eines Chefs der Résistance. (Kappelmacher 14/10/1992)
Diese Umkehrung der Position und die starke Rolle der Frau in der Familie, war nach der Meinung seines Sohnes Tomás für Max Langer schwer zu akzeptieren und für sein männliches Ego sicher nicht leicht zu verkraften. Die Geschlechterrollen waren in vielerlei Hinsicht vertauscht: Und in diesem Fall ist es genau umgekehrt. Das war eine häßliche Situation für meinen Vater. Das war duro, hart. (...) Mein Vater war Coronel
Ökonomisch dasselbe. Hier beginnen die Interpretationen des Sohnes, la jefa de la familia
In der Kindererziehung dürften die traditionellen Rollenbilder bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt worden sein, wenn auch der Vater wesentlich mehr anwesend war als die Mutter auf Grund ihrer vielseitigen Tätigkeiten.
Tomás Langer Mein Vater stellte die Autorität dar. Meine Mutter war mehr permisiv, leichter für einen Sohn. Weniger Disziplin, mehr Psychoanalyse. Das war gut für die Kinder. Du kannst alles kaputt machen und immer hat es eine Interpretation gegeben. (...) Für einen Sohn war es das Beste.
Raimund Bahr Der Vater war also das Gesetz und die Mutter hat das Gesetz in gewisser Weise umgangen.
T.L. Ja, so kann man das sagen. (T.Langer 3/10/1992)
Wie schon angedeutet, ist von Max Langers Lebensgeschichte, außer in Beziehung zu Marie Langer, nicht viel bekannt: Er wurde 1902 geboren, hatte sechs Geschwister und war auch der einzige von ihnen, der selbst eine Familie gründete und Kinder zeugte. Er stammte aus dem Kleinbürgertum. Sein Vater war Journalist. Bevor er Marie Glas kennenlernte und mit ihr gemeinsam nach Spanien ging, war er bereits zweimal verheiratet gewesen, arbeitete als Assistent bei Tandler und als Assistent in der chirurgischen Abteilung im Mautner-Markhofschen Kinderspital. (DÖW 1986:226) Nach der Emigration nach Uruguay konnte er, auf Grund seiner Erfahrungen, die er während des Aufenthaltes im Sudetenland in der Fabrik der Familie Glas gesammelt hatte, einen Job in einer Textilfabrik finden. Diese Zeit in Puerto Sauce im Hinterland von Uruguay, einer kleinen Stadt, in der sie sehr primitiv gelebt haben, dürfte für das jung verheiratete Paar sehr schwierig gewesen sein. Über ihre Beziehung ist nicht viel bekannt, außer daß sie gut und ohne größere, offensichtliche Auseinandersetzungen abgelaufen sein soll, zumindest haben die Kinder nichts gesehen oder gehört. (T.Langer 3/10/1992)
Nach der Ankunft in Buenos Aires arbeitete Max Langer als Direktor in einer Textilfabrik und eröffnete nach der Anerkennung seines Arzttitels eine Praxis, die aber nicht sehr gut ging, schließlich hatte er beinahe zwanzig Jahre nicht mehr als Traumatologe und Orthopäde gearbeitet. Bereits fünf Jahre nach der Rückkehr in seinen ursprünglichen Beruf erlitt er einen Schlaganfall, der ihn in seiner Bewegungsfreiheit und Autonomie stark einschränkte. Er war dadurch auf die Hilfe seiner Frau und Helga Kappelmachers, der besten Freundin der Familie angewiesen, was ihm schwer zu schaffen machte: Im Jahr 64 - ungefähr. Ja, das ist rasch gegangen. Den Anfall hat er am 4.4. gehabt, (...) in Escobar. (...) Und links, die linke Hand war die schlimme Hand. Ich mach Gymnastik, Chiropraktik und Massage, (...) und da hab ich schon vorher ein bißchen mit ihm mitgearbeitet, weil mich das interessiert hat, und dann haben wir uns die Sache aufgeteilt, die Mimi und ich, denn er hat so getan, als ob nichts wäre, aber es war etwas. Also habe ich mich in der Ordination in seine linke Hand verwandelt. Und was der Max gehabt hat: er hat tadellos gesprochen, aber er hat sich nicht anziehen können. (...) Die linke Hand war nicht ganz in Ordnung. (...) Der Max hat seine Schuhe nicht zubinden können, aber seine chirurgischen Knoten hat er so gemacht wie immer. Seine professionelle Seite ist intakt geblieben und seine andere Seite hat Schäden erlitten. (Kappelmacher 14/10/1992)
Max Langer starb bereits ein Jahr später - 1965 - an einem zweiten Herzinfarkt. Für Marie Langer war diese unfreiwillige Trennung mit einer starken Orientierungslosigkeit verbunden, und ihr ver-rücktes Verhalten weist doch auf eine starke Bindung zu ihrem Mann hin. (Volnovich/Werthein 1989:244) Doch vor diesen für die Familie sicherlich traurigen Ereignissen lagen noch jene Jahre in Uruguay und Argentinien, die Marie Langer, dem Kind aus großbürgerlichem Hause, vorerst einen sozialen Abstieg und danach eine steile professionelle Karriere verschafften.
Marie Langer versuchte in Uruguay sofort wieder zu arbeiten, einerseits in einem Solidaritätskommitee für die spanische Republik und andererseits schloß sie Bekanntschaften mit Personen, die an der Psychoanalyse interessiert waren. Der Organisationsgrad jener Menschen, die an der Psychoanalyse Interesse zeigten, war sehr gering, da es keine Männer oder Frauen gab, die die Erkenntnisse der Psychoanalyse vermitteln hätten können. Die Kontakte Marie Langers zu dieser Szene wurden durch den Umzug ins Landesinnere noch zusätzlich eingeschränkt. Ihre Arbeit als Analytikerin nahm sie erst in Buenos Aires wieder ernsthaft auf. Auch ihr zweites Kind, Tomás, kam in dieser Zeit zur Welt. Die Lebensumstände schilderte sie wie folgt: So gingen wir nach Puerto Sauce. Ich war von neuem schwanger. Tommy, mein ältester Sohn, kam dort auf die Welt, und dort lebten wir dreieinhalb Jahre sehr bescheiden. Um ein paar Pesos zu verdienen, kochte ich für uns und für zwei befreundete Angestellte der Fabrik, die ebenfalls Flüchtlinge waren. Dann wurde Max wegen eines Mißverständnisses aus der Fabrik entlassen. (Langer 1986:110)
Diese Entlassung (Nach Angaben von Tomás Langer auf Grund des Vorwurfes der Industriespionage) führte dazu, daß Max Langer nach Buenos Aires fuhr, um Arbeit zu suchen und Marie Langer nach Montevideo zurückkehrte, wo sie kurzzeitig in der Pension ihrer Mutter wohnte und arbeitete. Dies war wohl auch die einzige Zeit, in der sie als Hausfrau und Mutter arbeiten und die Beschränkungen der traditionellen Frauenrolle am eigenen Leibe erleben mußte. Vielleicht stammte aus dieser Zeit auch ihr Widerwillen gegen jede Form von Hausarbeit, die sie in Buenos Aires auf Grund ihrer sehr guten finanziellen Position rasch an ihr Hauspersonal delegieren konnte. (Kappelmacher 28/10/1992)
Max Langer gelang es, wieder eine Anstellung in einer Textilfabrik in Buenos Aires zu erhalten, wo er es bis 1959 zum Direktor brachte. 1942 folgte ihm schließlich auch Marie Langer nach Buenos Aires, wo sie Kontakte zur psychoanalytischen Gruppe um Angel Garma und zu einigen Exilorganisationen aufnahm. Sie erreichte Argentinien in einer Zeit, als sich das gesellschaftliche System innen- ebenso wie außenpolitisch veränderte. Diese Veränderung ging mit hoher politischer Instabilität einher, da sich die politischen Eliten, die sich im Zuge der Konsolidierung der Mittelschicht zwischen 1910 und 1930 herausgebildet hatten, in einer Legitimationskrise befanden. Die Zeit zwischen 1930 und 1943 wird auch als decada infame bezeichnet, da durch das Entstehen einer pluralistischen Gesellschaft die Oberschicht ihre Kontrollfunktion nicht mehr erfüllen konnte. Die Folge war ein Verfall der Verfassung, Korruptionsskandale in der Regierung, die wiederum mit einer Privilegierung englischer Unternehmen verbunden waren. (Kremlicka 1991:115)
Die auf die decada infame folgende Zeit des Peronismus (1945-1955) wird von den Emigrant/inn/en sehr unterschiedlich bewertet. Je nachdem in welcher beruflichen, politischen und sozialen Position sich die Menschen befanden, lehnten sie den Peronismus ab oder wurden zu Sympathisant/inn/en bzw. aktiven Unterstützer/innen des Systems. Marie Langer, die aus der sozialdemokratisch und feministisch orientierten Schwarzwaldschule hervorgegangen war, sich politisch für die KPÖ engagiert hatte und mit einer psychoanalytischen Ausbildung nach Buenos Aires kam, hatte eine differenzierte Sicht des Peronismus entwickelt. Anfangs war sie ebenfalls von den politischen Entwicklungen in Argentinien schockiert, denn die Vorgänge rund um die Machtergreifung durch die militärische Loge Grupo de Oficiales Unidos (GOU) 1943, zu deren Mitorganisatoren Juan Perón zählte, verunsicherte und beunruhigte sie. Zwischen 1943 und 1945 waren antijüdische Demonstrationen an der Tagesordnung, und die etwa 400.000 Juden erlebten eine angstvolle Zeit, denn viele waren gerade den deutschen Nationalsozialist/inn/en entkommen oder hatten von ihren Konzentrationslagern erfahren. Der Justizminister, Martínez Zuvería, ein bekannter Antisemit der Regierung Ramírez, setzte äußerst repressive Maßnahmen: jüdische Wohlfahrtsorganisationen wurden unterdrückt, Lehrer/innen entlassen, das koschere Töten von Rindern verboten, zahlreiche jüdische Zeitungen eingestellt. Begünstigt wurde dieser Antisemitismus am Beginn der Revolution durch den Siegeszug der Achsenmächte. Während dieser Zeit verhielt sich Juan Perón den antijüdischen Kundgebungen gegenüber eher zurückhaltend und griff nicht aktiv in das Geschehen ein. (Vgl. Blanksten 1953)
Ende 1945, nachdem Argentinien Deutschland den Krieg erklärt hatte, die Niederlage der Achsenmächte vollzogen und Juan Peróns Machtbasis groß genug war, ging er von seiner neutralen Haltung ab und stellte sich aktiv gegen den argentinischen Antisemitismus. Er lehnte den Rassismus als biologisches Konzept ab und sah die ethnische Zugehörigkeit eher als sozial geprägtes Element eines Seinszustandes. Der Antisemitismus hörte unter der Präsidentschaft Juan Peróns zwar nicht schlagartig auf, nahm jedoch deutlich ab, und 1949 wurde sogar von jüdischer Seite das Verschwinden des Antisemitismus konstatiert. Dennoch erinnerten seine Reden Marie Langer anfangs stark an Adolf Hitler. Auf eine gerade noch den Nationalsozialist/inn/en entkommene Jüdin und Kommunistin mußte die Situation in Buenos Aires sehr bedrohlich gewirkt haben.
Durch die Ereignisse im Oktober 1945 (Marsch der descamisados) kam Juan Perón ins höchste Amt des Staates und wurde im Februar 1946 durch Präsidentschaftswahlen darin bestätigt. Gleich darauf begann er gemeinsam mit Eva Perón, die argentinische Gesellschaft umzugestalten, wobei er sich vor allem auf die Arbeiterschaft als Machtbasis stützte. Diese Umgestaltung vollzog sich in zwei Bereichen: einerseits wurden die unteren sozialen Schichten in ihrem Prestige aufgewertet und in ihrer Identität gestärkt, so daß sie sich als vollwertige Teilnehmer/innen an den nationalen Interessen fühlen konnten, andererseits wurden die Lebensumstände der Arbeiter/innen durch eine weitreichende Sozialgesetzgebung verbessert. Dadurch stieg Juan Perón in Marie Langers Achtung, sie söhnte sich mit seiner Politik aus und verglich sie mit jenen Verhältnissen, die im Roten Wien geherrscht hatten: Nach und nach gab er der Arbeiterklasse die Sozialhilfe, die im Roten Wien vor dem Austrofaschismus existiert hat; Renten, Krankenversicherung, Möglichkeiten der Ausbildung, Wohnung und billigsten Tourismus. All dies hieß, das wiederzubekommen, was wir in Österreich verloren hatten und uns in Uruguay fehlte, wo wir in einer fast proletarischen Situation gelebt hatten. All dies verwirklichte Perón. Klar, es schien mir schade, daß es von einem General und von oben gegeben wurde, aber es war doch wesentlich, daß er es gab. (Langer 1986:115)
Diese sehr positive Sicht wurde jedoch nicht von allen Exilant/inn/en in Argentinien geteilt, denn so sehr die Arbeiterklasse von der peronistischen Umgestaltung profitierte, so sehr litten andere Bevölkerungsgruppen unter der daraus resultierenden Repression, die sich in Folter, Exilierung von Oppositionellen und Kontrolle der meisten Medien auswirkte. Hier nahmen z.B. die exilierten Publizist/inn/en, die von den Beschränkungen unmittelbar betroffen waren, eine andere Position ein, denn der Wahlsieg Juan Domingo Peróns im Februar 1946, dessen ‚Methoden’, so die österreichische Exilzeitschrift Nueva Austria ‚immer mehr und mehr an die Mittel (erinnern), die Hitler anwandte, um zur Macht zu kommen’, bedeutete das Ende für die politischen Aktivitäten der Exilant/inn/en. Perón erließ Presseverordnungen, die die Herausgabe demokratischer Blätter ab 1949 unmöglich machten. Nach dem Verbot des Volksblattes 1943 mußte nun auch Das Andere Deutschland sein Erscheinen einstellen. (Friedrich 1990:37)
Marie Langer hatte jedoch nicht wie viele Analysand/inn/en (die meist aus der Mittel- und Oberschicht kamen) Juan und Eva Perón wegen der Repression, Tortur und Freiheitsbeschränkungen hassen können, denn sie habe in Europa wesentlich Schlimmeres erlebt, und die Gründe waren weniger edel als die Verteidigung der Arbeiter. (Langer 1986:116-117) Marie Langer geht mit einer derartigen Aussage auch über das Elend und die Unterdrückung mancher linker bzw. gewerkschaftlicher Intellektueller hinweg, die auf Grund der hierarchischen Machtexpansion des Peronismus gefoltert und aus dem Land vertrieben wurden. Diese unkritische Darstellung des Peronismus, dürfte nicht zuletzt ihrer Verehrung für Eva Perón entspringen, jener Frau, die von ihren Gegner/innen leidenschaftlich gehaßt und von ihren Verehrer/innen abgöttisch geliebt wurde.
Für Marie Langer war Eva Perón eine Revolutionärin, eine positive Identifikationsfigur, wie schon Alexandra Kollontai in ihrer Jugendzeit. Die Leidenschaft, mit der sie und große Teile der argentinischen Bevölkerung für Eva Perón schwärmten, ist nur zu verstehen, wenn ich Eva Peróns Biographie von den zahllosen verzerrten Interpretationen der euro-nordamerikanischen Geschichtsschreibung befreie. Für sie und auch die Gesellschaftsdamen der argentinischen Oligarchie war Eva Perón nichts weiter als eine verkleidete First Lady, die ihre Ehe mit Juan Domingo Perón dazu nutzte, um ihre persönlichen Interessen durchzusetzen. Aber diese Denunziation konnte letztendlich nicht verhindern, daß Eva Perón seit ihrer Rückkehr von einer Europareise (1947) zur Nationalheldin der Arbeiter/innen aufstieg. Sie begann ihre prunkhafte Kleidung abzulegen und kleidete sich schlicht und einfach, was sich auf einigen Photographien zeigte: aus Eva Maria Duarte de Perón wurde die compañera Evita.
Vielleicht war es aber auch gerade die vehemente Ablehnung seitens der Oligarchie, die Eva Perón dazu brachte, sich stärker als irgendeine andere Frau zuvor in der argentinischen Geschichte in die Regierungspolitik einzumischen. Ihr wurde die Aufnahme in den exklusiven Frauenklub Sociedad de Beneficiencia verweigert und der Zugang zu den alteingesessenen Familien verwehrt, denn die Oligarchie verachtete sie, wegen ihrer Ausstrahlung, ihrem neureichen Auftreten und ihrer illegitimen Herkunft.
Eva Perón stammte aus ärmlichen Verhältnissen, wurde in Los Toldos, einem kleinen Dorf in der Pampa 1919 bzw. 1922 (das Geburtsdatum konnte nie genau geklärt werden) geboren. Bereits mit 15 Jahren verläßt sie ihr Heimatdorf und versucht in Buenos Aires Fuß zu fassen. Das Weggehen gleicht jedoch einer Flucht und war mit der Hoffnung verbunden, eines Tages eine berühmte Schauspielerin zu werden. Aus ihrer Kindheit und Jugendzeit ist eine grundlegende Empörung über die krassen gesellschaftlichen Gegensätzen übriggeblieben, die vor allem auf dem Land herrschten und sich auch in der Stadt fortsetzten. In ihrer Autobiographie Der Sinn des Lebens (1952) schreibt sie, dass die meisten Menschen sich schon in den ersten Jahren ihres Lebens an die soziale Ungerechtigkeit gewöhnen. Ja selbst die Armen glauben, dass ihre Armut natürlich und logisch sei. (...) Aber wenn es sich auch nicht erklären lässt, so war doch dieses Gefühl der Empörung über die soziale Ungerechtigkeit die Kraft, die mich an der Hand führte, von meinen ersten Erinnerungen bis heute. (Perón 1952:13-14)
Vielleicht war es gerade die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeiten der argentinischen Gesellschaft, die Marie Langer so an Eva Perón anzog, denn auch sie war von dem Wunsch erfüllt, die Welt, in der sie lebte, gestaltend zu verändern: Ich glaube keineswegs, daß man die äußere Welt, ihren Einfluß auf uns und unseren auf sie außer acht lassen darf. Jemand hat einmal gesagt, daß wir auf der Welt sind, um sie zu verändern. Wenn das stimmt, sollten wir die Welt und uns genau kennen. (Langer 1987:9)
Letztlich ist aus Eva Perón keine erfolgreiche Schauspielerin geworden, sondern eine bedeutende argentinische Politikerin, denn sie zog sich nicht, wie viele erwartet hätten, ins Privatleben zurück, um Hausfrau und Mutter zu spielen, sondern übernahm eine wichtige Rolle im öffentlich-politischen Leben. Die Position, die sie in der Secretaría de Trabajo y Previsión übernahm, war verbunden mit einem steilen sozialen Aufstieg und ihrer Drohung, der Oligarchie die Reichtümer zu nehmen, woraus wiederum jene Mythen zu erklären sind, die sich um Eva Perón ranken.
Mit Hilfe ihres öffentlichen Amtes nahm sie wesentlichen Anteil am sozial-politischen Gestaltungsprozeß in Argentinien in den Jahren 1947-1952, der unter dem Schlagwort Peronismus bekannt wurde. Sie gründete Wohlfahrtsinstitutionen, schaltete die Presse aus bzw. gleich, war die treibende Kraft in Verhandlungen mit oppositionellen Gewerkschaften und gründete nicht zuletzt die peronistische Frauenpartei, mit deren Hilfe es gelang, 1948 das Frauenwahlrecht durchzusetzen.
In ihrem politischen Kampf war Eva Perón in der Anwendung ihrer Mittel und Methoden nicht immer so zurückhaltend, wie es einer First Lady zugekommen wäre. Sie schreckte auch vor Säuberungsmaßnahmen nicht zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Sie verhielt sich wie ein autoritärer Politiker (bis dahin war der Beruf ja Männern vorbehalten), setzte sich über Vorschriften hinweg, verzichtete auf das übliche Protokoll und brach mit alten Traditionen. Ein solches Verhalten von einem Mann an den Tag gelegt, hätte vielleicht auch Empörung hervorgerufen, aber Eva Perón war eben eine Frau, die mit den Waffen der Männer kämpfte, und damit stieß sie in manchen Kreisen auf vehemente Ablehnung. Sie hielt sich nicht im Hintergrund, sie forderte dasselbe Recht, das auch Juan Perón als Präsident zustand, und sie wartete nicht darauf, daß er ihr die Gnade erwies, sondern holte sich, was sie brauchte (teilweise mit sehr zweifelhaften Methoden), um ihre Macht auszubauen und zu festigen. (Vgl. Taylor 1979)
Vielleicht war es gerade diese Stärke, dieses politische Durchsetzungsvermögen, was Marie Langer an Eva Perón faszinierte. Aber ausschlaggebend für Marie Langers die Verehrung dürfte Eva Peróns sozialpolitisches Engagement und ihr Einsatz für die Rechte der Frau gewesen sein. Obwohl Eva Perón grundsätzlich einen eher konservativen Standpunkt gegenüber der Rolle der Frau vertrat, denn sie sollte ihrer Meinung nach die alten, klassischen Rollenbilder: Mutter, Friedensstifterin und Schöpferin erfüllen, kommt sie dennoch zu dem Schluß, daß diese Rollen Frauen nicht vom öffentlichen Leben fernhalten, sondern sie im Gegenteil zu Tätigkeiten im politisch-gesellschaftlichen Bereich prädestinieren. Die Abwesenheit der Frau in der argentinischen Politik war für Eva Perón nicht länger tragbar und sie postulierte, daß so wie nur die Arbeiter sich selbst retten konnten, auch nur die Frauen die Rettung der Frauen sein werden. (Perón 1952:134)
Trotz aller Fortschrittlichkeit, die Eva Perón in ihrem Verhalten und ihren Forderungen an den Tag legte, stellte sie jedoch nicht die Forderung nach einer gleichen Verteilung der Arbeitslast im Reproduktionsbereich zwischen Männern und Frauen. Im Gegenteil, die Frauen sollten im Zentrum ihres Lebens das Heim, den Mann und die Kinder sehen. Durch Bezahlung für diese Tätigkeiten könnten für die Frau gewisse Freiräume geschaffen werden, die ihr einen sozialen Aufstieg ermöglichen würden. Gleichberechtigung forderte Eva Perón also nicht, sondern eher einen Art Ausgleich, der die Frau jedoch wieder an ihren Platz in der Gesellschaft stellte, der von den Männern für sie vorgesehen ist.
Bleibt die Frage, warum sie sich damit zufrieden gab. Vielleicht lag es einerseits daran, daß Eva Perón selbst Produkt der argentinischen Gesellschaft, der machistischen Denkweise und der daraus resultierenden Geschlechterhierarchie unterworfen war; aber andererseits: wenn bereits die Forderung nach politischer Partizipation (Wahlrecht), nach Autonomie im ökonomischen und sozialen Bereich (bezahlte Hausarbeit, Scheidungsrecht) eine derartig angstbesetzte Ablehnungsreaktion bei Männern und Frauen der Oligarchie hervorrief, dann ist leicht vorstellbar, welches Aufsehen erst eine Forderung nach vollständiger Autonomie und Gleichberechtigung erregt hätte.
Marie Langer dürfte meiner Meinung nach vor allem der Faszination erlegen sein, die von der Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Eva Perón ausging: Ich war sogar einmal drauf und dran, mich in die Frauenorganisation der Peronisten einzuschreiben. (...) Der absurde Slogan, den der Peronismus auf alle Wände schrieb, das ‚Evita gibt Würde’ fing an, Sinn zu machen. Und besonders gab sie den Frauen Würde. Es war wichtig, daß sie den Frauen das Wahlrecht gab, und auch, daß sie eine politische Position ausfüllte, die niemals zuvor in Lateinamerika eine Frau innegehabt hatte. (Langer 1986:114-115)
Dieses Gefühl der Achtung und Verehrung für Eva Perón, das manchmal auch ans Irrationale grenzte, kam bei ihrem Tod (1952) besonders stark zum Ausdruck und auch Marie Langer konnte sich ihm nicht entziehen. Sie ging zur Totenwache, reihte sich ein in die Schlange und küßte das Glas von Eva Peróns Sarg. Doch diese Trauer konnte sie in ihrer täglichen Arbeit kaum zeigen, denn in der APA und bei ihren Analysand/inn/en herrschte unverhohlene Erleichterung über den Tod Eva Peróns.
Vielleicht fand Marie Langer im peronistischen Argentinien nicht nur das verlorene Rote Wien wieder, sondern auch ein wenig von dem, was sie als Frau im Spanischen Bürgerkrieg erleben durfte. Und dafür war Eva Perón eine herausragende Symbolfigur, denn sie stellte mit ihren Handlungen und mit der Einforderung des öffentlich-politischen Lebens für die Frauen eine bis dahin machistisch-militärisch-hierarchische Gesellschaftsordnung in Frage. Ihr Kampf vollzog sich in einem gesellschaftlichen Klima, das Alicia Moreau de Justo wie folgt beschreibt: Woman, almost always industrious, but intellectually deadened by the action of a society which thinks it dangerous...for her to be able to read or write,’ is the picture painted by a contemporary Argentine feminist leader. ‘Capable of understanding and being a part of a great collective movement, of sharing the aspirations of men...Strongly dominated by religious beliefs, molded by archaic prejudices, woman with galantry and at the same time to deny her personality; to value her grace and her beauty but to exploit her weakness and her ignorance, and to have no confidence in her intelligence; to fight a duel when he thought his own woman offened...but to shower any woman he passed in the streets with insolent remarks. (Blanksten 1953:94)
Für viele Frauen, wohl auch für Marie Langer, bedeutete der Peronismus eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Sie verdienten besser, alleinstehende Frauen wurden besser versorgt, die Eva Perón Stiftung schuf soziale Einrichtungen für Frauen und Kinder und sie konnten durch die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen (1947) auch direkt an der politischen Macht teilhaben. 1948 wurde eine eigene Frauenpartei gegründet; der Zugang zur Bildung, vor allem zur universitären Ausbildung verbessert; 1954 die Scheidung legalisiert; und nicht zuletzt das Selbstwertgefühl der Frauen aufgewertet. Die große Leistung Eva Peróns, von der Marie Langer derart angezogen wurde, liegt wohl darin, daß sie den Arbeiter/innen und im speziellen den Frauen das Gefühl gab, in der Geschichte einen Platz und als Mensch einen Wert zu haben. (Kremlicka 1991:146-150)
Trotz dieser Übereinstimmung mit grundlegenden Ansichten des Peronismus trat Marie Langer nicht in die peronistische Partei ein. Im Gegenteil, nach dem Krieg begann sie sich aus der Politik und Öffentlichkeitsarbeit für etwa fünfzehn Jahre zurückzuziehen: Ich hatte Angst, mich in irgendwelche Politik zu mischen. Mein Mann hatte auch Angst, für mich und für sich: wir durften nicht verhaftet werden, was wäre aus den Kindern geworden? Ja, ich würde sagen, nicht 1942, aber später, als der Krieg vorbei war, gab es einen Schnitt: in der Tat habe ich mit der gleichen Hingabe und Loyalität einige Jahrzehnte lang meine politische Militanz durch eine institutionell-analytische ersetzt, ohne deswegen meine Verbindung zur Linken abzubrechen. (Langer 1986:114)
In diesem hochpolitischen, sehr bewegten und oft nicht ganz ungefährlichen Klima, das 1955 mit dem Ende des Peronismus einen merklichen Wandel erfuhr, begannen Marie und Max Langer ihr Leben einzurichten. Die Etablierung ihrer neuen Lebensform fand auf mehreren Ebenen statt, einerseits in politischer und andererseits in beruflich-familiärer Hinsicht. Politisch schlossen sich Marie und Max Langer der Junta de la victoria an, einer Organisation, die sich um die Zusammenarbeit mit den Alliierten kümmerte. Weiter gehörten die Langers dem Comité Austriaco-Austria Libre an, das 1941 vom ehemaligen österreichischen Vizekonsul in Argentinien Guido Forsthuber und dem Baron Ferdinand Erb gegründet wurde, und dessen Ziel die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs war. (Friedrich 1990:38) Auch mit der Argentinischen Kommunistischen Partei nahm Marie Langer Kontakt auf. Sie blieb aber nur Sympathisantin und trat ihr nicht bei. Vor der APA hielt sie diese Aktivitäten jedoch geheim, nicht zuletzt wegen ihrer schlechten Erfahrungen, die sie 1935/36 in Wien mit ihrer Arbeit in der psychoanalytischen Ausbildung und der kommunistischen Partei gemacht hatte.
In Argentinien existierten große Unterschiede zwischen der österreichischen und der deutschen Kolonie, vor allem im Zusammenhang mit den ideologischen Konflikten zwischen Sozialdemokrat/inn/en, Kommunist/inn/en und Juden, die eine Einheitsfront gegen den deutschen Nationalsozialismus nicht zustande brachten. (Souveur-Henn 9/11/1993) Trotz der auf Neuankömmlinge wohl verwirrend wirkenden Situation konnte das Ehepaar Langer auf eine fest ins argentinische Leben integrierte deutsch-österreichische Gemeinde zurückgreifen, die eine Eingewöhnung wesentlich erleichterte. Während Max Langer die Integration schwer fiel, konnte sich Marie Langer auf Grund ihrer beruflichen, politischen und persönlichen Flexibilität wesentlich leichter in der neuen Realität zurechtfinden. Sofort nach ihrer Ankunft begann sie psychoanalytisch zu arbeiten und schloß sich dem orthodoxen Flügel um Angel Garma an, einem der Gründer der analytischen Gruppe in Argentinien, da er in der Auslegung der Theorie rigoroser war: Ich besuchte Angel Garma, den Gründer der analytischen Gruppe, der mich sehr gut aufnahm. Ich gab ihm meine kümmerlichen Daten, die aber in diesem Moment in Buenos Aires mehr als genügend waren: abgeschlossene Lehranalyse, ein bißchen mehr als ein Jahr Seminar und drei Supervisionsstunden, das war alles. Aber was gab es in Buenos Aires? (Langer 1986:111f)
In Buenos Aires gab es keine entwickelte psychoanalytische Infrastruktur und kaum eine/r der Analytiker/innen besaß eine fundierte Ausbildung, wodurch Marie Langer einen relativ hohen Status einnahm, rasch in die Gruppe aufgenommen und in ihre Aktivitäten eingebunden wurde. Die intensive Zusammenarbeit führte schließlich zur Gründung der Asociación Psicoanalítica Argentina (APA), zu deren Gründer/innen Angel Garma, Celes Ernesto Cárcamo, Ferrari Hardoy, Enrique Pichon Riviere, Arnaldo Rascovsky und Marie Langer zählten. Die analytische Gruppe wurde provisorisch von Ernest Jones, bis zur endgültigen und offiziellen Anerkennung auf dem Kongreß in Zürich 1949, provisorisch in die IPV aufgenommen. Es wurden Lehranalytiker/innen eingesetzt, Seminare abgehalten, die Werke Sigmund Freuds gelesen und all diese Aktivitäten wurden von Angel Garma koordiniert. (Langer 1986:112)
Gerade die Psychoanalyse bot den Emigrant/inn/en ein hohes Maß an Integrationsmöglichkeiten, denn sie hat bereits seit den Anfängen der Bewegung zahlreiche Berührungspunkte mit geographischer ebenso wie psychischer Emigration aufzuweisen. Die psychoanalytische Bewegung war auf Grund ihrer Tabuverletzungen und ihres hohen jüdischen Anteils im theoretischen und methodischen Personal den Angriffen einer feindlichen Umgebung ausgesetzt, und Sigmund Freud selbst sah sich mit einer Art permanenter kriegerischer Situation ihm und seiner Lehre gegenüber konfrontiert und somit zur Verteidigung seiner Wissenschaft gezwungen. Eine Überlebensstrategie in einem derartigen sozialen Umfeld bedarf besonderer Vorsichts- und Verteidigungsmaßnahmen. Die Institutionalisierung der psychoanalytischen Bewegung betrachte ich als ein Element dieser Überlebensstrategie, und in diesem Prozeß war es notwendig, wo immer möglich zu expandieren, das psychoanalytische Konzept geographisch soweit wie möglich zu verbreiten, um es unantastbar und überlebensfähig zu machen.
Mit der Emigration zahlreicher Psychoanalytiker/innen nach den Amerikas, die schon Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre einsetzte (durch die Westbewegung der ersten Absolvent/inn/en des Berliner Lehrinstitutes - Sandor Rado, Franz Alexander, Karen Horney usw.), bekam auch der Institutionalisierungsprozeß der psychoanalytischen Organisationen in Nord- und Südamerika neue Impulse. (Vgl. May 1976; Cesio 1976) Diese Westorientierung der Psychoanalyse wurde durch den Nationalsozialismus noch weiter verstärkt, da ethnisch und politisch verfolgte Psychoanalytiker/innen Europa verlassen mußten, um Repression, Deportation und Vernichtung zu entgehen. Ich könnte also auch sagen, daß der deutsche Nationalsozialismus die Geburtsstunde für die Psychoanalyse in den Amerikas einleitete. Die Entstehung der lateinamerikanischen Psychoanalyse, vor allem der APA, und ihre Weiterentwicklung wurde nach 1945 maßgeblich von der Emigrantin Marie Langer mitgetragen.
Sie zählt damit zu jener Gruppe von Emigrant/inn/en, die Wilder E. Spaulding als quiet invaders bezeichnet. Ein Kennzeichen dieser stillen Eindringlinge ist es, daß sie sich besonders rasch in da aufnehmende Land integrieren und zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. (Vgl. Spaulding 1968) Ihre Leistungen erbrachten diese österreichischen Emigrant/inn/en jedoch nicht unter der Fahne ihrer eigenen Nation, sondern auf Grund ihres hohen Integrationspotentials (und auch den ihnen im aufnehmenden Land gebotenen Integrationsmöglichkeiten) unter dem Zeichen der neuen nationalen Gesellschaften. Die stillen Eindringlinge aus Österreich konnten sich nach Wilder E. Spaulding deswegen so rasch in die amerikanische Gesellschaft einfügen und ihre Leistungen von dieser angenommen werden, weil die Österreicher/innen keinen ausgeprägten Nationalismus aufwiesen. Diese Annahme begründet er mit den Besonderheiten der österreichisch-ungarischen, der deutsch-österreichischen Geschichte und vor allem der Wiener Gesellschaft, die er als melting-pot der Kulturen sieht.
Was Wilder E. Spaulding für die Emigration österreichischer Intellektueller nach Nordamerika nach 1938 feststellt, gilt meiner Meinung nach teilweise auch für Südamerika. Und Marie Langer zählt ganz sicher zu den stillen Eindringlingen, denn auch sie wies keinen ausgeprägten Nationalismus auf, sondern trat als Kommunistin immer für internationale Solidarität ein, was ihr sicherlich geholfen hat, sich nach ihrer Emigration 1939 (Uruguay) und 1942 (Argentinien) rasch in die argentinische Gesellschaft zu integrieren. Sie verwandelte sich aus der Sicht der aufnehmenden Bevölkerung in eine argentinische Bürgerin und ihre Leistungen wurden auch als jene einer Argentinierin ausgegeben und nicht als die einer Österreicherin.
Ein wichtiger Aspekt ihrer Integrationsfähigkeit ist jener ihrer jüdischen Herkunft, die sie oft in den Hintergrund gedrängt hatte. Dennoch muß sie eine positive, wenn auch unbewußte Rolle in diesem Zusammenhang gespielt haben.
Berthold Rothschild Ich bin ja selbst auch Jude und es gibt tatsächlich solche Affinitäten zu diesen Internationalisten, Emigranten und die Marie Langer hat sich ganz sicher als Atheistin und Agnostikerin bezeichnet, aber sie hatte, wie alle diese Gestalten in unserem Jahrhundert, trotzdem eine Treue zu ihrem jüdischen Schicksal und darüber habe ich mich mit ihr damals in Argentinien unterhalten können, aber das hat nichts zu tun mit Judentum als Religion oder Kultur, sondern wenn du willst als historische Chiffre. Ich glaube, das hat ihr sehr viel geholfen. (....) Es hat ihr geholfen, diese Emigrationen einzugehen; es hat ihr geholfen, sich als eine Wandernde zu verstehen, die sich, auch wenn sie sich festmachte, nie endgültig festmachte. Also dieses permanente wechselnde Exildasein, Neuanfangen, ich meine, daß sie daraus (...) eine Kontinuität in sich erleben konnte.
Raimund Bahr Ist das deine Interpretation oder hat sie das gesagt?
B.R. Wir haben darüber gesprochen. Politisch gesehen war sie immer ganz eigenständig, da hat sie den Linksstandpunkt vertreten, auch gegen die Position Israels z.B., wenn es nötig war, aber ich glaube, sie hat sich identitätsmäßig zum großen Heer der permanent auf Wanderung begriffenen Linken und Juden verstanden. (Rambert/Rothschild/Valk 19/8/1992)
Ein zweiter Aspekt für diesen raschen Anschluß an die argentinische Gesellschaft dürfte in ihrer politischen Einstellung liegen. Sie hatte für sich selbst einen politischen Internationalismus postuliert, den sie im Gegensatz zu vielen anderen auch im Alltag umsetzen konnte, d.h. sie lebte sich rasch in die fremde Umgebung ein und koppelte sich schnell von der Österreicherkolonie ab (im Gegensatz zu ihrem Mann, der in Austria Libre weiter aktiv blieb) und wandte sich der argentinischen bzw. den lateinamerikanischen Gesellschaften zu. Später, als sie sich wieder stärker zu ihrem politischen Engagement bekannte, half sie mit, die DDR-Freundschaftsgesellschaft moralisch zu unterstützen. Da eine Neugründung unter den gegebenen politischen Umständen (1967) schwierig war, übernahm sie die Präsidentschaft beim Ateneo in Buenos Aires, wobei sich ihre Aktivitäten auf Unterschriftenleistungen und gelegentliche Vorträge beschränkten. (Bauer 10/11/1992)
Marie Langer erlebte also nicht jenes Schicksal der Orientierungslosigkeit, der Passivität und Ohnmacht vieler anderer Exilant/inn/en. Sie war weder eine typische Exilantin (Zielrichtung: Heimkehr) noch eine typische Emigrantin (Zielrichtung: Einbürgerung). Ich würde sie als eine Vertriebene bezeichnen, die rechtzeitig emigrierte und sich somit die Möglichkeit eröffnete, einen Neubeginn zu setzen, wodurch sie einer in die Vergangenheit gerichteten Existenz entging und sich ein gegenwärtiges, in die Zukunft gerichtetes Leben aufbauen konnte. Unterstützt wurde dieser Neubeginn von mehreren Faktoren: Marie Langer konnte einige ihrer Familienangehörigen in die neue Umgebung mitnehmen, stand vor der Gründung einer eigenen Familie, fand in ihr früheres Arbeitsfeld zurück, durch ihren Bildungsstand bzw. ihr Engagement im Spanischen Bürgerkrieg fand sie sich auch in der spanischen Sprache rasch zurecht, und nicht zuletzt wiesen Buenos Aires bzw. Montevideo ein sehr europäisches Ambiente auf, das eine Eingewöhnung begünstigte. Wie die Grinbergs (mit ihnen hat Marie Langer jahrelang zusammengearbeitet) treffend in ihrem Buch über Exilsituationen feststellen, ist Emigration immer ein Wechselspiel in der Beziehung von Ankommenden und Aufnehmenden, denn mit der Anwesenheit der Exilierten verändert sich die Struktur der Gruppe; einige ihrer Richtlinien für moralisches, religiöses, politisches oder wissenschaftliches Verhalten werden in Frage gestellt, die bislang existierende Organisation könnte möglicherweise destabilisiert werden. Deswegen ist es auch für die Einheimischen eine schwere Aufgabe, die Anwesenheit des Fremdlings zu ‚metabolisieren‘ und in sich aufzunehmen. (Grinberg 1990:91)
Im Falle Marie Langers war das Aufeinandertreffen besonders fruchtbar, denn einerseits stand die analytische Gruppe in Buenos Aires an ihrem Beginn und andererseits beschleunigte sich durch ihre Aufnahme in die Gruppe die Veränderung bzw. Festigung der Gruppenstruktur. Marie Langer gelang es, ein großes Maß an Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, das notwendig und unverzichtbar zu sein scheint für die erfolgreiche Integration in ein neues Land wie auch für die Aufrechterhaltung eines Identitätsgefühles. (Grinberg 1990:25)
Ein dritter Grund für die rasche Integration Marie Langers in die argentinische Gesellschaft, dürfte die gute ökonomische Basis sein, die sie sich durch ihren Karrieresprung in der APA erworben hatte. Sie ermöglichte ihr die Erziehung der Kinder und den Haushalt an Hauspersonal zu delegieren. Sich Hauspersonal im Argentinien der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre zu halten, war durchaus nichts Besonderes und für eine Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft, die die Frau auf den reproduktiven Bereich der Familie beschränkte, unerläßlich, wollte sie Karriere machen. Es gab nicht genug öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen, die die Frauen von den Reproduktionsaufgaben teilweise entlasten hätten können. Dennoch bleibt im Falle einer Kommunistin, die Marie Langer zweifelsohne war, ein gewisser Widerspruch dadurch erhalten, daß sie einerseits eine solidarische Gesellschaft, in der alle die gleichen Zugänge zur Bildung, Macht und Ökonomie besitzen sollten, forderte, andererseits ihren selbstverständlichen Umgang mit dem Hauspersonal keineswegs öffentlich zur Sprache brachte. Hier thematisiert sich also im privaten Bereich nicht nur die Klassenfrage, sondern auch eine ethnische Problematik, da das Personal zumeist aus dem Norden zugewanderte, aus armen und mestizischen Familien stammende Menschen waren, die auf diese Arbeit angewiesen waren. Durch ihre ökonomische Abhängigkeit entstand auch eine soziale, denn ihr Freiraum richtete sich nach den Bedürfnissen der Herrschaften: Was mich belästigt hat: die Mimi war immer sehr anständig zum Hauspersonal, aber sie hat die Kinder nicht so erzogen. Und ich erinnere mich, z.B. da waren wir auf der quinta
Es war also in Buenos Aires durchaus üblich, Hauspersonal zu besitzen, aber nur weil es alle tun, endet der Widerspruch nicht. Von einer Frau, die ihr Leben dem Internationalismus und der Solidarität mit der Arbeiterklasse widmete, hätte ich mir in der Autobiographie eine Thematisierung dieses Lebensstils, der eine Fortführung der Lebensführung ihrer Eltern nur mit weniger Budget war, erwartet. In dieser Problematik, scheint es mir, vollzog Marie Langer wie selbstverständlich den Lebensentwurf ihrer Mutter, war sie ganz Dame, die es verstand ihr Hauspersonal zu leiten, zu führen und ihren Bedürfnissen zu unterwerfen.
Berthold Rothschild Ich war mehrmals bei der Marie Langer zu Hause eingeladen, und da hat man dann diskutiert und war links und am Abend zuvor war eine Sitzung, dort geht es natürlich anders zu als bei uns, und da waren natürlich auch die Dienerinnen, die ganze Infrastruktur der mittellosen Klasse, die, während wir da diskutierten, die Mahlzeiten auftragen, die von der Mimi rumkommandiert wurden, wie in jedem bürgerlichen Haushalt. Das hat mich als Europäer sehr frappiert. Das ist dort natürlich völlig normal gewesen. Da hat sie auch gar keinen Widerspruch darin gesehen. (Rambert/Rothschild/Valk 19/8/1992)
Marie Langer hatte also bei ihrer Emigration sehr viel Glück gehabt, denn sie kam in einer historisch sehr dynamischen Phase ihres Lebens und der argentinischen Geschichte nach Buenos Aires, was ihr die Fortsetzung ihres positiven Identitätsentwurfes ermöglichte. Zwar konnte sie ihren Wunsch nach einem revolutionären Leben nicht verwirklichen, aber sie arbeitete weiter an der Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus. Zuvor kam es jedoch zu einem deutlichen Rückzug aus dem politischen Leben, der bis 1965 andauerte.
Ihr politischer Rückzug hatte auch mit ihrer starken Beziehung zu ihrem Mann und dem daraus resultierenden Familienleben zu tun, dürfte aber genauso Resultat ihres freischwebenden Status als Exilantin gewesen sein. Marie Langer war zwar 1945 eingebürgert worden, doch der Ärztinnentitel, der ihr ein sicheres, legales Einkommen ermöglicht hätte, wurde ihr (und ihrem Mann) erst 1959 anerkannt, wodurch ihr Status in der APA immer von dieser Nicht-Anerkennung gekennzeichnet war. Dieser Status zwang sie auch zu einem ihr äußerst unangenehmen Schweigen zu ihrer marxistischen Einstellung und zum Mißbrauch der Übertragung durch einige Analytiker in der APA. Erst nach 1959 konnte sie erstmals die ihr seit längerem (durch eine Art Rotationsverfahren in der Besetzung) zustehende Präsidentschaft in der APA übernehmen. Bis in die sechziger Jahre litt sie trotz ihrer relativ positiv verlaufenden Integration unter den psychischen Folgen des Exils: Ich hätte gern, daß wir irgendwann einmal über die psychologischen Folgen des Exils reden könnten; ich war Staatsbürgerin zweiten Ranges. Ich mußte über meinen Marxismus schweigen, ich verschwieg auch meine Kritik an einem bestimmten hypomanischen, verschwenderischen und exhibitionistischen Lebensstil gewisser Mitglieder der Vereinigung. (Langer 1986:118)
Ihre Arbeit zwischen 1942 und 1965 war immer von dem Widerspruch geprägt, einerseits in der APA mitzuarbeiten und andererseits politisch und ideologisch konträre Positionen vertreten zu müssen, wobei sie diese nicht immer direkt aussprechen konnte, also eine ähnlich unangenehme Situation wie die in Wien Mitte der dreißiger Jahre erlebte, mit dem Unterschied, daß ihr damaliges politisches Engagement durch ihren Beruf als Psychoanalytikerin ersetzt wurde: Ich würde sagen, damals mußte ich die Psychoanalyse lernen, da ich jetzt Psychoanalytikerin war. Ich würde Dir auch sagen, daß ich damals fühlte, daß wir etwas Wichtiges gegründet hatten. Ferner, wenn ich mich anfangs hauptsächlich auch aus ökonomischen Gründen der Analyse widmete, fühlte ich mich dann nach Ablauf eines Jahres, als mein Einkommen schon gesichert war, in meiner Berufswahl sicher und befriedigt. Ich hatte schon genügend über Psychoanalyse gelesen, wieder und wieder viel darüber nachgedacht oder zum ersten Mal gedacht. Ich versuchte, meine eigene Art als Psychoanalytikerin zu finden, und auch institutionell für eine gute Vereinigung zu kämpfen. (Langer 1986:124)
Neben diesen beruflichen Aktivitäten gab es auch ein sehr ausgefülltes Privatleben, wobei diese beiden Sphären nicht gänzlich voneinander getrennt waren. Eine Trennung in einen beruflichen und privaten Bereich war schon deshalb schwierig, weil sie ihre Analysand/inn/en in derselben Wohnung empfing, in der sie auch mit ihrer Familie wohnte, in der Calle Juncal in Buenos Aires.
Nach Tomás brachte Marie Langer noch vier weitere Kinder zur Welt: ihre zwei Söhne Nikolaus und Martín, sowie deren jüngere Schwester Ana und schließlich die jüngste Tochter Verónica, im Alter von 42 Jahren. Bis auf Nikolaus entwickelten sich alle Kinder normal und ergriffen durchaus gutbürgerliche Berufe. Bei Nikolaus gab es jedoch gesundheitliche Probleme, denn er erkrankte im ersten Lebensjahr an Masern und erlitt eine Enzephalitis, wodurch er auf dem Entwicklungsniveau eines Kleinkindes stehenblieb. Anfangs stellte seine Erziehung kein Problem dar, doch als Martín zur Welt kam, wurde sein Verhalten gegenüber den Brüdern immer aggressiver. Marie Langer begann sich zusehends von Nikolaus zu distanzieren und gab ihn in die Obhut ihrer Mutter.
Tomás Langer Er hat hier bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr gelebt, aber als mein Bruder geboren wurde, war die Aggressivität schon unkontrollierbar. In einem Moment hat ihn meine Mutter grad noch erwischt, wie er mit einem Hammer zum Bruder hin ist. Und nachher ist er bei meinem Großvater und meiner Großmutter geblieben.
Raimund Bahr Bis zum Schluß?
T.L. No, nicht bis zum Schluß. Das war die einzige solución
Dieses Nicht-sprechen über persönliche oder vergangene Familienangelegenheiten war eine durchaus übliche Praxis im Haus der Langers und setzte sich auch in Marie Langers Autobiographie fort, denn über ihre Zeit in Wien, über Konflikte und Familienunstimmigkeiten gibt es kaum Erzählungen. Marie Langer hat zwar unter diesen Konflikten gelitten, vor allem in Bezug auf ihr Verhalten gegenüber Nikolaus, aber das hielt sie nicht davon ab, Stillschweigen über jene Dinge zu bewahren, die einem unangenehm sind oder manchmal auch als Niederlage erscheinen. Vielleicht hat dieses Schweigen dazu beigetragen, daß die Familie ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat, denn Jaime del Palacio, Anas Mann, schildert die Langers als starke Familie mit einer clanartigen Struktur: (...) Die Langers neigen (neigten) zur Einheit und leiden (litten) schrecklich unter Trennungen. (...) Ich habe gesagt, daß die Langers ein Clan sind und waren; wie alle Clans leiden sie darunter. (Palacio 1986:284)
Die Familienangehörigen versammelten sich oft, beinahe täglich in der langerschen Wohnung, oder in Escobar, nahe bei Buenos Aires, wo die Familie Langer ein Wochenendhaus besaß. Die Arbeits- und Lebenssituation im Haus war bestimmt von der zeitlichen Länge einer analytischen Stunde, die 50 Minuten dauerte (und auch heut noch als Standardwert von Analytiker/innen penibel eingehalten wird). Marie Langer verließ das Behandlungszimmer nie vor der angegebenen Zeit. Jaime del Palacio schildert ihre Arbeits- und Lebensumstände Anfang der siebziger Jahre folgendermaßen: Ich war kaum eine Woche in dieser Juncal-Wohnung und nur einmal im Sprechzimmer; bei dieser Gelegenheit hat mich ein Charakterzug beeindruckt, den ich später als Marie sehr zugehörig kennengelernt habe; die gemütliche Genügsamkeit, wo nie ein Detail zuviel ist. Die Couch, ein Schreibtisch, bedeckt mit einem flachen Glas, unter dem die familiären Persönlichkeiten auf vielen Photographien wimmelten wie lebende Organismen, ein Büchergestell vom Boden bis zur Decke, ein Fauteuil, ein Paar Stühle, ein Druck von Picasso (...) Während der Woche füllten Privatpraxis, Essen mit Familie oder Freunden, politische Treffen, unbezahlte Arbeit am Krankenhaus oder an der Universität den ganzen Tag aus. Am Wochenende Escobar und die ganze Familie: bis zum Winterbeginn schwimmen bis zur Erschöpfung; viele Stunden lang auf den Pferden der Pampas reiten (was Marie einmal einen schweren Knochenbruch einbrachte); Sonntagmittag zusammen am offenen Feuer gebratenes Fleisch essen, das klassische ‚asado‘ der Argentinier; sich mit den Kindern unterhalten, den Kindern der Kinder und den Schwiegertöchtern. (...) Aber eine Tätigkeit, die in Escobar nicht fehlen darf, sind die einsamen Spaziergänge: es kommt immer ein Moment, wo die vielen Leute sie dazu bringen, sich von der Gruppe abzusondern und eine lange Zeit allein zu gehen oder zu reiten. (Palacio 1986:284)
Während die Arbeitswoche stark von Marie Langers beruflicher Tätigkeit geprägt war, gehörten die Wochenenden der Familie, die sie immer auf ihrer quinta in Escobar verbrachten. Die Langers müssen als Pioniere in Escobar, etwa 50 km nördlich von Buenos Aires, angesehen werden. (Kappelmacher 14/10/1992) Sie kauften etwa 1951 ein Grundstück an jenem Teil der baranca (Flußufer), das heute noch zu den angenehmeren Orten in Escobar zählt, denn die anderen Gebiete sind von unzähligen Wochenendhäusern verschandelt. Wo es früher noch wildes Flußufer und unberührte Naturlandschaft gab, breitet sich heute ein Flughafen und ein Freizeitclub aus.
Marie Langer konnte sich in Escobar sportlich betätigen, reiten, schwimmen und ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. An keinem einzigen Wochenende verzichtete sie auf ihren Aufenthalt in Escobar, ob es nun regnete oder die Sonne schien. Für die Kinder, die unter der Woche wenig von ihrer Mutter zu sehen bekamen, boten die Wochenenden Gelegenheit, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Generell muß jedoch gesagt werden, daß wohl Max Langer derjenige war, der eine maßgebende Rolle in ihrer Erziehung spielte. (Kappelmacher 14/10/1992) Auch in dieser Hinsicht müssen die wohl sehr idealisierenden Aussagen Jaime del Palacios, in seinem Nachwort zur Autobiographie Marie Langers, eher problematisiert werden. Der Lebensrhythmus im langerschen Haushalt war wohl stark von Regelmäßigkeiten und durchaus starren Regeln geprägt, wie die folgende Aussage von Tomás Langer zeigt: Was ein bißchen komisch für mich war (...), wo es viel Zeremonie im Haus gab, war mit dem Essen. Hier Personal domestic ist ziemlich leicht, das ist nicht so wie in Europa, du mußt nicht sehr reich sein, um welches zu haben. Und vor dreißig Jahren war das noch ein bißchen leichter. Und fast immer waren es Frauen, oft von anderen Republiken, von hier, vom Inneren des Landes. Aber zu Hause hatte man zum Essen immer zwei, drei Sachen. Mittags immer Torten, österreichische oder ungarische Torten. (...) Und meine Mutter hat das immer den Leuten lernen müssen. Weißt du, das ist sehr kompliziert, das ist fast, ich bin etwas prijuicios
Neben ihrer Arbeit als Analytikerin und im langerschen Familienzentrum war Marie Langer auch mit dem Schreiben von Büchern und Artikeln beschäftigt. Auch hier zeigt sich ihr Hang zur gemeinsamen Arbeit mit Menschen, um so ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Buenos Aires begann sie Artikel in spanischer Sprache zu schreiben, wo ihr sicher die Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg und ihr Schulfranzösisch entgegengekommen sein dürften. Für mich zeigt sich in dieser raschen Annahme einer doch fremden Sprache der Wille, sich zu integrieren, und gerade in der bereits in den vierziger Jahren aufgenommenen Übersetzerinnentätigkeit vom Deutschen ins argentinische Spanisch und nicht umgekehrt, drückt sich für mich darin der deutliche Wille aus, eine neue Heimat zu finden.
Wie sie neben den angeführten Tätigkeiten auch noch Zeit fand, jene Bücher zu schreiben, die noch heute höchst aktuell sind, erklärt sich aus zwei Tatsachen: einerseits besaß Marie Langer enorme Lebensenergien, die bis ins hohe Alter nie zu versiegen schienen, und andererseits verstand sie es, den Arbeitsaufwand durch Arbeitsteilung zu reduzieren. Diese Arbeit im Autor/innenkollektiv hatte nebenbei auch den Effekt einer intensiven inhaltlichen und methodischen Auseinandersetzung.
Die Themen ihrer Artikel und Bücher spiegeln die vielfältigen Interessen ihres Lebens wieder. Vor allem in den fünfziger Jahren entstanden ihre Hauptwerke wie Maternidad y Sexo (1951); Fantasías eternas a la luz del psicoanálisis (1957); Psicoterapia del grupo su enfoque psicoanalitico (1957), das sie gemeinsam mit Léon Grinberg und Emilio Rodrigué verfaßte und das noch heute zu den Standardwerken über analytische Gruppentherapie zählt. In ihren Artikeln beschäftigte sie sich hauptsächlich mit theoretischen und praktischen Problemen der Psychoanalyse, sowie mit Lebenszusammenhängen von Frauen und den damit verbundenen psychosexuellen Entwicklungsstadien.
Diese erste Phase des Schreibens dauerte bis zum Tod von Max Langer im Jahr 1965. Die unfreiwillige Trennung war mit großer Trauer und Orientierungslosigkeit verbunden und ihr Leben hat sich dadurch wesentlich verändert: Wie sich mein Leben verändert hat, als ich Witwe wurde? Als ich Witwe wurde - später bemerkte ich das - analytisch gesprochen, verlor ich den Verstand. Ich glaube, wenn einer nach einer langen Ehe Witwe wird, wird man psychotisch; nein, ich war nicht offenkundig psychotisch; ich arbeitete wie immer, bewegte mich wie immer, aber ja, ich war innerlich verrückt. Eine lange Ehe bedeutet eine fortwährende Verständigung - egal ob man sich liebt oder haßt, immer interagiert man - und wenn du sie plötzlich verlierst, dann fehlt dir der Gesprächspartner, den du sicherlich verinnerlichst, aber zerstört, gestorben...bis du dich wiederherstellst...und ihn wiederherstellst in deinem Inneren...vergeht die Zeit. Ich habe das später bei anderen beobachtet, analytisch beobachtet, und es hat mir viel geholfen, mit den Personen zu arbeiten, die ich analysierte; scheinbar funktioniert man ganz normal, aber man ist verrückt, ist, sozusagen, verschoben. Also, schon nach den ersten sechs Monaten, vielleicht mehr, begann ich ein neues Leben mit ganz neuen Beziehungen, die mich letztendlich nach Mexico führten. (Volnovich/Werthein 1989:244) <Übersetzung durch den Autor>
Schon kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes begann sich Marie Langer wieder an ihrer früheren Liebe, dem Marxismus zu orientieren, ohne dabei diesmal die Psychoanalyse zu vernachlässigen. Zum zweiten Mal war mit der Trennung von einem Ehemann die Hinwendung zu einem engagierten politischen Leben eingeleitet worden.
Während sich ihre eigene politische Einstellung nicht wesentlich geändert hat, war die politische Situation im Land seit ihrer Ankunft 1942 radikal verändert worden. 1955 war es durch die Rücknahme des Scheidungs- und Prostitutionsverbotes, sowie die Aufhebung des obligatorischen katholischen Religionsunterrichtes zum Sturz der peronistischen Regierung gekommen. Die Vertreibung der peronistischen Eliten war trotz der Konsolidierung der Wirtschaft und der Herstellung einer Klassenallianz nicht zu verhindern, da die Widersprüche zwischen arm und reich durch die Ausgleichspolitik nicht zu beseitigen waren. Seit 1952 kam es durch die sich verschärfenden sozialen Gegensätze, ausgelöst durch eine Mißernte und Wirtschaftskrise, zu einem wesentlich repressiveren Vorgehen gegen die Kritiker/innen des politischen Systems und zur Verunsicherung aller an der Klassenallianz beteiligten Interessensgruppen. Das peronistische Regime forderte immer häufiger Loyalitätsbezeugungen, die dazu dienten, ein Netz aus sozialer Begünstigung und Ausgrenzung zu schaffen. Immer deutlicher wurde die Kluft zwischen Peronist/inn/en und Antiperonist/inn/en einerseits und Links- bzw. Rechtsperonist/inn/en andererseits.
Die nachperonistischen Regierungen (1955-1971) unter der Führung der Genräle Lonardi, Aramburu und Onganía nahmen die Entperonisierung der argentinischen Gesellschaft in Angriff. Während Lonardi noch eine gemäßigte Politik vertrat, wurde von Aramburu die peronistische Partei verboten und somit in den Untergrund abgedrängt. Gleichzeitig fanden Schauprozesse statt und Marineeinheiten besetzten die Gewerkschaftszentrale der Confederación General de Trabajo (CGT). Alle diese Aktionen zielten auf die Diskreditierung des Regimes von Juan Perón. Aber weder die Kampfkraft des Peronismus noch sein Charakter als politische Bewegung konnte durch die repressiven Maßnahmen gebrochen werden, sie führten lediglich zur Verschärfung der sozialen Gegensätze in Argentinien.
Obwohl der Peronismus sich im Untergrund befand und von Wahlen ausgeschlossen war, stellte er die einzige relativ geschlossene Opposition dar, was zur weiteren Destabilisierung der Gesellschaft beitrug. Die offiziellen Vertreter/innen der Arbeiterbewegung traten nicht von der politischen Bühne ab, sondern griffen auf altbewährte Kampfformen wie z.B. Streiks zurück, deren Häufigkeit (1959) sogar zum Einsatz des Militärs gegen Streikende führte. Die verschärften sozialen Spannungen resultierten nicht nur aus der Unterdrückung der Gewerkschaften im speziellen und der Peronist/inn/en im allgemeinen, sondern auch aus der Verschlechterung der Lebensverhältnisse (vor allem sanken die Reallöhne) der unteren sozialen Schichten. Trotz Wirtschaftswachstum profitierten nun nicht mehr vermehrt auch die Arbeiter/innen, sondern wieder beinahe ausschließlich die Oligarchie und privilegierte Gruppen. Die daraus resultierenden Arbeitskämpfe führten durch Versuche einiger Gewerkschaftsführer/innen mit der Regierung zu kollaborieren, zur Spaltung der CGT und fanden ihren Ausdruck im sogenannten Cordobazo (Mai 1969). In diesem Monat kam es zum gewalttätigen Ausbruch der lange Zeit unterdrückten sozialen Gegensätze. Student/inn/en und Fabriksarbeiter/inn/en (vor allem der Autoindustrie) solidarisierten sich und führten die Tumulte an, die zwei Tage lang einem regelrechten Krieg zwischen Aufständischen und der Polizei ähnelten. Ein wichtiger Aspekt all dieser Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Marie Langers Leben war die Radikalisierung der Jugend, die sich nicht nur in den linksperonistischen Verbänden organisierte, sondern auch einen revolutionären Peronismus postulierte, dessen Führer/innen auch Kontakte zu Guerillagruppen wie z.B. den Monteneros hatten.
In dieser Radikalisierung spielte auch der Vietnamkrieg und die damit verbundene antiamerikanische Haltung der Jugend eine große Rolle. Dieser Konflikt gab auch für Marie Langer schließlich den Ausschlag, in die Politik zurückzukehren. Von ihrer Tochter Ana und einem ihrer Schulkameraden wurde sie gebeten, auf einer Schulfeier zu sprechen, wo für die Bildung internationaler Brigaden für Vietnam geworben werden sollte. Der Staatsstreich Onganías verhinderte zwar die Schulfeier, nicht aber Marie Langers künftiges Engagement: Mir schien, daß dies die Wende war; daß ich praktisch dorthin zurückkehrte, wo ich aufgehört hatte. (...) Aber diese Entscheidung bedeutete den Anfang meiner Rückkehr zur Politik. Ein bißchen später trat ich in das Solidaritätskomitee für Vietnam ein und damit fing eine Zeit an, in der ich nunmehr ohne Umschweife darüber redete, was ich tat. (Langer 1986:124)
Und dieses Darüber Reden drückte sich auch in ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin aus, denn nun erschien eine ganze Serie von Artikeln und Büchern, die vor allem das Politische und Soziale in den Vordergrund rückten: Carta a Einstein (1970); die Publikationsreihe Cuestionamos I+II, gemeinsame Herausgabe mit Armando Bauleo (1972+73); Politica y Psicoanálisis (1975).
Ihr schreibendes und handelndes Engagement für den Sozialismus bzw. Marxismus isolierte sie innerhalb der APA, ermöglichte ihr aber zusätzliche Öffentlichkeitsarbeit, wie z.B. ihren Eintritt in die Federación Argentina de Psiquiatras (FAP), die Gewerkschaft der Psychiater/innen. Diese der kommunistischen Partei nahestehende Gewerkschaft erlebte Mitte der sechziger Jahre einen neuen Aufschwung, vor allem unter der Präsidentschaft von Emilio Rodrigué, einem engen Freund Marie Langers. Gemeinsam mit ihm und vielen anderen freien Psychoanalytiker/innen (die nicht der APA angehörten, sondern Dissident/inn/engruppen) versuchten sie die linke Psychoanalyse zu stärken. Marie Langer fand durch diese Arbeit jenes Klima der Solidarität wieder, das sie in Wien und Spanien so fasziniert hatte: Emilio war wirklich genial in dieser ersten Präsidentschaft. Und ich fand die Politik wieder, die Solidarität der Partei meiner Jugend, die Kameradschaft aus den Anfängen der APA und Lust, Dinge mit anderen zu machen, mit einer gemeinschaftlichen Zielrichtung und ohne Ehrgeiz. Klar, dieses Klima dauerte nicht allzu lange. Von heute aus gesehen, waren wir naiv, fasziniert von einem Kinderspiel. Aber die Tatsache, daß wir, die wir während so vieler Jahre beinahe nur als Intellektuelle in unserem Fauteuil hinter dem Patienten gesessen hatten, etwas machen und etwas in diesem oder jenem Kongreß erreichen konnten mit dieser oder jener Erklärung, erfüllte uns mit Enthusiasmus. (Langer 1986:140)
Durch ihr offenes Engagement in der linken Psychoanalyse und ihr offensives Auftreten auf den internationalen Kongressen verschärfte sich der ideologische Konflikt mit der APA, der sich vom Kongreß in Rom (1969) bis zu jenem in Wien (1971) hinzog. 1969 kam es in Rom zu einem ersten Gegenkongreß, auf dem zwei Themen diskutiert wurden: die Ausbildung der Psychoanalytiker/innen und die Ideologisierung der Psychoanalyse. Aus diesen Diskussionen entstanden schließlich sogenannte plataforma Gruppen in Italien (Mailand, Bologna, Genua), Schweiz (Zürich) und Argentinien (Buenos Aires), die sich als Dissident/inn/en von den Vereinigungen lossagten. Ihre Kritik wendete sich vor allem gegen die hierarchisierten und erstarrten Institutionen der Vereinigungen, und sie traten für ein soziales Engagement der Psychoanalytiker/innen im speziellen und der Psychoanalyse im allgemeinen ein. Aber bis zum Bruch mit der APA dauerte es noch zwei Jahre.
Vor dem Kongreß in Wien reiste Marie Langer durch die UdSSR und nach Bulgarien als offizielle Delegierte der FAP. Die Reise selbst fand sie interessant, brachte eine Begegnung mit den revolutionären Heldinnen ihrer Jugend, aber die Ergebnisse in psychoanalytischer Hinsicht schätzte sie eher gering ein, da es grundsätzliche Auffassungsunterschiede gab, denn von revolutionärer und marxistischer Psychoanalyse wollten die sowjetischen Psychoanalytiker/innen ebensowenig wissen, wie die westlichen. Mit den Erfahrungen in der FAP, der plataforma-argentina und den Bildern aus der UdSSR im Kopf kam sie in Wien an. Sie war schon vorher als Rednerin durch die IPV angenommen worden, und in ihrem Vortrag Psicoanálisis y/o revolución social wollte sie sich nachdrücklich für eine Reform der Psychoanalyse einsetzen, die durch eine Verbindung mit dem Marxismus zustande kommen sollte: Ich mußte gewußt haben, daß es mein letzter war. Und es war nett, daß er in Wien stattfand, und ich gerade dort eine Arbeit präsentieren konnte, die das Recht des Analytikers geltend machte, sich auch um das Soziale zu kümmern. Denn gerade dort und deshalb hatte man mich aus meinem Beruf entfernen wollen, den ich später in einem anderen Land ernsthaft und erfolgreich ausgeübt hatte. (Langer 1986:143)
Ihr Vortrag wurde nicht gut aufgenommen und es kam sogar zum Bruch mit einigen ihrer Freunde in der IPV, wie z.B. Hanna Segal. Das International Journal of Psychoanalysis verweigerte die Veröffentlichung ihres Vortrages mit der Ausrede: Platzmangel, und als Reaktion darauf entstand so die Publikationsreihe Cuestionamos, die sich der Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus widmete, aber nur zweimal erscheinen konnte, da die argentinische Junta 1974 die linken Psychoanalytiker/innen in alle Himmelsrichtungen verjagte.
Trotz der schlechten Erfahrungen, die Marie Langer auf dem Wiener Kongreß machte, fühlte sie sich in Wien sehr wohl, denn Wien behandelte sie gut und sie stellte fest, daß man bei einem Bruch nicht nur verliert, sondern auch gewinnt. (Langer 1986:146) Und sie gewann tatsächlich, nämlich zahlreiche Freunde in Europa, die ihre Beziehung an ihre ehemalige Heimat wieder enger knüpften, nachdem schon Mitte der sechziger Jahre ihre Mutter nach Wien zurückgekehrt war, die sie bis zu ihrem Tod 1967 regelmäßig besuchte. Ihre Urlaube verbrachte sie nach dem Kongreß in Wien immer öfter in der Schweiz am Zürichsee, wo sie ihre Kontakte zu Paul Parin, Goldy Matthey-Parin, Judith Valk und anderen Psychoanalytiker/innen intensivierte, lang andauernde Kontakte, mit beruflichen Komponenten verbundene Freundschaften entstanden.
Wien half ihr aber nicht nur, neue Kontakte zu knüpfen, sondern ermöglichte ihr auch Ende der siebziger Jahre eine Wiedereinbürgerung nach Österreich. Da es in Argentinien notwendig war, jedes Jahr den Paß neu verlängern zu lassen und Marie Langer das Risiko, nach Buenos Aires zu fahren, nicht auf sich nehmen konnte, mußte sie sich für ihre Europareisen eine andere Möglichkeit überlegen. Über Gundl Herrnstadt-Steinmetz, die wie sie im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, knüpfte sie Kontakte zur österreichischen Bürokratie und erwirkte schließlich, daß Bruno Kreisky sich für eine Wiedereinbürgerung stark machte. Nicht zuletzt erleichterte ihre Berühmtheit, daß das Parlament sich mit ihrem Fall befaßte und dadurch die Wiedereinbürgerung per Parlamentsbeschluß zustande kam. (Parin 18/8/1992) Dieser Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft bedeutete jedoch nicht, daß sie sich mit dem Gedanken getragen hätte, wieder in Österreich leben zu wollen, sondern war für sie einerseits ein Kuriosum, das sie doch sehr amüsierte, und erschloß ihr andererseits die freie Reisemöglichkeit, die nun, auf Grund eines österreichischen Passes, weniger problematisch war.
Doch 1971, nach dem Wiener Kongreß, konnte sie noch nach Buenos Aires zurückkehren, wo durch ihren Austritt aus der APA und IPV, der ihr ein freieres und unabhängigeres Leben in psychonalytischer Hinsicht ermöglichte, eine neue politisch und beruflich sehr erfolgreiche Phase für sie begann. Um ein wenig die Motivationen zu zeigen, die zu ihrem und zum Austritt von 17 weiteren Analytiker/innen führte, möchte ich eine längere Passage aus der Austrittserklärung zitieren:
Wir sind der Ansicht, daß Freuds Werk, die Psychoanalyse, durch ihren Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis eine Revolution in den Gesellschaftswissenschaften bedeutet. Aber die Anwendung der Psychoanalyse - trotz ihrer relativen Eigenständigkeit - wurde und wird bestimmt vom vorgefundenen ökonomischen und politischen System. Dieses verzerrt und behindert die Psychoanalyse. Zu ihrer Erneuerung und Weiterentwicklung bedarf sie des Beitrags anderer Wissenschaften wie auch des ausdrücklichen und ausgeprägten, in diesem geschichtlichen Moment unausweichlichen gesellschaftlichen Engagements.
Unsere Disziplin verlangt eine Kenntnis der Kräfte des Unbewußten, welche das Leben der Menschen bestimmen. Die Menschen werden jedoch auch bestimmt durch die Gesamtheit der gesellschaftlichen Praxis, vor allem durch die Produktionsverhältnisse und die politische Struktur. Klassenideologie erzeugt in den Individuen Glaubenssysteme je nach dem Platz, den sie in der Gesellschaft einnehmen. Die den Individuen aufgezwungene gesellschaftliche Realität erzeugt Ideologien, die geeignet sind, die jeweilige Praxis zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang müssen wir verstehen, daß, gemäß unserem Lebensstil und der institutionellen Organisation, der wir angehören, auch die damit unlösbar verbundene wissenschaftliche Praxis bedingt und ideologisiert ist durch ihre Einfügung in das System und in die Institutionen, die unsere Wissenschaft integrieren und erhalten.
Der Grund unseres Austritts betrifft, beginnend mit Unstimmigkeiten über den Aufbau der psychoanalytischen Organisation, alle Ebenen: die theoretische, technische, didaktische, ökonomische, die Forschungsebene und, was wir besonders unterstreichen wollen, die ideologische. In diesem Punkt ist die Konfrontation und die in ihr enthaltene Forderung nach konkreter Aktion unausweichlich. Wir wenden uns gegen die Pauschalideologie der psychoanalytischen Institution.
(...) Als Wissenschafter und Berufsausübende wollen wir unsere Kenntnisse in den Dienst jener Ideologie stellen, welche das System kompromißlos in Frage stellt. Dieses System ist in unserem Land charakterisiert durch Ausbeutung und Unterdrückung der unteren Klassen: es schanzt die nationalen Reichtümer den großen Monopolen zu und unterdrückt jede oppositionelle politische Manifestation. Wir sprechen uns für das Gegenteil aus. Wir solidarisieren uns mit allen kämpfenden Schichten des Volkes, mit all jenen, die den Prozeß der nationalen Befreiung vorantreiben zum Aufbau eines sozialistischen Vaterlandes. (Langer u.a. 1972:39)
Dieser zutiefst politischen Erklärung folgte die sofortige Umsetzung des postulierten Konzeptes mit der Gründung eines Koordinationsausschusses für alle Beteiligten, die in der Organisation Coordinadora Trabajadores de Salud Mental (CTSM) arbeiteten. Die CTSM sollte die Aufhebung von Hierarchien innerhalb des Krankenhauspersonals ermöglichen. So entstand auch das Lehr- und Forschungszentrum Centro de Docencia e Investigación (CDI). Eine der Zielvorstellungen war vor allem die Teilnahme von Psycholog/inn/en an der psychoanalytischen Ausbildung und die Beseitigung ihrer Diskriminierung gegenüber Ärzt/inn/e/n.
Mit dieser ersten Verwirklichung ihrer Ideen von einer sozialen Psychoanalyse war Marie Langers berufliche Laufbahn noch lange nicht zu Ende. Bereits 1970 begann sie als Ärztin an der psychopathologischen Abteilung des Avellanda Krankenhauses zu arbeiten. 1972 wird sie in Cordoba zur Präsidentin der FAP gewählt und im Jänner 1974 schließlich als Assistenzprofessorin an den Lehrstuhl für medizinische Psychologie berufen: Ich war glücklich, in die medizinische Fakultät einzutreten. Ich fühlte mich endlich an meinem Platz. Außerdem war es ein besonderer Augenblick, weil alle, die wir dort arbeiteten, vom Professor bis zu den Schülern, dieselben Ziele und denselben Enthusiasmus teilten. (Langer 1986:161f)
Dieses Glück war jedoch nur von kurzer Dauer, denn die politische Lage im Land verschärfte sich zusehends. Die sich seit dem Cordobazo vertiefende Kluft zwischen Links- und Rechtsperonist/inn/en wurde zwar kurzfristig durch die dritte Amtsperiode Juan Peróns (1973/74) entschärft, aber nicht wirklich überbrückt. Juan Perón, der nach seinem Sturz (1955) vorerst ins lateinamerikanische Exil flüchtete, verließ auf Druck der argentinischen Regierungen schließlich den Kontinent und fand in Francos Spanien Aufnahme. Er lebte in Madrid und versuchte von dort Einfluß auf die peronistische Bewegung zu nehmen. Dabei verstand er es geschickt, die revolutionäre Linke für seine Zwecke zu mißbrauchen.
Juan Peróns Politik kam auch entgegen, daß die Unfähigkeit der ihm folgenden Regierungen die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme zu lösen, den Peronismus von 1946-1955 als eine Art Goldenes Zeitalter erscheinen ließ und sich viele von der Rückkehr Juan Peróns auch die Wiederkehr dieses Zeitalters erhofften. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Bevor Juan Perón zur Desillusionierung der peronistischen Jugend beitragen konnte, mußte ihm der Weg zurück nach Argentinien durch Héctor Cámpora geebnet werden, der als Linksperonist im März 1973 zum Präsidenten gewählt wurde, aber sein Amt bereits im Juli wieder abgab. So mußten Neuwahlen ausgeschrieben werden, an denen sich auch Juan Perón beteiligte. Am 20. Juni 1973 kehrte er aus dem spanischen Exil zurück. Seine Ankunft am internationalen Flughafen in Ezeiza hätte eine Demonstration der Stärke der Linksperonist/inn/en werden sollen, doch ein von den rechten Gewerkschaften und der Polizei verübtes Massaker verwandelte einen vorhergesagten Triumph in eine bittere Niederlage und bereitete den Sieg der Rechtsperonist/inn/en vor.
Wie schon beim Tod Eva Peróns war an diesem arbeitsfreien Tag auch Marie Langer mit tausenden anderen Argentinier/inne/n unterwegs zum Flughafen. Am 20. Juni 1973 fand die größte Mobilisierung von Menschen in der Geschichte Argentiniens statt, organisiert von den Linken und der Juventud Peronista, kontrolliert von den Rechten und den konservativen Gewerkschaften. Die peronistische Jugend wollte Perón möglichst nahe sein und versuchte an die vorderen Tribünen heranzukommen, worauf der Ordnungsdienst das Feuer eröffnete: Das Schauspiel war beeindruckend. Es erinnerte mich an Krieg und Frieden: von allen Seiten kamen unendliche Menschenkolonnen mit ihren Fahnen. Man sagt, eine Million sei da gewesen, oder waren es drei Millionen? (...) Wir näherten uns im Gehen und Singen aus dem Norden. (...) Wir trennten uns vom Rest und überholten die Kolonnen, die in derselben Richtung gingen. Aber es gab andere, viele Leute, die schon zurückkamen. (...) Ich saß in der Sonne auf dem Rasen neben meiner Freundin. ‚Weißt Du - sagte ich ihr - ich habe mir mein Alter nie so vorgestellt.’ ‚So, wie denn?’ fragte sie mich. ‚So wie jetzt, so glücklich.’ In diesem Moment ging die Schießerei los. Und während gerufen wurde: ‚Hinlegen, in Deckung!’, während Alte und Junge getötet wurden, doch besonders die Jungen zu Hunderten - man wußte nie, wieviele - begrüßte Arnaldo Rascovsky im Fernsehen die vielversprechende Ankunft des Generals, um dann, ohne sich der Ironie des Schicksals bewußt zu sein, von seinem ständigen Thema zu sprechen, dem Filizid. (Langer 1986:159-160)
Die Bilanz: 50 Tote, 2000 Verletzte; bevorzugtes Ziel: die Ordnungskräfte der peronistischen Jugend. Und Juan Perón schwieg zu den Ereignissen. Dennoch wurde er kurz darauf wieder zum Präsidenten Argentiniens gewählt. Jedoch markierte seine Rückkehr und Wiederwahl den Anfang vom Ende des argentinischen Frühlings, der mit Héctor Cámpora begonnen hatte. Denn unter dem Deckmantel von Juan Peróns dritter Amtsperiode fand eine Säuberungswelle unter den Linksperonist/inn/en statt, wie es keinem der vorangegangenen Regime je gelungen war. Dem Schwenk zur Mitte, den Juan Perón von 1952-55 vollzog, folgte nun ein Rechtsruck, der ihn an den rechten Rand einer Bewegung brachte, die er selbst mitbegründet hatte. Die von seiner Rückkehr erwartete Stabilisierung trat nicht ein. Die Gegensätze zwischen Basis und Gewerkschaftsbürokratie konnten nicht beseitigt werden, und auch die Anschläge der Guerillabewegung hörten nicht auf, sondern intensivierten sich. Obwohl der Peronismus während Juan Peróns Amtszeit an die klassischen Ziele der vierziger Jahre anknüpfte, konnte die Kluft zwischen den Interessengruppen nicht wie damals überbrückt werden.
Bereits 1974 mußten die Reformen wieder abgeschwächt und zurückgenommen werden, was sofortigen Widerstand der Arbeiter/innen auslöste und zu vermehrter Repression des Regimes führte. Der Anfang vom Ende des Peronismus setzte sich nach dem Tod Juan Peróns (31.Juli 1974) während der Regierungszeit von Isabel Perón und Lopez Rega fort.
Schließlich wird, nachdem die Proteste kein Ende nehmen, im Dezember 1974 der Ausnahmezustand verhängt, der bis zum Putsch der Militärs am 24. März 1976 in Kraft blieb. Mit dem Ausnahmezustand wurde die von Regierungsseite sanktionierte und organisierte Verfolgung von allem, was links stand, eingeleitet. Von dieser Repressions- und Terrorwelle war auch Marie Langer unmittelbar betroffen, denn ihr vielfältiges Engagement, einerseits für die Psychoanalyse, andererseits für die kommunistischen Gewerkschaften wurde ihr nun zum Verhängnis. Abermals mußte sie ihre Heimat auf der Flucht vor einer Militärmacht verlassen. Bevor sie Buenos Aires endgültig verließ, reiste sie jedoch in ihrer Eigenschaft als Präsidentin der FAP durch Argentinien, um für die Solidarität mit den seit dem Putsch des chilenischen Generals Pinochet inhaftierten Psychiater/innen und Psycholog/inn/en zu werben. Ende 1974 wurde schließlich bekannt, daß Marie Langer ganz oben auf der Liste der Alianza Anticomunista Argentina (AAA), der Triple A, einer paramilitärischen Totschlägerbande stand, die mehrere Leute, die in der CTSM arbeiteten, zum Tode verurteilt hatte. Marie Langer war also unmittelbar bedroht, konnte sich aber erst nach langen Überredungsgesprächen mit ihren Kindern zur Flucht entscheiden. Sie verließ Argentinien und flog nach Mexico.
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eingestellt: 2.5.2020 | zuletzt aktualisiert: 18.7.2020
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