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Leben und Denken im Wort
§ 4 | William Stern
Wie Clara Stern stammte auch Louis William Stern aus gutbürgerlichem Hause. Seine Eltern waren Cousin und Cousine und als Nachfahren der Familien Heine-Ephraim mit Heinrich Heine (1779-1856) verwandt. William wurde am 29. April 1871 als einziges Kind von Rosa (1839-1896) und Sigismund Stern (1837-1890) in Berlin geboren. Die Ephraims waren und sind zum Zeitpunkt von William Sterns Kindheit und Jugend vor allem in Geld- und Rechtsgeschäften tätig: "die meisten sind Geschäftsleute, einer ist Bankbeamter und ein anderer Rechtsanwalt. Sterns Vater [...] ist da keine Ausnahme." (Bühring 1996:13) Alles hätte in seinem Fall also auf eine bürgerliche Existenz als Kaufmann, Bankangestellter oder im Handelsgewerbe hingedeutet. Doch es kam anders. Warum, das führte William Stern sehr ausführlich in seiner verdeckten, anonymisierten Autobiographie Anfänge der Reifezeit aus dem Jahr 1929 aus. In dieses Buch flossen die Jugendtagebücher von William Stern ein. Er kodierte zwar die Namen der darin agierenden Personen, aber die Basis der Betrachtungen bildete sein eigenes Tagebuch: "It would be very difficult indeed to convey a true picture of the young Louis William Stern who spent his childhood and youth in Berlin at the close of the century, without his own diary which he called Anfänge der Reifezeit and which he published twenty-five years after it was written.” (Michaelis-Stern 1972:143) Er nannte vor allem seinen Großvater väterlicherseits, Sigismund Stern (1812-1867), Mitbegründer der jüdischen Reformgemeinde in Berlin, als persönlich wesentlichen Einfluß, dieser sei mitverantwortlich dafür gewesen, daß er den Weg zur Psychologie und Philosophie fand: "Die Gestalt dieses Großvaters väterlicherseits – der 4 Jahre vor A's [William Stern] Geburt gestorben war – war für die große Familie ein Vorbild und Halt, ein Symbol, zu dem man verehrend aufblickte, um so mehr, als in der folgenden Generation (...) keiner zu gleicher Höhe emporgestiegen war." (Stern 1929:7) Günther Anders‘ Beschreibungen des Urgroßvaters in der Totenpost zeigen einerseits, welche Kontinuitäten es in Bezug auf das Schreiben in der Familie gab, und andererseits die Notwenigkeit, die Vergangenheit schreibend zu erfassen, weil die Familiengeschichte ihr nicht mehr standhielt:
"Und am Rand,
von eigner Hand und dreimal unterstrichen:
'Kapitel Sieben unverantwortbar.
Noch einmal schreiben!'
Über diesem Urteil
verstarb im Jahre 1860
Großvaters Vater. –
Lieber Urgroßahn!
erlaß mir den Gehorsam. Welches Zeitwort
hat heute Recht auf Zukunft, wo die Zeit
in Trümmern liegt, und mehr als ein Kapitel,
und dieses Mal verantwortbar vor unsrer
geschwärzten Hand geschrieben werden muß?"
(Anders 1952a / Die Post / Totenpost / LIT)
Die Großmutter Ida Stern (1814-1884) wiederum brachte die Familie und den Alltag als zentrale Kategorie in das Denken des jungen William Stern ein. Er beschrieb die Großmutter als eine "geistig außerordentlich rege Frau", die "der selbstverständliche Mittelpunkt eines großen sie verehrenden Kreises" war, "der durch ihren Tod [...] wie verwaist erschien". (W. Stern 1929:7) Durch die Identifikation mit den Großeltern, die sich als Mitglieder der jüdischen Reformgemeinde stark dem deutschen Kulturkreis verpflichtet fühlten, kam es auch zu einer entsprechenden Assimilation in der deutschen Kultur. Seine Naivität in politischen Dingen, die aus dieser Identifikation erwuchs, sollte später im Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn Günther Anders zu einigen Konflikten führen.
Die Eltern übernahmen die Familientraditionen der Großeltern und führten sie fort. Der Vater, "früher Inhaber eines Zeichenateliers, hatte [...] eine kleine Fabrik errichtet, die ihn aber nie auf einen grünen Zweig brachte; es gab viele pekuniäre Sorgen im Hause. Die Mutter, Kusine des Vaters, eine feine, gütige und kluge Frau, [...] rückte [...] allmählich" an die Stelle der Großmutter "als beratende und betreuende Führerin des weiten Familienkreises." (W. Stern 1929:7) Beide Elternteile von William Stern brachten in die spätere Familie William Sterns wesentliche soziale Fertigkeiten ein, die von den Kindern aufgenommen und weiterentwickelt wurden und bei Günther Anders schließlich zu besonderer Ausprägung gelangten. Von der Mutter wurde das Familienleben als zentrales Element weiblicher Existenz verkörpert. Der Vater repräsentierte den gescheiterten Versuch, ökonomisch in der Gesellschaft Fuß zu fassen, brachte aber das künstlerische Element in die Familie ein. In seiner Selbstdarstellung schrieb William Stern von sich als Sohn eines Kaufmanns, fügte aber in der Reifezeit hinzu, daß sein Vater "eine etwas weiche Persönlichkeit, mehr Künstlernatur als Geschäftsmann, ausgezeichnet durch einen lebhaften Humor, den er auch dichterisch und zeichnerisch bekundete", gewesen sei. (W. Stern 1929:7)
William Stern konnte also aus verschiedenen beruflichen und persönlichen Perspektiven wählen; auch war er selbst ein guter Musiker: "Der Knabe, der musikalisch recht begabt war, spielte schon ziemlich schwere Stücke. Er übte viel und gern und spielt auch anderes als das Aufgegebene. Über jede einzelne Klavierstunde berichtete er mit einer fast pedantischen Genauigkeit. (...) Auch komponiert hat er." (W. Stern 1929:15) Die Klavierlehrerin hielt es sogar für angebracht, einen Fachmann zu Rate zu ziehen, "um zu hören, ob der Knabe begabt genug sei, um Musik zu studieren". (W. Stern 1929:14) Es wurde von Expertenseite davon abgeraten, also entschied William Stern, sich anders zu orientieren und verfolgte eine akademische Laufbahn. Seine Leidenschaft für die Musik blieb ihm jedoch erhalten. Es wurde später innerhalb der Familie viel musiziert und so auch die Kinder (Hilde, Günther und Eva) durch das gelebte Vorbild der Eltern entscheidend mitgeprägt.
Die Laufbahn William Sterns verlief bis zu seiner Eheschließung mit Clara Joseephy weitgehend dem Milieu entsprechend. Er besuchte das Gymnasium und zeigte hier schon erste Anzeichen "seiner später ausgeprägten Gründernatur", die sich schließlich 1916 in der Gründung des Hamburger Psychologischen Instituts niederschlug. (Bühring 1996:26) Er begann nach dem Abitur Philologie und Philosophie zu studieren, wandte sich dann aber rasch ausschließlich der Philosophie zu, die zu einem wesentlichen Inhalt seines wissenschaftlichen Denkens wurde. Er schrieb über seinen Zugang zur Philosophie folgendes: "In heftigster Aufregung füllte ich Seite auf Seite des Buches mit philosophischen Betrachtungen, nenne einige Wochen stillen, freudigen, sich selbst genügenden Philosophierens die glücklichste Zeit meines Lebens'. [...] Es ist nun vorbei. Alle Brücken sind abgebrochen und es gibt kein zurück mehr. In der Philosophie muß ich mein Heil finden." (W. Stern 1927:132-134) Sein berufliches Heil fand er schließlich aber als Psychologe und Begründer der "Allgemeinen Psychologie" und einer umfassenden Kinderpsychologie, die er gemeinsam mit seiner Frau Clara erarbeitete. Diesen langen Weg durch die Psychologiegeschichte haben andere bereits ausführlich beschrieben, insbesondere ist er in den Texten von Werner Deutsch Über die verborgene Aktualität von William Stern (1991) und Gerald Bühring William Stern oder Streben nach Einheit (1996) nachzulesen.
Kurz nach seiner Habilitation traf William Stern schließlich auf Clara Joseephy, die einerseits seinen Familiensinn teilte und ihn andererseits bei seiner wissenschaftlichen Karriere rückhaltlos unterstützte. Mit ihr gemeinsam bildete er ein perfektes Paar, das bis ins hohe Alter hervorragend funktionierte und von allen drei aus dieser Ehe hervorgegangenen Kindern als harmonisch und glücklich geschildert wurde.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 2.12.2018 | zuletzt aktualisiert: 15.12.2018
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