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Leben und Denken im Wort
Wien: weder noch
"Von Wien aus habe ich herumgeschnuppert, um zu erfahren, was sich in West- und Ostdeutschland tat. Adenauer reizte mich ebensowenig wie Ulbricht. (...) So beschloß ich, im Weder-noch: in Wien zu bleiben." Günther Anders Antwortet. Elke Schubert. Berlin 1987:40-41.
§ 22 | Kein Friede nirgends
1945 stellte die große Wende in Günther Anders‘ Leben dar. Nicht nur, weil er in diesem Jahr Elisabeth Freundlich, seine zweite Frau, heiratete, die er während seiner Tätigkeit für die Austrian American Review kennen- und lieben gelernt hatte, oder weil seine Mutter, die letzte Verbindung in seine Vorzeit, in diesem Jahr starb, sondern weil er durch Zufall und Glück zum dritten Mal nach 1914 und der Shoah einer Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts entkam, nämlich den atomaren Feuern von Hiroshima und Nagasaki. Er war nicht nur ein aufgesparter Jude für künftige Pogrome geworden, sondern auch ein aufgesparter Mensch für künftige atomare Versuchsanordnungen. Sein Überleben und die Gunst, eines natürlichen Todes sterben zu dürfen, verdankte er letztlich seinem Engagement, das er seit 1945 gegen den Krieg im allgemeinen und gegen den Atomkrieg im speziellen an den Tag gelegt hatte.
Neben den Erfahrungen in der aufstrebenden amerikanischen Medien- und Industriegesellschaft müssen wohl das Jahr 1945 und speziell der 6. August dieses Jahres als die große Wende in Günther Anders‘ Denken gesehen werden. Was die Flucht 1933 nach Frankreich und 1936 in die USA für sein Leben bedeutete, bedeutete der Tag, an dem die erste Atombombe über Hiroshima gezündet wurde, für sein Denken. Der Moment, als er durch sein Überleben zu einem aufgesparten Menschen für die technokratischen Vernichtungsprozesse der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. In diesem Sinne war der Tag von Hiroshima auch der Nullpunkt seines Denkens. Aus meiner Sicht besitzt jeder Mensch einen Nullpunkt, von dem aus sich sein Leben zurückverfolgen läßt. Oftmals sind es zufällige Ereignisse, die den Menschen widerfahren, meist ohne ihr Zutun. Auf diesen Nullpunkt hin, auf dieses Ereignis hin läßt sich das Leben eines Menschen verdichten. Das, was davor war, wird uminterpretiert; das, was danach kommt, wird von diesem Punkt aus erklärt. An diesem Nullpunkt messen sich die Menschen und werden daran gemessen. Andererseits führt einen dieser Nullpunkt als Biograph oft genug in die Irre, weil vieles von den Menschen auf diesen Nullpunkt zugeschnitten rekonstruiert wird und vieles dabei in den Schatten des Denkens fällt. Die Aufgabe eines Biographen könnte auch sein, diesen Nullpunkt zu finden und sich dann auf dessen Seitenwege zu begeben, um auch das zu herausfinden, was in seinem Schatten liegt.
Günther Anders‘ Nullpunkt war der 6. August 1945, als die Crew der Elona Gay über Hiroshima flog: "Ich sehe es noch genau vor mir: Ich saß in New York mit der Familie meiner damaligen Frau am Tisch, da kam die Radionachricht, daß eine Atombombe geworfen sei." (Anders 1987:42) Die amerikanische Crew zündete die erste im Krieg eingesetzte Nuklearwaffe der Geschichte über den Häuptern der Japaner. Als Günther Anders vom Abwurf der Atombombe little boy erfuhr, konnte er nichts anderes denken, als daß der "6. August den Tag Null einer neuen Zeitrechnung darstellte, den Tag, von dem an die Menschheit unevozierbar fähig war, sich selbst auszurotten". (Anders 1987:42)
Wäre das Flugzeug eine deutsche Maschine, der Navigator ein Soldat der deutschen Luftwaffe gewesen und die Bombe über den Köpfen der Bevölkerung von New York gezündet worden, dann hätte dieser Tag Null für Günther Anders den Tod bedeutet. Er hat Glück gehabt. Nach der Shoah war er bereits zum zweiten Mal durch einen Zufall davongekommen. Am 6. August 1945 schloß sich der Kreis um Günther Anders‘ Leben und Denken. Dieser Tag war der zeitliche Nullpunkt seiner Geschichte, gekennzeichnet von einer doppelten Todeserfahrung. Es war nicht nur eine gewöhnliche, antizipierende Todeserfahrung, die er hier durchlebte, also nicht nur die existentielle Gewißheit, sterblich zu sein, die auf eine unmittelbare Gegenwart und in eine ferne Zukunft verwies. Es war vor allem die Erfahrung eines Niedagewesenseins, eines Totseins schon vor der Geburt, und das Ewigkeiten lang, die hier in der Möglichkeit der Auslöschung alles Menschlichen kulminierte. Im Bruchteil einer Sekunde, als der Sprecher die Nachricht verkündete, wurde sein Leben als Ganzes sichtbar, wurde die Spanne zwischen pränataler und postmortaler Unendlichkeit erhellt und das Leben als kurzer Abschnitt zwischen zwei Unendlichkeiten markiert. In diesem einen kurzen Moment hat Günther Anders gelebt, davor war er nicht mehr und danach noch nicht tot. Er befand sich an keinem Ort, nirgends. Wir als aufgeklärte Menschen nennen diesen Zustand in einem pawlowschen Reflex immer noch Leben. Für Günther Anders war in dieser New Yorker Sekunde die letzte aller Epochen angebrochen, die es für ihn von nun an zu analysieren galt, um dieses Leben als letztes Stück Welterfahrung der Menschen zu retten, denn mehr konnte ja nicht bleiben nach dem 6. August 1945, als mit einem Schlag die Greuel der Nationalsozialisten, die potentielle, willentlich herbeigeführte Auslöschung einer ethnischen Gruppe, mit der potentiellen und partiell durchgeführten Auslöschung der Menschheit ineinander flossen.
In diesem Sinne war der Nationalsozialismus das letzte Aufgebot des Menschen zur Vernichtung von Individuen oder einzelnen Kollektiven. Mit Hiroshima beginnt eine neue und letzte Epoche – die atomare. In dieser Epoche ist jeder betroffen, gibt es keine Ausnahme mehr, keine Unterscheidung mehr zwischen zivilen und militärischen Tätern und Opfern; alle müssen sich dem neuen Paradigma stellen, das da lautet: Wir sind alle schon tot, nur wissen wir es noch nicht. Günther Anders hat es gewußt und uns davon erzählt. Es gelang ihm aber, nicht daran zu verzweifeln, sondern nach seiner Rückkehr nach Europa dieses Wissen zu nutzen, um uns weiter aus der Endzeit, aus dem Nirgendort zu unterrichten, uns, die wir dort lebten, als sei nichts geschehen, lediglich eine Bombe mehr aus dem Himmel gefallen. Insofern war Günther Anders eben auch anders. Er erkannte, daß nicht nur eine Bombe mehr gefallen war, sondern die eine, letzte, ultimative Bombe, die die Welt für immer veränderte.
Aber um zu begreifen, wie es Günther Anders gelingen konnte, eine Verbindung zu schaffen zwischen dem, was im Nationalsozialismus geschah, und dem, was die Bombe repräsentierte, bin ich gezwungen, noch einmal ins Gewesene hinabzusteigen, aber diesmal nicht nur in die paläontolgischen Zeiten seiner Vorfahren, sondern auch ins Gewesene seiner Zeitgenossen. Die Wurzeln von Günther Anders‘ Auseinandersetzung mit dem Krieg und der Auslöschung der Menschen durch Kriegssituationen reichen weit in seine Kindheit zurück.
Schon in seinen frühen Kindertagen begann er sich mit seiner Sicht der Dinge im Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Davon zeugen zahlreiche Kriegs- und später Antikriegsgedichte, die von seiner Mutter in den Tagebüchern aufgezeichnet wurden. Zu Beginn waren sie noch vom Heroismus des Krieges geprägt, vom deutschen Willen zum Sieg, durchsetzt vom Patriotismus des Wilhelminischen Deutschland. Im Buch des Vaters William Stern Jugendliches Seelenleben und Krieg aus dem Jahr 1915 findet sich ein Gedicht des zwölfjährigen Günther Anders, das diesen Zug der Zeit spiegelt:
"Drum reist der große Forscher Asien's
Zum Kampfplatz, um dort selbst zu seh'n,
Wie deutsches Heer und deutscher Kaiser
In deutscher Treu' zusammensteh'n.
Wie deutscher Armer, deutscher Reicher,
Deutscher Eifer und Verstand
Für ein'n Gedanken einig sterben,
Für den Gedanken – Vaterland." (W. Stern 1915:54)
Diesen hurrapatriotischen Gedichten folgten nach seinen Erfahrungen als Jugendlicher im Ernteeinsatz in Frankreich ganz andere Gedichte, differenzierte und gegen den Krieg gerichtete. In wenigen Wochen wurde ihm die Grausamkeit des Krieges am eigenen Leib klar gemacht:
"Ich sitze im Walde auf bemoostem Gestein,
Es rührt der Wind die Bäume;
Ich ziehe die Gottesluft in mich ein
Und sitze, geniesse und träume.
Ich höre das Preislied der Nachtigall,
Des lustigen Baches Geriesel,
Des donnernden Wasserfalls mächtigen Schwall,
Sehe Bäume, Tiere und Kiesel.
Doch ein furchtbares Gruseln in mich stieg:
Mich gruselt entsetzlicher Frieden!
Ich rufe mir zu: es ist Krieg, es ist Krieg!
Der Friede ist immer geschieden."
(Tagebuch VIII / Günther / 6.5.1916)
Aus diesem Satz: Es ist Krieg, es ist Krieg! Der Friede ist immer geschieden zog Günther Anders seine Antikriegshaltung und behielt sie für sein künftiges Leben bei. Ich denke, daß dies auch ein wesentlicher Antrieb war, sein Schreiben niemals aufzugeben, immer weiter nach Ursachen und Wirkungen von kriegerischen Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft zu forschen. Er war plötzlich aus der Seelenruhe seiner Kindheit gerissen worden und mitten in den Wahnsinn des Tötens geraten. Er begriff mit einem Mal, daß sich hinter jedem Frieden ein potentieller Krieg verbirgt, eine unmittelbare Bedrohung, was sich beinahe prophetisch ausnimmt, wenn wir es in Zusammenhang mit seinen Texten nach 1945 bringen, wo die Massenvernichtungswaffen als permanente Vernichtungsdrohung jeden Tag über unseren Köpfen und Körpern präsent sind.
Sogar in seinem Antikriegsbuch Visit beautiful Vietnam finden sich bei genauem Hinschauen noch Spuren dieser Einsicht des vierzehnjährigen Günther Stern, wenn er davon schreibt, daß trotz Krieges in Vietnam das Leben der meisten Menschen weiterging, als wäre nichts geschehen, mehr noch, daß Politiker das Verhältnis von Krieg und Frieden verkehrten: "Da stellt sich der außenpolitische Sprecher einer Regierung hin, die vor Jahren aufs gewissenloseste einen Krieg vom Zaun gebrochen hat und dieser von Tag zu Tag so gewissenlos weiter eskaliert, daß er in jedem Moment in einen atomaren Weltkrieg umschlagen könnte – und dieser Mann wagt es, den, während er spricht, tatsächlich wütenden Krieg als Friedensordnung hinzustellen und zu verteidigen." (Anders 1968a:28)
Die Spur, die Günther Anders' Antikriegstheorie durch sein Werk gezogen hat, ist einer der wesentlichen Fäden, die nicht nur sein Leben mit seinem Werk, sondern alle Werke und zahlreiche seiner theoretischen Ansätze miteinander verbindet. Dieser Faden durchzieht nicht nur seine ausgefeilten essayistischen Werke, auch in seinen literarischen Werken taucht diese Theorie der Vernichtung immer wieder auf. 1945, am Schnittpunkt des Endes der Shoah und jener von Günther Anders postulierten Endzeit, die mit dem Beginn des Atomzeitalter eingeläutet wurde, entstand ein Gedicht, das Auskunft über den Daseinszustand gibt, in dem jeder nach 1945 geborene Mensch lebt, nämlich einer Welt anzugehören, in der das Signum des Todes, vor allem des durch technologische Vernichtungsmöglichkeiten herbeigeführten Todes, zur alleinigen Bedingung gesellschaftlicher Beziehungen geworden ist:
"Bin geborn in Buchenwald.
Glaub, ich bin fünf Jahre alt.
Bitte, laßt mich hier!
Hab mir immer vorgestellt,
wo wir sind, da ist die Welt,
und die Welt sind wir.
Wußte zwar so ungefähr,
's gibt noch was, da kommt man her,
doch die Welt sind wir.
Wo man haust, da hängt man halt,
selbst an Tränen und Gewalt,
laßt mich hier in Buchenwald,
bitte, laßt mich hier!" (Anders 1985j:362)
Für die Kinder von Hiroshima und die Kinder von heute gilt dasselbe wie für jene in Buchenwald geborenen: Es kann keine andere Welt mehr geben als die Welt der atomaren Bedrohung und der potentiellen Auslöschung aller Menschen durch den Menschen.
Nach der Shoah und vor allem nach Hiroshima wird seine persönliche Betroffenheit, die ihn zum Antikriegsaktivisten werden ließ, aus seiner individuellen Befindlichkeit gelöst und zu einer philosophischen Anschauung verarbeitet, die auf das überindividuelle, auf das anthropologische, auf das alle Menschen einende Gefühl, von der Vernichtung betroffen zu sein, verweist. Es ging Günther Anders längst nicht mehr um die Vernichtung von Individuen, sondern von Seiendem als Ganzes. Doch was ist dieses Ganze? Immer wenn ich versuchte, Günther Anders‘ Werk in den Blick zu nehmen, den roten Faden aufzudröseln, wurde ich unsicher, ob es gelingen könne, seinen Texten in der Analyse gerecht zu werden. Günther Anders‘ Werk in seiner Gesamtheit zu erfassen ist schwierig, denn es ist nicht nur dicht im Text, präzise in der Aussage, sondern auch unglaublich vielschichtig in seinen Inhalten.
Einer seiner Schlüsseltexte ist Die Toten. Rede über die drei Weltkriege. In ihm zeigte er nach der Aufgabe der akademischen Philosophie in den dreißiger Jahren am deutlichsten, was ihn umtrieb, nämlich "daß, wie verändert die heutige Welt auch aussehen mag, und wie unerhört neu die heutigen Schlagworte auch klingen mögen, Kriege von nun an ausnahmslos gleicher Natur sein werden wie der Hitler-Krieg; nein, sogar schlimmer und gewissenloser als dieser. Das ist deshalb der Fall, weil jeder nunmehr automatisch in einen Krieg ausarten würde, der zwischen Militär und Zivil keinen Unterschied mehr machen würde; in einen Krieg, der als maschinelle Produktion von Leichen, also als ein Liquidationskrieg, vor sich gehen würde; und sogar in einen Krieg, der die ganze Menschheit liquidieren könnte. Und das bedeutet, daß es heute kein Kriegsziel mehr gibt, das im universellen Untergange nicht mit-untergehen würde; und daß es kein Kriegsziel mehr geben kann, das als Kriegsgrund gerechtfertigt werden könnte." (Anders 1982c:365)
Günther Anders war ein radikaler Antikriegsaktivist. Es ging ihm nicht nur um den Kampf gegen die Atombombe, das war ja nur der letzte und ultimative Ausdruck einer möglichen Existenzauslöschung. Nein, sein Denken kreiste um den Krieg an sich, um den Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, immer bessere Bomben und Vernichtungsinstrumente zu bauen, und der Notwendigkeit, diese auch irgendwann einsetzen zu müssen, also zu vernichten, um den Kreislauf der Erzeugung von Produkten in Gang zu halten. Günther Anders auf einen Theoretiker des Atomzeitalters zu reduzieren hieße, ihn jener inhaltlichen Kraft zu berauben, mit der auch nicht-atomare Kriege theoretisch verstehbar und politisch bekämpfbar werden.
Er selbst argumentierte seinen Antrieb, über den Krieg zu schreiben, über die Zusammenhänge, die heute Kriege entstehen lassen, wie folgt: "Wenn ich also das politische Weltbild, das sich uns zur Zeit der Niederschrift der Rede [über die Toten] darbot, wieder vor Augen führe, so nicht etwa deshalb, weil ich es noch für aktuell hielte, oder weil ich stehengeblieben wäre – stehen zu bleiben fällt mir Achtzigjährigem ungleich schwerer, als mich auf dem Laufenden zu halten oder Andere in Trab zu setzen –, sondern einfach deshalb, weil wir, namentlich die Jüngeren unter uns, die das Vorgestern noch nicht miterlebt hatten, das Heute ohne dessen Kenntnis nicht werden verstehen können." (Anders 1982b:XXVII) Er sah es also als seine Pflicht an, immer wieder nicht nur an das schrecklich Gewesene (Hiroshima), sondern vor allem an das möglich Kommende zu erinnern. Die Möglichkeit der Wiederholung des einmal Ereigneten war das, was ihn in Schrecken versetzte, denn "ein paar Tage später dämmerte es mir, daß die Furchtbarkeit unserer Situation: nämlich die Möglichkeit, nein: die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung von Hiroshima und Nagasaki gerade auf dieser Diskrepanz zwischen unserer Vorstellungs- und unserer Herstellungskapazität beruhte." (Anders 1982b:XII)
Und diese Diskrepanz ist auch dafür verantwortlich, daß wir immer in neue kriegerische Konflikte hineinschlittern. Das, was Günther Anders an den Fallstudien Auchwitz, Hiroshima und Vietnam skizzierte, gilt genauso für Kriege aller Art heute. In seinen Fallstudien identifizierte er zwei Gründe, warum es dem einzelnen unmöglich scheint, den Kreislauf der Kriegsproduktion (aktiv im Kriegseinsatz, passiv in der Erzeugung von Kriegsmaterialien und Vorbereitung von Kriegseinsätzen) zu durchbrechen.
Erstens ist es uns unmöglich, all die Toten, die wir bereits produziert haben, die also bereits gestorben sind, deren es im zwanzigsten Jahrhundert hundete Millionen gab, vorzustellen. Das macht uns unfähig zur Trauer, wie sie für unsere Vorfahren selbstverständlich gewesen ist: "Welch beschämende Lage! Da leben wir nun tagein, tagaus über den Gräbern dieser Millionen (und damit meine ich nicht etwa Einzelgräber – wem hätten die schon zugestanden? – oder auch nur Massengräber hier oder da – denn selbst die waren ja noch eine Vergünstigung – vielmehr meine ich den einen großen Friedhof, den unsere Erde darstellt, den einen großen Friedhof, der von Meter zu Meter und von Land zu Land angefüllt ist mit den Gebeinen von gestern und vorgestern) – da treiben wir uns nun täglich auf diesem Friedhof herum, da arbeiten wir über ihm, da produzieren wir über ihm neue Waffen, da amüsieren wir uns über ihm, da schlafen wir über ihm – und selbst in einem solchen Augenblick wie diesem, da wir uns wirklich dazu bereit gemacht haben, dieser Toten zu gedenken, da müssen wir feststellen, voll Schrecken und Beschämung, daß wir unzulänglich bleiben; daß wir dem Enormen, das wir zu betrauern wünschen, nicht gewachsen sind, daß wir als Trauernde versagen." (Anders 1982c:366)
Zweitens macht es unsere kapitalistische Produktionsweise notwendig, immer neue Produkte zu erfinden, damit die vorhergehenden ersetzt werden können zur Erhaltung des Kreislaufes von Produktion und Absatz, und somit zur Mehrwertgewinnung. Der Kreislauf von Waffenproduktion und Waffendestruktion (also ihrem Einsatz in Kriegen) ist notwendige Voraussetzung unserer Lebensweise, vor allem weil die Kriegsindustrie einen wesentlichen Teil unseres Wohlstandes mitbegründet. Daraus resultiert die Notwendigkeit, sich die von den massenhaft hergestellten Waffen in Zukunft vernichteten Menschen vorzustellen und sie sozusagen im voraus, also antizipatorisch zu betrauern, denn nur so wäre es möglich, auch tatsächlich einen Antrieb zu entwickeln, die Waffenproduktion stoppen zu wollen, vor allem wenn es um Massenvernichtungswaffen wie die Atombombe geht, denn beim Einsatz einer derartigen Waffe wäre jeder von uns ein "morituri", ein künftiger Toter. Nur wir selbst, "die heutigen Bewohner unserer Erde", sind in der Lage, dies zu leisten. "Denn wir drei Milliarden sind ja ‚morituri‘. Das heißt: daß wir, die drei Milliarden Erdbewohner, die Toten und die Ermordeten von morgen sein werden, es sei denn, daß es uns gelingt, der Bedrohung rechtzeitig Einhalt zu gebieten. ‚Und auch die sollen wir heute schon betrauern?‘ werden Sie fragen. – Ja, auch die. Heute oder niemals. Später würde niemand mehr da sein, der dieses Gedenken übernehmen könnte; niemand, der auch nur versuchen könnte, unser so zu gedenken, wie wir es heute versuchen, der Toten des letzten Weltkrieges zu gedenken. Wo es überhaupt nichts mehr geben wird, da wird es auch Hinterbliebene nicht mehr geben, Tote und Totenkläger werden ununterscheidbar nebeneinander liegen. Und aus diesem Grunde müssen wir das Gedenken heute schon leisten; müssen wir es leisten, so, als wären wir unsere eigenen Hinterbliebenen. Mindestens versuchen müssen wir das. Auch wenn wir dabei ebenso versagen, wie bei unserem Versuche, der Millionen der beiden letzten Weltkriege zu gedenken." (Anders 1982c:366-367)
Günther Anders forderte in seinem Text Die Toten, Rede über die drei Weltkriege nichts weniger, als den Versuch zu unternehmen, sich den Ermordeten emotional zu nähern, nicht allen auf einmal, aber zumindest einem bereits Ermordeten oder einem Künftigen. Und er fordert noch mehr, nämlich jemanden zu betrauern, "der nicht zu seinen persönlichen Toten gehört". Denn nur wenn jeder "eines Gewesenen oder eines Künftigen" gedenkt, scheint es ihm möglich, daß "die Summe unseres Gedenkens und unserer Trauer dem nahekommen wird, was wir eigentlich betrauern müßten. Und vielleicht, daß wir aus diesem Gedenken die Kraft zu dem Entschluß gewinnen können, durchzusetzen, daß, die wir heute im voraus beklagen, doch weiterleben, daß also das Furchtbare nicht geschehe." (Anders 1982c:394) Diese Forderung nach direkter Anteilnahme mit entfernten Toten, räumlich wie emotional, macht ihn zum exzeptionellen Antikriegsaktivisten seiner Zeit, zu einer herausragenden Leitfigur der Antiatom- und Friedensbewegung. Günther Anders war nicht der einzige Antikriegsaktivist, der sich mit dem Krieg auseinandersetzte, er war aber in seiner Radikalität und Ablehnung des Krieges nicht nur emotional, also politisch, sondern auch theoretisch radikal. Er nahm die Trauer über die anderen, die nach ihm kommen würden, für sich selbst vorweg, indem er unablässig über sie schrieb. Ob es sich nun um die Toten in konventionellen oder atomaren Kriegen handelte, war ihm dabei nicht vorrangig.
Zeit seines Lebens kreiste sein Denken also um die Frage der Vernichtung. Anfangs in seinen Kindergedichten, dann in seinem philosophischen Text von der Weltfremdheit des Menschen, später in seinen politischen Texten über den Nationalsozialismus, Hiroshima, Vietnam, und schließlich in seinen Texten über die Ausbreitung und Gewalt einer technologischen Zivilisation. Sehe ich mir die Publikationszeitpunkte der Bücher zu diesen Themen und zur Frage der in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellten Toten an, zeigt sich, daß sie alle im Zeitraum von etwa zwölf Jahren, zwischen 1958 und 1970, entstanden sind. Sie schließen sozusagen die Lücke zwischen der Antiquiertheit Band I und II: Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki (1959), Off limits für das Gewissen (1961), Wir Eichmannsöhne (1964), Die Toten, Rede über die drei Kriege (1965), Besuch im Hades (1966), Visit beautiful Vietnam (1968), Der Blick vom Mond (1970) und als Nachzügler Nach 'Holocaust' (1979) .
Günther Anders befand sich also, spätestens nachdem er sich in Wien häuslich eingerichtet hatte, im Maschinenraum des Krieges des Menschen gegen den Menschen. Vielleicht erklärt sich daraus auch, warum er für und auf manche Zeitgenossen so unwirsch und ungenießbar wirkte. Warum er immer als schwierig galt. Wen wundert es, daß ein Mensch, der entdeckte, daß es zwischen Auschwitz, Hiroshima und Vietnam und schließlich auch den Mondflügen Gemeinsamkeiten gab, nicht unbedingt zur Fröhlichkeit neigte: "Das unglaublichste Beispiel ist die Tatsache, daß die Charta des ‚Internationalen Militärtribunals‘ in Nürnberg, dasjenige Dokument also, in dem der Begriff ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ zum erstenmal juridisch kodifiziert, und die Verantwortlichkeit und Strafwürdigkeit der an derartigen Verbrechen beteiligten Individuen zum erstenmal festgelegt wurde – daß dieses Dokument das Datum des 8. August 1945 trägt." Die Ächtung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde also beschlossen zwei Tage nach Hiroshima und einen Tag vor Nagasaki, also zu einem Zeitpunkt, als die Amerikaner genau jenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübten, dessen sie nie angeklagt wurden: "Kein Datum der Weltgeschichte ist abenteuerlicher. Und wohl keine Tatsache tiefer deprimierend als die, daß es unter den Milliarden von Zeitgenossen, die von den zwei Fakten: Nürnberg und Atombombe gehört haben, keinen einzigen gegeben hat, dem deren Koinzidenz in die Augen gesprungen wäre." (Anders 1968a:117-118)
Für ihn war die Hölle von Auschwitz und Hiroshima allgegenwärtig geblieben und wiederholte sich in Vietnam. Während andere sich bereits im Frieden befanden, war er noch im Krieg, hielt er sich noch bei den vergangenen, den gegenwärtigen und den künftigen Toten auf. Günther Anders war gerade, weil er sich im Maschinenraum des Krieges befand und sich weigerte, die andauernde Hölle zu verlassen, in der Lage, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der drei Schauplätze herauszuarbeiten. Auf den ersten Blick scheint es so, als hätten diese drei Kriege nichts miteinander zu tun, außer vielleicht das oberflächliche Detail, daß Hiroshima dazu beitrug, den Krieg im Südpazifik zu beenden und so Opfer zu sparen. Was für ein Zynismus, die japanischen Zivilisten, die durch die Bombe starben, gegen die geretteten Soldaten, die so am Leben bleiben durften, aufzurechnen. Diesen Zynismus, der nach Günther Anders der modernen Kriegsführung immer innewohnt, nämlich Kriege damit zu legitimieren, mehr Opfer zu verhindern, lehnte er radikal ab und hielt dem eine rigorose und klare Stellungnahme entgegen: "Vielmehr haben wir unzweideutig immer wieder zu betonen: Das eigentliche Verbrechen besteht nicht darin, daß diese Waffe statt jener verwendet wird, sondern darin, das Waffen verwendet werden; nicht darin, daß dieses Haus statt jenes Hauses zerstört wird, sondern darin, daß Häuser zerstört werden; und nicht darin, daß dieser Mensch statt jenes Menschen liquidiert wird, sondern darin, daß Menschen liquidiert werden. Die Verbrechen, auf die man gewöhnlich den Finger legt, sind lediglich ‚Verbrechen zweiten Ranges‘, Verbrechen innerhalb des sehr viel größeren Verbrechens, das der Angriffskrieg als solcher darstellt. Crimes within a crime." (Anders 1968a:30)
Auf einen zweiten Blick, auf den durch Günther Anders' Texte gefilterten, enthüllt sich jedoch, daß die drei Kriege nicht nur viele Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern auch exemplarisch sind und Vorbildcharakter für heutige Kriege darstellen. Speziell über den Vietnamkrieg schrieb Günther Anders, daß er gerade für die Amerikaner der Testfall für alle weiteren Kriege sein würde und deshalb als exemplarisch herangezogen werden kann, um die Wirkungsweise aller Kriege nach Auschwitz und Hiroshima zu zeigen. Vielleicht werden ja deshalb auch immer wieder Rückgriffe auf den Vietnamkrieg gemacht, um kriegerische Phänomene von heute zu erklären: "Und damit sind wir wieder beim Vietnamkrieg. Denn dieser gilt ja, sogar amtlich […], als ein bloßer ‚test ‘. Obwohl er in den Augen vieler Millionen wie ein entsetzlicher wirklicher Krieg aussehen mag […], ist er in Wahrheit nur ein ‚dress rehearsal‘, nur ein Manöver, das die amerikanische Regierung durchspielt, um im Ernstfalle […] über ausreichende Erfahrungen zu verfügen und um zu wissen, wie sie dann vorzugehen habe. Verglichen mit den dort [China, Südamerika] zu erwartenden, oder vielleicht auch für dort geplanten, Konflagrationen ist der Vietnamkrieg nur ‚Vorbild ‘." (Anders 1968a:46)
Und in gewisser Weise war ja der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki auch nur ein Test, nämlich um die Wirkungsweise der Bombe im freien Gelände zu erproben. All diese kleinen, scheinbar oberflächlichen Gemeinsamkeiten konnte Günther Anders aber nur dadurch offensichtlich machen, indem er, wie schon sein Vater und seine Mutter, durch teilnehmende Beobachtungen zu seinen Erkenntnissen vordrang. Er blieb nicht einfach zu Hause in Wien sitzen und begnügte sich mit Zeitungsberichten, Fernsehnachrichten oder Radiofeatures zu diesem Thema. Nein, er reiste zu den Opfern, er suchte die Orte des Verbrechens physisch auf und weigerte sich gleichzeitig, das Gewesene als vergangen, als abgeschlossen und damit als Einzelereignis in sich selbst eingeschlossen und so dem Vergessen preisgegeben zu betrachten. Seine Reisen in die amerikanisch-japanische Hölle 1959 (Hiroshima und Nagasaki) und in die Katakomben des Nationalsozialismus 1966 (Auschwitz, Breslau) machten es ihm möglich, zu erkennen, daß dort, wo die Vernichtung stattgefunden hatte, die Welt noch immer da war, von der die Kinder in Buchenwald sprachen: Wo wir sind, da ist die Welt, und Vietnam hat ihm bewiesen, daß diese Welt auch 1968 noch immer da war und vielleicht bis in alle Ewigkeit dasein werde, denn der Friede ist ja immer geschieden. Und das alles mit eigenen Augen zu sehen bedeutete, zu erkennen, daß Auschwitz und Hiroshima die Abwesenheit eines Gottes bezeugten, daß Europa seinen Kulminationspunkt in der Abwesenheit von Menschlichkeit, in seiner kolonialen Expansion, seinen Nationalismen, seinem Rassimus und seinem Industriekapitalismus gefunden hatte. Und der Abstieg ins Gewesene, in den Hades von Breslau, in die in Schutt und Asche gelegten Hinterhöfe seiner Kindheit, wo der Nußbaum nur noch eine Erinnerung war, nicht mehr physisch erlebbar, bestärkte ihn darin, daß der ewige Krieg nun tatsächlich begonnen habe, die letzte Epoche aller Epochen:
"Im Hinterhof meiner Kindheit schwebt
Ganz wurzellos ein Nussbaum.
Das ist alles, was ich noch weiss.
Und schattenhaft die Stufe
Vom Korridor zum Zimmer. – Aber wie
die Lampe hing, auf welchem Tapetenmuster
die Sonne spielte, und in welcher Strasse
das Haus zuhause war, durch welches Viertel
die Straße lief, an welchem Fluss die Stadt,
in welcher Zeit das Land gelegen hatte –
ach, nur der Nussbaum blieb, ganz wurzellos,
und schattenhaft im Korridor die Stufe."
(Günther Anders Nachlaß / LIT)
Günther Anders hatte sich also Zeit seines Lebens mit Vernichtungsprozessen beschäftigt, um genau dieses Verblassen der Ereignisse zu verhindern. Als Exilant und Vertriebener kämpfte er gegen das Vergessen, um sich selbst in Erinnerung zu rufen. Daß es ihm trotzdem nicht gelungen ist, all das bisher Gesagte in einem stringent durchargumentierten Buch darzulegen, lag vielleicht auch daran, daß die Ereignisse für ihn ebenso wie für seine Zeitgenossen in so rascher Abfolge stattfanden und lediglich als Einzelereignisse bearbeitet werden konnten, die sich nur in der Rückschau als Ganzes präsentierten: "Als Stücke eines philosophischen Systems habe ich meine diversen Arbeiten also nicht geplant. Damit ist freilich nicht gemeint, daß sie sich mit total disparaten Themen befassen. Vielmehr stehen sie […] durchaus in systematischem Zusammenhang. Aber wenn das der Fall ist, so, wie gesagt, nicht deshalb, weil ihre Gegensätze zusammen ein prästabiliert harmonisches Ganzes bildeten, das von mir nun abgebildet würde, sondern allein aus dem negativ systematischen Grunde, weil die Bedrohungen und die Gefahren, mit denen sich meine Einzeluntersuchungen befassen, Teile und Varianten eines einzigen Zusammenbruches sind". (Anders 1970:16) In seinem Werk läßt sich also ein theoretisches Muster finden, eine Art Kulturtheorie der Vernichtungsprozesse des zwanzigsten Jahrhunderts. Günther Anders‘ Bücher legen beim Lesen vier Kategorien nahe, mit denen sich eine derartige Kulturtheorie betreiben ließe und Kriege systematisch erkärbar machen würden: Verortung, Personalisierung, Kollektivierung und Technisierung.
Diese Kategorisierung läßt sich aber auch in jenen Büchern finden, die sich nicht unmittelbar mit den Themen Krieg, Vernichtung oder Auslöschung beschäftigen. Nehmen wir nur die Molussische Katakombe. In Molussien gibt es einen Ort: die Katakombe. Es gibt zwei Personen: Olo und Yegussa; es gibt ein Kollektiv: die Meldereiter. Letztlich fehlt nur das technologische Element. Das liegt wohl auch daran, daß das Buch 1932 geschrieben wurde, also vor Günther Anders‘ Auseinandersetzung mit technologischen Prozessen, in der voratomaren Zeit, als Günther Anders noch ein verwunderter Existenzialist war, der Nationalsozialismus gerade dabei war, seine Schreckensherrschaft anzutreten. Es ist ein Buch über den politischen Totalitarismus, nicht über den technologischen. Günther Anders hat sich wohl selbst als Meldereiter gesehen, als jemanden, der in der molussischen Katakombe saß und über ein selbst erlebtes System schrieb. Nur hatte er kein Gegenüber, er war auf sich selbst angewiesen, deshalb vielleicht auch die vielen Tagebücher und Monologe, die die Basis all seiner Bücher bildeten.
Nun zu den Kategorien im einzelnen. Verortung meint hier, daß jedem Vernichtungsprozeß, den Günther Anders analysiert, vor allem ein bestimmter Ort zugeschrieben wird, also eine geographische Bedeutung in der Welt zukommt: Krieg hat immer einen Ort: Auschwitz, Hiroshima und Vietnam, später dann Tschernobyl. Der Ort ist immer das Wesentliche, zumindest für Menschen, die noch eine Welt haben. Wo das Grauen des Krieges stattfindet, ist der Ort, wo Menschen sterben, getötet, gedemütigt werden. Dieser Ort mußte von Günther Anders immer genau benannt werden, ehe er sich an dessen Analyse machte. Diese Ortsbezeichnungen sind auch in all seinen Büchern vorhanden: Der Blick vom Turm, Hiroshima ist überall, Visit beautiful Vietnam, Der Blick vom Mond. Konsequenterweise fehlen Ortsbezeichnungen in jenen Büchern, in denen es nicht um den Krieg geht: Die Antiquiertheit des Menschen, Ketzereien, Mariechen. Natürlich war es für einen Menschen wie Günther Anders, der immer unterwegs war, immer fremd und heimatlos, nicht behaust, wichtig, Orte zu benennen. So wichtig ein Ort an sich auch sein mag, ist er neben der geographischen Bedeutung auch mit einem hohem Symbolwert aufgeladen, nur dadurch läßt sich das Grauen auch erden.
Suchen wir nun die vier wesentlichsten Orte beziehungsweise geographischen Zonen auf, die Günther Anders benannte, die er explizit aufsuchte, denen er sich widmete, weil die Welt sie ihm als Kriegsschauplätze aufzwang: Auschwitz, Hiroshima, Vietnam und Tschernobyl. Mit diesen vier Orten sind die wichtigsten Stationen genannt, die exemplarisch den theoretischen Übergang von Mensch ohne Welt zu Welt ohne Mensch markieren. In Auschwitz, Buchenwald, Mauthausen und all den Konzentrationslagern des Hitlerregimes lebte der Mensch ganz bei sich, war die Welt dort, wo die Opfer waren. Sie hatten nur noch den Ort, keine Persönlichkeit mehr, waren nur im Sinne des Vernichtetwerdens ein Kollektiv und damit Teil des technologischen Systems. Dort wurde einzeln gestorben, wenn auch nebeneinander und miteinander. Das Wir ist nur ein rhetorisches, wie die Fabel Wer zuletzt brennt aus dem Jahr 1969 zeigt:
Die zur Verbrennung angetretenen Häftlinge sind nach der Reihenfolge ihrer eintätowierten Ziffern verbrannt worden. Nun versuchte einer die Reihe zu verlassen, um nach vorne zu stürmen, um früher verbrannt zu werden, um der Kälte zu entgehen, doch es mißlang, er "musste […] auf allen Vieren durch den Schnee zurückkriechen, und nicht etwa nur zurück auf seinen alten ihm zustehnden Platz, der durchaus nicht der allerschlechteste gewesen war, sondern unter dem Hohngeschrei der mit dem Buchstaben Z Beginnenden auf den allerletzten Platz überhaupt". (Anders 2004:286)
Die Vernichtung hatte in Auschwitz noch einen Ort: die Warteschlange vor den Brennöfen. Es gab, zumindest aus der Sicht der Täter, einen Grund für diese Hölle, in die die Menschen dort geraten waren. Sie hätten es vorausahnen können, weil sie genug Zeit dafür hatten, Informationen zu sammeln. Der Mensch starb sozusagen informiert, wissend. Seine jüdische Herkunft, seine politische Überzeugung, seine besondere Lebensweise oder seine medizinische Minderwertigkeit machten ihn zum Opfer. Es gab voraussagbare, gesellschaftliche Parameter, die sich das Opfer ausrechnen konnte. Die Vernichtung war kalkulierbar, und es gab bis zur Vernichtung eine Wartezeit, die es dem Opfer erlaubte, seinen Tod kommen zu sehen. Es gab immer noch Schlupflöcher, um der Hölle zu entkommen. Das Töten war bürokratisiert, und gestorben wurde nach Plan. Wenn der Transporter zu Hause vorfuhr, um die Menschen abzuholen, wurde ein langwieriger, langwährender Prozeß des Tötens in Gang gebracht. Die Auslöschung des Menschen war sozusagen beschlossen, aber noch nicht vollzogen. Selbst im Angesicht von Auschwitz hätte es für manche noch Hoffnung auf ein Überleben gegeben, wie Viktor Frankl, ein anderer Österreicher, behauptete.
Der zweite Ort, dem sich Günther Anders in seinen Schriften widmete, war Hiroshima. Vorerst versagte nach dem Abwurf der Atombombe am 6. August 1945 sein Denken und sein Schreiben. Das, was seine Existenz ausmachte, sein Leben, kam ihm abhanden, er starb sozusagen einen kleinen intellektuellen Tod. Er mußte sich an diese Endzeit, in die er nun persönlich geraten war, erst gewöhnen. Er mußte die Helligkeit des Todesblitzes abklingen lassen, bis er ihn philosophisch erkennen konnte. Für ihn war mit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki eine neue Qualität in die Welt getreten. Das Neue und sich von Auschwitz (als Symbol für ein bestimmtes Vernichtungssystem, ich könnte auch Buchenwald, Treblinka, Mauthausen oder andere nehmen) Unterscheidende besteht in einigen wesentlichen Punkten. Und wenn ich besteht schreibe, meine ich, daß sich seit damals nichts Entscheidendes geändert hat:
Wer den Blitz sieht, ist schon tot.
Der Ort der Detonation ist nicht gleich dem Ort der Vernichtung.
Die Opfer können ihren Tod nicht kalkulieren.
Der Akt der Tötung ist individuell, das Sterben kollektiv.
Der Mensch ist einmontiert.
Es gibt keinen Mehrwert der Vernichtung.
Der atomare Erstschlag ist wiederholbar, jederzeit, überall.
Wer den Blitz sieht, ist schon tot.
Die Zeitdifferenz zwischen dem Zünden der Bombe und dem Sterben der Menschen wird aufgehoben. In Auschwitz wäre derselbe Vorgang dadurch gegeben, daß mit dem Zufallen des Tores nach Eintritt in das Lager der Tode bereits miteingetreten wäre. Dies galt für die meisten Menschen, die ein Vernichtungslager betreten hatten, aber eben nicht für alle. Es gab in all dieser Hölle eben doch noch Hoffnung. Im Falle der Atombombe schließt sich das Tor, und damit tritt der Tod mit ein. Entkommen ist nicht mehr möglich, da der Feuersturm und die darauffolgenden Strahlendosen den Menschen in jedem Fall erreichen. Es gibt keine Hoffnung mehr. Sehen und Sterben fallen also in eins. In Auschwitz fallen die Sequenzen: Erkennen eines Kriegszustandes, Realisierung des Kriegszieles und Todeszeitpunkt auseinander. In Hiroshima passiert für die Opfer alles zeitgleich: die Kriegserklärung, die Realisierung des Kriegszieles und ihr individuelles Vernichtetwerden als städtisches Kollektiv. Da gibt es keine langen Bahnfahrten mehr durch halb Europa, keine Verhöre, keine Folter, keine individualisierten Todesurteile. Beginn und Ende des Krieges finden zur selben Zeit statt.
Der Ort der Detonation ist nicht gleich dem Ort der Vernichtung.
Hinzu kommt, daß der Ort der Vernichtung beliebig ist. Überall und jederzeit kann der Mensch von einer Bombe oder ihrem radioaktiven fall-out getroffen werden. Natürlich wurden in Hiroshima, schließlich war es ein Testabwurf, geographische Bedingungen miteinbezogen, die es ermöglichten, den Feuersturm genau zu beobachten und die Daten nachher nutzen zu können. Wäre es nicht ein live-event zu Tötungszwecken gewesen, hätte es auch irgendeine andere Stadt gewesen sein können. Was nun die Differenz zwischen Detonation und Vernichtung betrifft, so finden sich hier zweierlei Aspekte: Der eine besteht darin, daß die Bombe in einer gewissen Höhe gezündet wird, und der zweite, daß die Menschen auch noch in hundert Kilometer Entfernung an den Folgen des Abwurfes sterben, "denn die Hauptleistung unseres Zeitalters besteht ja eben darin, daß es den Begriff der ‚Ferne‘, nein nicht nur den Begriff, sondern die Ferne selbst, annulliert hat. Nicht nur Zeitgenossen sind wir heute, sondern Raumgenossen. […] Wir aber: jedes Individuum und jedes Land, leben als Raum- und Zeitgenossen in der mörderischen Nachbarschaft jedes anderen Individuums und jedes anderen Landes; und jeder morgige Tag lebt in der mörderischen Nachbarschaft jedes jeweils heutigen Tages". (Anders 1982a:4) Getötet wird also zeitgleich, aber fernörtlich.
Die Opfer können ihren Tod nicht kalkulieren.
Der Tod trifft sie unvermittelt. Ihr Tod ist ihnen nicht einsichtig, da der Grund, warum sie an diesem Tag, in jener Stadt sterben, auf strategischen, und nicht auf ideologischen Umständen beruht. Für die Täter in den Kommandozentralen ist eine Stadt so gut wie die andere, denn es geht um Demonstration, um Einschüchterung. Es geht nicht mehr um die Realisierung eines Kriegszieles. Mag sein, daß es für die Täter einen einsichtigen Grund, ein mögliches Kriegsziel geben kann, die Unterwerfung einer bestimmten Bevölkerung kann es nicht mehr sein, denn die modernen Vernichtungskriege, die sich in Auschwitz und Hiroshima abspielten, waren Vernichtunsgkriege, nicht Unterwerfungs- oder Eroberungsfeldzüge. Während es auf Auschwitz noch teilweise zutrifft, in seinen großen Kriegszielen – Besetzung Rußlands, Eroberung der Weltherrschaft –, fehlt Hiroshima ein solches nationales, ideologisches Ziel.
Der Akt der Tötung ist individuell, das Sterben kollektiv.
Hiroshima kennzeichnet den Übergang vom individuellen zum kollektiven Sterben. In Auschwitz wird zwar in Ansätzen kollektiv gestorben, doch letztlich bleibt jeder für sich, jeder ist zählbar, jeder wird aufgezeichnet, das Töten ist bürokratisiert. In Hiroshima sterben alle gleichzeitig, und mit ihnen auch die Zeugnisse ihres ehemaligen Lebens: ihre Koffer, ihre Brillen, ihre Wohnungen und Häuser. All das gibt es vor der Folie von Auschwitz noch, auch wenn die Wohnungen von den Tätern und Mitläufern bewohnt werden, der Hausrat verkauft oder angeeignet wird, es ist alles noch da. In Hiroshima verschwindet mit den Menschen auch alles, was von ihnen Zeugnis ablegen hätte können, die Dinge, die sie umgaben, gehen im Feuersturm unter. Sie verschwinden als Kollektiv, nicht nur als Individuen. Im Gegenzug wird der Akt des Tötens immer individueller. Um die Auslöschung einer Stadt zu bewerkstelligen, braucht ein eizelner oder ein kleine Gruppe von Menschen nur ein wenig Geld, gute Kontakte zum globalisierten Waffenmarkt und ein wenig technisches know-how. Was wäre passiert, wenn sich an Bord eines der Flugzeuge, die das World Trade Center in New York angegriffen haben, eine Atombombe befunden hätte?
Der Mensch ist einmontiert.
Im Gegensatz zu Auschwitz ist der Mensch, was Hiroshima betrifft, nicht nur gleichgeschaltet, also Teil eines sozialen Netzwerkes, mit industriellen und technologischen Mitteln ausgestattet, sondern Teil eines technischen Netzwerkes mit sozialen Versatzstücken, wo er als Bedienungspersonal der Maschinen die Vernichtung indirekt mitbetreibt. Er ist als Auslöser der Vernichtung nicht nur allmächtig, sondern auch ersetzbar geworden. Jeder oder jede kann die Detonation auslösen. Es geht diesem Prozeß kein Training mehr voraus, weil die Entfernung und der Bezug zum Töten durch die Maschine nicht mehr unmittelbar erfolgt. Als solches ist sein Handeln kein Tun mehr, sondern ein Mit-Tun, ein Mit-Machen. Aber nicht mehr im Sinne eines Mitläufers, das würde ja einen willentlichen Akt einschließen, sondern eines mitfunktionierenden Teils der Vernichtung. Sollte er nicht auf den Knopf drücken, gibt es ein Sicherungssystem, in dem es ein anderer für ihn tut oder irgendwann eine Maschine dies erledigt. Autopiloten und automatisierte Vorgänge haben seit 1945 viele Mitmachmöglichkeiten wegrationalisiert. In Ausschwitz war die Hölle noch von Menschen gemacht und betrieben. In Hiroshima hat die Maschine bereits einen Gutteil der Arbeit übernommen. Heute ist ohne Maschinen ein qualitativ hochwertiger Krieg, was heißt, möglichst wenige zivile Opfer zu erzeugen, gar nicht mehr zu führen, denn davon hängt mittlerweile die Imagewirksamkeit einer kriegerischen Handlung von Industrienationen, vor allem der Amerikaner und Europäer, ab.
Es gibt keinen Mehrwert der Vernichtung.
In Auschwitz wurden Menschen industriell verwertet. Die in ihrem Eigentum befindlichen Produkte – Brillen, Koffer, Häuser, Kleidung, Kapital – konnten genutzt werden, um den Nationalsozialismus ökonomisch und ideologisch zu stärken. Es gab eine Art Recyclingsystem für menschliche Überreste. In Hiroshima ist all dies nicht mehr von Bedeutung, weil hier auch jene Produkte vernichtet werden, die Mehrwert erzeugen könnten. In jenen Vernichtungslagern, die nicht dem Ziel der sofortigen Verbrennung und Vergasung von Menschen dienten, wurden darüber hinaus die dem Tod Geweihten zur Zwangsarbeit verpflichtet. Sie wurden also als Sklaven zur Mehrwertproduktion herangezogen. Auch diese kapitalistische Logik fehlt in Hiroshima. In Hiroshima ist die Ökonomie keine Kategorie der Vernichtung mehr. Es ist die pure Auslöschung alles Menschlichen durch ein technokratisches System. Ökonomie ist kein Kriegsziel mehr. Das allerdings hat sich inzwischen geändert. Als die Amerikaner nach dem Atombombenabwurf erkannt hatten, daß alles zerstört wird, begannen sie, die Neutronenbombe beziehungsweise kleine handliche Atombomben zu entwickeln, die entweder die Dinge verschonen und nur die Menschen vernichten oder im anderen Falle so wenig Raum wie möglich verstrahlen. So wird die soziale Hölle Auschwitz in der postatomaren Zeit erneut aufgenommen und der technologischen Hölle Hiroshima beigefügt. Plötzlich scheint ein atomarer Krieg auch wieder führbar, weil gewinnbar. Die Hölle sind immer wir selbst.
Der atomare Erstschlag ist wiederholbar, jederzeit, überall.
Er ist nicht an ein bestimmtes ideologisches oder politisches System gebunden. Er ist ahistorisch. Auch in dieser Hinsicht sind wir in einer Endzeit angekommen. Während Auschwitz ein ausgeklügeltes industrielles Vernichtungssystem repräsentierte, eine Ideologie bedingte, ist die Planung, der Bau und der Abwurf einer Atombombe mit ganz wenigen Menschen möglich und kann von diesen jederzeit durchgeführt werden. Und was in Hiroshima geschehen ist, ist auf unwiderrufliche Weise geschehen: "und zwar deshalb, weil das gleiche Geschehen immer wieder herbeirufbar und immer wieder hervorrufbar ist". (Anders 1982a:23)
Der dritte Ort, den Günther Anders benannte, war Vietnam. Anhand des Vietnamkrieges zeigte er, wie Kriege in voratomarer Zeit, also in vortechnologischer Zeit funktionierten. Der Untertitel zu seinem Buch Visit beautiful Vietnam heißt daher zu Recht das ABC der Aggressionen heute. Günther Anders ging das Alphabet durch und schrieb zu jedem Buchstaben kürzere oder längere Texte, die Funktionsweise und Ablauf von Kriegen im allgemeinen zeigen. Vietnam wird so zu mehr als nur einem Krieg um die Vorherrschaft in Südostasien, zu mehr als nur einem Kolonialkrieg. Dieser Krieg richtete sich gegen ein gesellschaftliches System, nicht mehr nur gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen: "Auch wer Liquidierung ‚nur‘ als Mittel verwendet, wer sie nur deshalb fürchtet oder nicht vermeidet oder auch nur in Kauf nimmt, weil sie das militärisch wirksamste oder wirtschaftlichste oder propagandistisch erfolgreichste Mittel zur Erreichung anderer Ziele darstellt, auch der begeht Genocid." (Anders 1968a:63)
Der Kampf selbst war individualisiert. Es war ein Kampf Mann gegen Mann und in seiner Grausamkeit scheinbar auch eine Abwehrschlacht der Soldaten, die um die Legitimität ihrer Arbeit kämpften. Dennoch wurden chemische Kampfmittel in großer Zahl eingesetzt. Hinzu kam, daß durch die Globalisierung der Wirtschaft, die bereits in den sechziger Jahren weit fortgeschritten war, neue Möglichkeiten der Versorgung von Soldaten entstanden. Die amerikanischen Soldaten waren in Vietnam nicht nur in der Lage, Coca-Cola zu trinken, sondern auch den "American way of Death, den heimatlichen Tod, zu konsumieren: nämlich heimischen Erzeugnissen zum Opfer zu fallen, Erzeugnissen, deren Erwerb sie selbst (als Steuerzahler) mitfinanziert hatten, die dann (was ja eigentlich tröstlich ist) von fellow-Americans back home produziert worden waren, und die schließlich, wiederum von fellow Americans, spediert und den Alliierten übergeben worden waren. Durch welche Manipulationen diese Produkte schließlich bei den Viet Congs landen, ist eine Frage für sich, auf jeden Fall ist dadurch, daß die amerikanischen Waffen in die Hände der Gegner fallen, dafür Sorge getragen, daß‚ alles schön in der Familie bleibe, da nun ja außer den Produzenten und Spediteuren des Todes auch dessen Konsumenten Amerikaner sind." (Anders 1968a:20) Nicht nur, daß der Begriff friendly fire unter diesem Aspekt eine völlig neue Bedeutung erhält, beginnen sich auch die Grenzen zwischen Tätern und Opfern zu verschieben und zu verschwimmen. Es wird immer unklarer, wer wann an welcher Stelle Opfer oder/und Täter ist, trotz der klaren Frontstellung. Folge ich Günther Anders‘ Denken, so wird klar, daß Vietnam und Auschwitz mehr miteinander gemein hatten als Hiroshima und Auschwitz. Dennoch kann Vietnam als Ort der Vernichtung angesehen werden, an der sich die technokratische Hölle von Auschwitz und die atomare von Hiroshima erstmals begegneten.
Der vierte Ort, der in Günther Anders' Analysen auftaucht, ist Tschernobyl. Er unterscheidet sich von den anderen, weil er kein Ort des Krieges ist, sondern ein ziviler. Hier hat sich der zivile Einsatz der atomaren Kernspaltung schließlich in eine unkriegerische Hölle für die Menschen verwandelt. Es war gar nicht mehr notwendig, einen Krieg zu führen, um die Erde in eine Welt ohne Menschen zu verwandeln. Nach der Katastrophe am 26. April 1986 waren nicht nur Hunderte von Menschen gestorben, die einfach nur das Pech hatten, nebenan zu wohnen, sondern auch ganze Landstriche auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar geworden. Die Städte und Dörfer verwandelten sich in Geisterstädte ohne Leben. In Tschernobyl zeigte sich die Richtigkeit von Günther Anders‘ These. An diesem Ort wurde Krieg nicht mehr von Menschen gegen Menschen geführt, wurde der Tod nicht mehr willentlich herbeigeführt, sondern war nur mehr das Ergebnis eines technischen Unfalls. Die technologische Entwicklung hatte den Menschen hinter sich gelassen. Tschernobyl wird oft als technische Panne dargstellt. Natürlich war es ein SuperGAU, also der Größte Anzunehmende Unfall. Für Günther Anders aber war es mehr. Für ihn thematisierte sich in Tschernobyl nochmals die Auslöschung des Menschen. Aufgrund der Entwicklungen in den Widerstandsbewegungen, die sich in der neuen Bedrohungslage formierten und von denen seine Schriften rezipiert und aufmerksam verfolgt wurden, radikalisierte er sich neuerlich und definierte den Atomstaat als Aggressor, gegen den Notwehr erlaubt, wenn nicht sogar geboten sei. Das Auslöschungspotential der Menschheit war mit Tschernobyl ins zivile Leben eingedrungen, war aus der außergewöhnlichen Situation des Krieges in den Alltag der Menschen vorgedrungen, sozusagen allgegenwärtig geworden. Die Menschen von Tschernobyl lebten im geschiedenen Frieden. Auf Tschernobyl trafen diese Worte des vierzehnjährigen Günther Stern in besonderer Weise zu. Eine friedliche Nutzung der Atomkraft, eine friedliche Nutzung der Technik war für Günther Anders also nicht möglich.
Was Tschernobyl noch markierte, war das Ende der Verortung von Auslöschung. Denn der Maschinenpark, den das Atomkraftwerk in Tschernobyl im speziellen und anderswo im allgemeinen darstellt, hat alle Lebensbereiche des Menschen ergriffen. Der einmontierte Mensch, der mit Eichmann in der sozialen Hölle von Auschwitz begann und sich mit Eatherly in der technologischen Hölle von Hiroshima fortsetzte, hatte in Tschernobyl keinen Namen mehr. Hier ist kein Täter mehr am Werk, der willentlich Menschen ermorden möchte. Hier wird derjenige, der die Maschinen fehlerhaft bedient, zum ersten Opfer. In Tschernobyl befinden wir uns jenseits des Krieges, weil die Vernichtung an keinen kriegerischen Akt mehr gebunden ist. Günther Anders war als einziger Philosoph nicht bereit, das zivile Potential der atomaren Vernichtung zu negieren. Atomgefahr blieb für ihn zeitlebens ein aggressiver und unmenschlicher Akt des Menschen gegen den Menschen.
Kriege haben aber nicht nur Orte, sondern auch Gesichter, sind bevölkert von zahllosem Kriegspersonal. Günther Anders personalisierte kriegerische Prozesse vor allem auch, um eine Identifikation der Menschen mit Ereignissen herzustellen, die sie nicht am eigenen Leib erfahren hatten. Kriege werden zudem von realen Menschen geführt, auf Täter- wie auf Opferseite. Günther Anders schrieb über die umstrittene Filmserie Holocaust in den siebziger Jahren: "Personen kann man nicht personalisieren. Höchstens ‚re-personalisieren ‘: dann nämlich, wenn man sie durch Versklavung oder durch Verdinglichung oder durch Verwandlung in bloßen Abfall […] ihres Personencharakters beraubt, wenn man sie also ‚de-personalisiert´ hatte. Und das zeigt der Film, und das ist dessen Verdienst: Er führt vor, wie die Menschen de-personalisiert wurden und daß es eben Personen gewesen waren, die zum bloßen Stoff verarbeitet wurden. […] Auch die Mörder waren Einzelne, die die Gelegenheit der Maschinerie dazu benutzten, um ihre persönliche sadistische Lust zu befriedigen. Auch sie […] sind […] doch Einzelne gewesen" und haben "ein ‚Recht‘ darauf […] persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden." (Anders 1979:182-185)
Darum ging es Günther Anders: das Individuelle sichtbar und damit das Monströse begreifbar zu machen. Zweimal unternahm er den Versuch der Personalisierung. Wieder waren es Auschwitz und Hiroshima, die zwei Markierungspunkte des zwanzigsten Jahrhunderts. In Auschwitz mit Eichmann, in Hiroshima mit Eathery. Beide stehen stellvertretend für einen Typus ihrer Zeit, beide markierten unterschiedliche Arten des Tötens, und beide begingen ihre Taten jeweils in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten. Es war aber nur konsequent, daß er im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung seiner Medien- und Technikphilosophie schließlich die Person als Thema aufgab und zurückkehrte zum Ort, zu den Dingen selbst, da manche gesellschaftliche Entwicklungen, die ursächlich auf der technologischen Entwicklung basierten, nicht individualisierbar waren, weil der Mensch in der Technisierung der Welt nur noch als Bedienungspersonal und als einmontiertes Individuum in seinem Maschinenpark eine Rolle spielte: "Nicht zufällig hat ein Berater von Präsident Johnson […] behauptet, daß Amerika in Vietnam das Risiko laufe, den Wettlauf zum Monde zu verlieren – eine Bemerkung, die nicht nur deshalb interessant ist, weil ihr die moderne Erzeugung des Gestrigen als der Tod der Erzeugung des Morgigen figuriert; sondern auch deshalb, weil sie zeigt, wie selbstverständlich es für die Männer um Johnson ist, die Eroberung des Mondes und die Verwüstung Vietnams zusammenzusehen, und zwar als miteinander konkurrierende Stücke eines einzigen gigantischen, natürlich militärischen, Aktionskomplexes." (Anders 1968a:36)
In Auschwitz aber war der Mensch noch nicht in ein technologisches System einmontiert wie später in der Raumfahrt, da war er noch nicht Teil einer Auslöschungsmaschine, die die gesamte Menschheit im Auge hatte, sondern Teil eines sozialen Auslöschungssystems, wo immer noch einzelne Individuen oder eine Gruppe von Menschen ausgelöscht werden sollte und ausgelöscht wurde. Die technischen Möglichkeiten der nationalsozialistischen Hölle waren bei weitem nicht so entwickelt wie jene der amerikanischen, atomaren Hölle, durch die die Menschen in Nagasaki und Hiroshima gegangen waren, oder jene Hölle, die in Vietnam von den Amerikanern mit Napalmbeschuß erzeugt wurde. Günther Anders betrauerte ironisch und zugleich entsetzt die "guten Zeiten, als man noch jeden Zehnten als wahrscheinlichen Toten auszuzählen brauchte. Diese Zeiten liegen hinter uns. Heute und hier würde eine einzige Geste genügen. Diese Geste würde uns alle – und damit meine ich nicht nur Sie, die Sie hier im Saale anwesend sind; […] diese Geste würde vielmehr die gesamte heutige und künftige Menschheit umgreifen." (Anders 1982a:393)
Opfer und Täter waren also zum Teil identifizierbar, sozusagen schuldfähig, weil sie nur in einem politisch-ideologischen Kontext handelten, die sich der Waffen, der Maschinen (Eisenbahnen etc.) nur als Werkzeuge bedienten. Natürlich gab es auch nach Hiroshima noch solche Kriege und Prozesse, wie das Vietnambuch zeigt. Nach Hiroshima verwischen aber die Grenzen von Opfern und Tätern. Der, der die Waffe führt, ist nicht mehr unbedingt der Täter, sondern eingebunden in ein technologisches und mediales System, das verhindert, daß er sich als Täter wahrnimmt. Ansätze davon gab es bereits im Nationalsozialismus. Doch der Unterschied zu Auschwitz war in Hiroshima, daß der Pilot die Menschen nicht vor Augen hatte. Im Lager schon.
Ich bin nun beim Begriff der Kollektivierung angelangt. Der Mann, der die Gashähne, die Brennkammern oder die Genickschußecken bediente, sah die Opfer, kannte ihre Gesichter, ihre Nummer, ihre Herkunft. Der Tötungsprozeß war gerade wegen seiner Bürokratisierung individualisiert. In Hiroshima zählte keiner die Toten, die Namen stellten sich erst später heraus. Der Täter sah seine Opfer nicht. Er traf nur eine Stadt. Der Zufall wird zum Paradigma der Auslöschung. Ob nun in Hiroshima oder in den Twin Towers. Die Eigenschaften der Waffe bestimmen das geographische Ziel. Die Auslöschung trifft immer das Kollektiv. Das Individuum ist nicht mehr gemeint, wird nur ausgelöscht auf Grund seiner Anwesenheit zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Im Kollektivierungsprozeß verwischen sich auch die Grenzen von Schuld und Unschuld. Dazu kommt, daß der Mensch nicht mehr in der Lage ist, individuell zu töten, sondern nur mehr kollektiv, also massenhaft. Alle Menschen sind potentielle Ziele der Vernichtung. So kommt es zur Kollektivierung von Opfern und Tätern. Sie werden eins, denn wer sollte die Opfer beweinen im ultimativen, letzten Krieg. Wer sollte sie zählen, wenn alle ausgelöscht sind, denn "wo es überhaupt nichts mehr geben wird, da wird es auch Hinterbliebene nicht mehr geben, Tote und Totenkläger werden ununterscheidbar nebeneinander liegen". (Anders 1982c:367) Im atomaren (zu erweitern wäre: gentechnologischen, medialen, biotechnologischen) Zeitalter gibt es keinen individuellen Handlungsspielraum mehr, denn der Krieg, die potentielle Bedrohung meint immer die Menschheit, auch wenn jeder glaubt, es passiere immer den anderen. Die biotechnologische, die gentechnologische Veränderung der Welt zielt immer auf die Veränderung ganzer Spezies, nicht von Individuen. Im Falle der Menschen eben der Menschheit. Wir leben einerseits im Zeitalter der noch nicht stattgefundenen Auslöschung und der nicht mehr rückgängigmachbaren Kollektivierung der Auslöschungsprozesse. Dies scheint im Widerspruch zur grassierenden Individualisierung der Gesellschaft zu stehen. Das ist trügerisch. Der derzeitige Individualisierungsprozeß ist nichts weiter als eine antiquierte Reaktion auf das technologische Zeitalter.
Wie schon angedeutet, findet in diesem Kollektivierungsprozeß gleichzeitig eine Technisierung des Krieges statt. Auch wenn es heute so scheint, als wäre der Krieg wieder voratomar geworden, individueller, Mann gegen Mann, imperialistischer, so täuscht dies, denn die Auslöschung des Menschen durch den Menschen hat sich nur auf eine andere Ebene verlagert. Ich meine, daß die konventionellen Kriege, die wir heute erleben, ein Reflex sind, eine wohlgeübte Tradition, die wir seit Jahrhunderten im Griff haben. Die Auslöschungsprozesse, die an Hand von Hiroshima erstmals sichtbar wurden, spielen sich in den Genlabors und den Hochtechnologiezentren ab, wo an der Fusion von Mensch und Maschine gearbeitet wird.
Günther Anders, selbst ein konventioneller Mensch, also jemand, der in der voratomaren Zeit aufgewachsen war und sein Denken in dieser Epoche geschärft hatte, lehnte die Technisierung der Welt ab, da er selbst als Mensch Mensch bleiben wollte. Hier widersprach er politisch seiner ursprünglichen These: "Denn, um das paradox auszudrücken, die Künstlichkeit ist die Natur des Menschen und sein Wesen ist die Instabilität." (Anders 1929:1 / Manuskript / LIT) Noch mehr: Er hat die "Freiheit, sich selbst hinter sich zu lassen". (Anders 1929:16 / Manuskript / LIT) Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Er kann sich gar nicht anders als kulturell, künstlerisch, also technologisch entwerfen und entwickeln, in die Zukunft hinein, wie in die Vergangenheit zurück. Er nennt dieses Wesen des Menschen, "die fundamentale anthropologische Kategorie, die ebenso die metaphysische Bedingung des Menschen offenbart, wie […] seine Produktivität, seine Innerlichkeit, seinen freien Willen, seine Geschichtlichkeit". (Anders 1929:1 / Manuskript / LIT) Er bekämpfte politisch und persönlich, was er theoretisch für unausweichlich hielt. Er stand mitten im Übergang, er war ein moderner Columbus, noch ganz mittelalterlicher Mensch, der die Schwelle theoretisch, aber nicht persönlich überschreiten konnte. Günther Anders stand an der Schwelle, er blickte durch die Tür, besser vom Turm herab, ins neue Zeitalter, doch er überschritt die Schwelle nicht, er kam nicht herunter vom Turm wie Frau Glü, die "vom höchsten Aussichtsturm aus in die Tiefe hinabblickte, da tauchte unten auf der Straße, einem winzigen Spielzeug gleich, aber an der Farbe seines Mantels unzweideutig erkennbar, ihr Sohn auf; und in der nächsten Sekunde war dieses Spielzeug von einem gleichfalls spielzeugartigen Lastwagen überfahren und ausgelöscht – aber das Ganze war doch nur eben die Sache eines unwirklichen kurzen Augenblickes gewesen, und was da stattgefunden hatte, das hatte doch nur zwischen Spielzeugen stattgefunden. ‚Ich gehe nicht hinunter!’ schrie sie, sich dagegen sträubend, die Stufen hinabgeleitet zu werden, ‚ich geh nicht hinunter! Unten wäre ich verzweifelt!’" (Anders 1984a:7)
Günther Anders blieb trotz allem Engagement im Turm, weil er sich nicht wie viele von uns heute damit anfreunden konnte oder wollte, Teil einer technologisch-medialen Gesellschaft zu werden, die in der Lage ist, den Menschen auszulöschen. Er verließ für einen kurzen Augenblick seines Lebens diesen Turm, als er in Hiroshima die lebendigen Toten traf, doch im Kern verweigerte er sich den neuen Herausforderungen, mit denen die Menschheit im medialen, biotechnologischen Zeitalter konfrontiert ist. Er schrieb zwar auf, was ihm gelegentlich begegnete, politisch kämpfte er aber gegen das von einem anthropologisch undefinierten Wesen Mensch geschaffene technologische Zeitalter an. Gerade dieses Nicht-Verhältnis zur neuen Zeit machte ihn selbst antiquiert. Dennoch sind seine Thesen dazu stimmig und geben uns die Möglichkeit, den Übergang der europäisierten Gesellschaft vom Mensch ohne Welt hin zur globalen Gesellschaft einer Welt ohne Mensch zu analysieren.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Zu allererst sind es noch die Menschen, die die technische Entwicklung und die technische Weiterentwicklung des militärischen Systems ermöglichen. Einzelpersonen, auch wenn sie noch so einmontiert sind in ein technisches System, sind für ihre Taten bis zu einem bestimmten Grad noch verantwortlich zu machen, weil auch die Umsetzung ihrer Taten noch immer freie, selbstbestimmte Willenshandlungen darstellen. Auch wenn diese freie Willensäußerung in der zunehmenden Technisierung der Gesellschaft immer schwieriger wird. Noch steht am Anfang des Vernichtungsprozesses die Idee eines Menschen, und als solcher bleibt er auf dieser untersten Ebene moralisch auch seinen Handlungen gegenüber in die Pflicht genommen, wenn auch die Herstellung dieser Vernichtungstechniken in späteren Prozessen und ihr Einsatz in so kleine Einzelteile zerfällt, daß sie praktisch nicht mehr als eigenständige, schuldhafte Handlungen wahrnehmbar sind.
Die vom Menschen entwickelte Technik verwirklicht sich immer in unternehmerischen, nationalen, staatlichen oder Gruppeninteressen. Das heißt, damit sich die Idee verwirklichen kann, braucht es, im Gegensatz zu früheren Zeiten, ein Kollektiv, um die Idee zu materialisieren. Im Gegensatz zu einer Keule, zu Pfeil und Bogen, die durch eine einzige Person hergestellt werden können, sind in der Technokratie Gruppeninteressen notwendig, um eine technische Neuerung durchzusetzen. Bereits auf dieser Ebene beginnt der Mensch einmontiert zu werden, sehr rudimentär, aber es ist ein Anfang. Die Einmontage in der Weltraumfahrt ist ja nur eine Folge eines simpleren Vorgangs. Durch die Verwirklichung der technischen Innovation in der Gruppe (egal welcher Größe sie ist) ist sie massenhaft herstellbar und so kollektivierbar. Erst durch die Kollektivierung erlangt die Technik Massencharakter und übernimmt eine wichtige Funktion im Maschinenpark. Nur im Massencharakter ist die Technik aber als Technokratie verwirklichbar. So entwickelt sich Schritt für Schritt eine technische Zivilisation und in dieser Entwicklung greifen schließlich zivile und militärische Interessen ineinander, so daß wir am Ende nicht mehr unterscheiden können, wer zuerst war, die Henne oder das Ei. War zuerst die zivile Nutzung und danach der militärische Mißbrauch, oder war zuerst die militärische Innovation und danach die zivile Nutzung? Insofern hat die Losung der sechziger und siebziger Jahre einen wahren Kern beschrieben: In Kriegen gibt es keine zivilen Opfer mehr. Alle Opfer sterben als Folge der Etablierung eines technischen, technokratischen Militarismus.
Und in diesem Prozeß werden alle Möglichkeiten, Opfer und Täter zu unterscheiden, aufgegeben. Was Günther Anders nach Auschwitz und Hiroshima versuchte, war, einerseits zu zeigen, wie pervertiert ein System sein kann, daß keine Täter mehr zuläßt, andererseits beharrte er aber auf der Suche nach Tätern, um überhaupt noch eine Antikriegsposition, eine Art Moral entwickeln zu können, die ja von der Unterscheidung von Opfern und Tätern lebt. Wird diese Unterscheidbarkeit aufgehoben, wird das System amoralisch. Deshalb ist unsere Gesellschaft eine amoralische, weil sie diese Unterscheidung nicht mehr zuläßt, außer es wird die Fiktion einer Differenz von Zivil- und Militärgesellschaft aufrechterhalten. Das läßt sich in einer Technokratie unserer Qualität aber nicht mehr gewährleisten.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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