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Leben und Denken im Wort
§ 21 | Der andere Stern
Ich möchte noch einmal zurückgehen in eine Zeit, da die Heimatlosigkeit, die Weltfremdheit Günther Anders in seinem eigenen Leben noch nicht vollständig erreicht hatte, als Auschwitz und Hiroshima noch nicht alle Sicherheiten verdampft hatten; in eine Zeit, da Breslau noch unzerstört auf seine Heimkehrer wartete, und an Orte, die ihm damals eine aussichtsreiche akademische Laufbahn versprachen, die er unter dem Namen Stern hätte verfolgen können: nach Frankfurt am Main, nach Heidelberg und nach Berlin, in die Jahre 1929-1933.
Das 1929 stellte in mehrfacher Hinsicht eine Wende in Günther Anders' Leben dar. Mit dem Vortrag zur Weltfremdheit fand er sein philosophisches Lebensthema, die Eheschließung mit Hanna Arendt in Nowawes (in Anwesenheit der Trauzeugen Yela und Henry Löwenfeld sowie Käthe Levin und Hannah Arendts Eltern) beruhigte seine soziale Situation, und eine partnerschaftliche Zukunft tat sich auf. Alles schien auf dem rechten Weg zu sein.
Doch bereits ein Jahr später, 1930, taten sich erste Schwierigkeiten auf. Er hielt sich in Heidelberg auf, um an seiner Habilitation zu schreiben, wobei sich jedoch rasch herausstellte, daß Theodor W. Adorno nicht gewillt war, diese in absehbarer Zeit anzunehmen. Also zog das Ehepaar Stern nach Berlin, in jene Metropole, die aus ganz Europa Künstler und Intellektuelle anzog. Wie die meisten von ihnen mußte auch das Ehepaar Stern ihren Unterhalt mit freiberuflichen Tätigkeiten verdienen.
In dieser Sache nahm Günther Anders mit Bertolt Brecht Kontakt auf, von dem bekannt war, daß er sich für Künstler einsetzte, die auf Arbeitssuche waren: "Nun hatte ich über den kaum mehr als dreißigjährigen Brecht im Hessischen Rundfunk einen Vortrag gehalten, dessen Titel gelautet hatte: Bert Brecht als Denker – was damals absonderlich klang, denn Brecht war natürlich nur als Autor der Dreigroschenoper berühmt. Gleichviel, mit meinem Funktext ging ich stracks zu Brecht und bat ihn, sich diesen anzusehen. ‚Ab morgen‘, erklärte ich ihm, ‚muß ich Geld verdienen. Meinen Sie, Sie können mir helfen?‘" (Schubert 1987:29)
Bertolt Brecht rief noch im selben Augenblick, da Günther Anders neben ihm saß, Herbert Ihering vom Berliner Boersen-Courier an. Dort konnte er dann als Mitarbeiter in der Feuilletonredaktion beginnen. Von da an schrieb Günther Anders zahlreiche Rezensionen, Theaterkritiken, Berichte und vermischte Nachrichten. Die Ereignisse rund um den Berliner Boersen-Courier sind jedoch biographisch weniger aus ökonomischer, sondern vielmehr auf Grund des damit einhergehenden Namenswechsels von Stern zu Anders interessant. Immer wieder taucht in der Forschung die Frage auf, warum er seinen Namen änderte. Günther Anders stellte den Vorgang in einem Brief an den Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 1968 wie folgt dar: "Durch einen gewissen Brecht war Günther Stern, als er auf Berufssuche nach Berlin gekommen war, an Ihering, damit an den Börsencourier empfohlen worden. Dort begann er frei mitzuarbeiten, und da er Geld verdienen mußte, schrieb er dort ziemlich viel, und so Verschiedenartiges, daß ihm Ihering einmal (was dieser gewiss heute noch bestätigen könnte) darum bat, diesen oder jenen Beitrag doch anders zu signieren – woraufhin sich Stern sofort entschloß, für nicht-wissenschaftliche, also literarische Beiträge den Namen 'Anders' zu verwenden. […] Gleichviel, Günther Stern hielt seinen Verfassernamen Günther Stern so lange aufrecht, als er glaubte, die zwei Geleise seiner Arbeit: Philosophie und Literatur deutlich voneinander getrennt halten zu können – was sich bald als schwierig erwies, da seine didaktisch-theoretischen Arbeiten fast ausnahmslos die Form von ‚fiction‘ annahmen. Aber selbst heute signiert Anders noch als Stern in seiner Eigenschaft als einer der ‚Foreign Editors‘ einer amerikanischen philosophischen Fachzeitschrift; während er in der Zeit seines Exils in der jüdischen Wochenschrift 'Aufbau' seine Gedichte durchweg unter dem Namen ‚Anders‘ publiziert hat." (Anders / 1968c / LIT)
Die Zeichnung mit dem Namen Günther Anders fand aber nur bei zwei der mir bekannten einundfünfzig Texte Anwendung. Der Rest der Artikel wurde mit Günther Stern oder mit den sich aus dem Namen ableitenden Kürzeln rn und G.St. unterschrieben. Ein Namenswechsel auf Grund der Häufigkeit der publizierten Artikel war wohl eher eine Mythologisierung seiner eigenen Erinnerung, denn er schrieb von Anfang 1932 bis März 1933 im Schnitt einmal in der Woche eine Rezension, einen kurzen Artikel, nur selten lieferte er längere Stücke ab. Viel wichtiger erscheint mir der zweite Teil seiner Aussage, in der er festhielt, daß er vom Philosophen zum Literaten geworden sei. Dies ist auch die einzige Motivation, die für den Namenswechsel plausibel und schlüssig erscheint. Denn spätestens nach dem Krieg, dem Ende seiner Mitarbeit beim Berliner Börsen-Courier und dem Tod seines Vaters hätte es keine Bedeutung mehr gehabt, den Namen Anders länger beizubehalten. Allerdings war seine schriftstellerische Karriere in Europa noch nicht soweit fortgeschritten, daß es notwendig gewesen wäre, den Namen Stern aufzugeben. Im Gegenteil. Der Name Stern hätte ihm ermöglicht, vielfältige Anknüpfungspunkte vor allem an die vor dem Krieg begonnene akademische Laufbahn zu finden.
Doch dies schien ihm nicht wichtig. Das Wissen um Auschwitz, Hiroshima und Nagasaki hatte sein Denken vollständig verändert, und er nutzte die Gelegenheit eines Neubeginns in Europa auch dazu, seine Identität neu zu positionieren. Das für ihn der Namenswechsel nicht bloß eine Finte, eine Nebensächlichkeit war, läßt sich auch durch eine Textpassage im Vortrag Die Weltfremdheit des Menschen belegen: "Die soziale Welt realisiert ein Minimum an Identifikation bereits durch den Namen. Ist der Mensch einmal getauft – und niemand tauft sich selbst – besteht der Name fort wie eine Konstante im Leben; und er ist eine so natürliche Konstante, daß der, welcher benannt ist, ohne sich um den Streit zwischen Nominalismus und Realismus zu kümmern, nicht nur behauptet, sich Jean oder Jaques zu nennen, sondern Jaques oder Jean zu sein. Umgekehrt findet in dem Fall, wo der Name verändert wird […] ein tatsächlicher Wechsel statt. (Anders 1929 / zit. nach Reimann 1992:60)
Dieser tatsächliche Wechsel hatte vor allem damit zu tun, daß Günther Anders in den Jahren der Emigration einen denkerischen und stilistischen Wandel durchmachte. Aus dem bisher Gesagten wird klar, daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß ein Konflikt mit dem Vater ausschlaggebend für die Namensänderung war. Der Vater war, wie eine Aussage der Mutter unterstreicht, eine positive Identifikationsfigur: "Günther leidet unverkennbar an dem Streben, ‚anders‘ sein zu wollen als die Kameraden. Er möchte originell sein. Vor dem Untertauchen in der Masse hat er geradezu Angst. Sogar, wenn er an Beruf und Zukunft denkt, macht er sich Sorgen darüber, ob er auch etwas ‚Besonderes‘ werden wird. Er fürchtet, in nichts etwas Tüchtiges erreichen zu können – tüchtig im Sinne von das Mittelmaß überragend. Er verweist immer auf den Vater, – der so hoch über dem Durchschnittsmenschen stände und – an diesem Punkte erwacht sein Ehrgeiz. Er würde – das äussert er häufig bei unsern abendlichen Gesprächen, nie zufrieden sein, 'bloss so zu werden, wie alle sind', 'so ein normaler Mensch'." (Tagebuch VIII / Günther / 23.1.17) Die Normalität war es nicht, woran er sich orientierte, sondern das Besondere, das Außergewöhnliche, die Abweichung. Und so war es kein Zufall, daß sein Leben von Abweichungen geprägt war und schließlich auch sein Name in ein Anderes, nämlich Anders mündete.
Ich denke auch nicht, daß Günther Anders sein Leben lang ein Individualisierungsprojekt verfolgte, beinahe manisch, wie Clemens Detlev dies in Aussicht stellte, denn in einem seiner Gedichte, der Epigone, schreibt Günther Anders, der 1927 noch Günther Stern hieß:
"Also blick nicht so verwundert,
wenn ich abseits, ohne Neid
anders bleibe als ihr seid:
du bist einer. Ich bin hundert. (...)
Aber ich, in jeder Stunde,
wechsle Herkunft und Gesicht,
bis posthum aus meinem Munde
einmal jeder Tote spricht,
heute heiß ich wie der eine,
morgen wie der andere hieß,
und aus abgelegtem Steine
steigen Weimar und Paris." (Anders 1985g:369-370)
Wenn ein Mensch davon spricht, viele zu sein, so ist das doch eher der Versuch, in ein Kollektiv einzugehen. Auch hier sprach er von einer Zeit in ferner Zukunft, wo jeder Tote aus seinem Munde spricht. Jetzt könnte ich spekulieren und sagen, beinahe prophetisch sah er seine Aufgabe voraus, die er dann nach 1945 manisch verfolgte, nämlich die potentielle Vernichtung der gesamten Menschheit zu dokumentieren. Vielleicht wäre er gerne ein Zeitgenosse von irgend jemandem gewesen. Aber er konnte keiner seines Vaters sein, keiner der vielen Ernst Blochs, die an eine intakte Zukunft für die Menschen glaubten. Es war ihm auch verwehrt, Teil jener Menschen zu werden, die nicht mehr lebten, die in den Auslöschungsprozessen des zwanzigsten Jahrhunderts umgekommen waren.
Es war ihm nicht gelungen, zu sterben.
Das Schreiben über den Tod und die Toten hatten ihn so zu einem Zeitgenossen von jedermann und jederfrau gemacht. Es ist ja wohl kein Zufall, daß sein erster großer Text La patholgie de la liberté in der Übersetzung: Die Pathologie der Freiheit. Versuch über die Nicht-Identifikation heißt. Ich halte es daher mit Werner Reimann, der in seinem Buch Verweigerte Versöhnung zum Schluß kommt: "Der sich selbst und der Welt fremde Mensch ist immer anders. ‚Anders‘, das ist einer der tatsächlich möglichen symbolischen Namen für den immer anderen Menschen, für den sich selbst und der Welt fremden Menschen. Wenn Günther Stern jetzt ‚Anders‘ heißt, dann spricht aus seinem Namen seine ganze frühe Philosophie." (Reimann 1990:29)
Anders zu sein und sich so zu nennen war ihm also Programm und kann Mehrfaches bedeuten: Anders sein zu wollen, sich abzugrenzen gegen die eigene Herkunft, zu betonen, daß er anders war als der Vater? Das traf wohl nicht zu. Es könnte aber auch bedeuten, sich mit jemand anderem zu identifizieren, also eine Eingrenzung mit jemandem, in seinem Falle mit den Toten, die ja auch anders sind, nämlich nicht-mehr-lebendig. Und nachdem er diesen Identitätswechsel, der ja ein Wechsel aus Solidarität war, vollzogen hatte, ging alles ganz einfach. Eines fügte sich zum anderen.
Es gibt noch eine Textstelle, die einen Hinweis darauf gibt, warum Günther Anders nach dem Krieg seinen Namen Stern nicht mehr annahm. Er überlebte alle Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht nur den Ersten, auch den Zweiten Weltkrieg, Hiroshima, Vietnam, Tschernobyl und die Globalisierung aller Produktionsprozesse. Er war durch den Krieg, durch Amerika und durch seine Erkenntnisse zu Hiroshima ein anderer geworden. In seinem Text Der Tote, eintretend ins Totenreich aus dem Jahr 1936 nahm er diesen Identitätswechsel bereits vorweg. Günther Anders schrieb über den vielfältigen Verlust seiner Identität, der ihn immer wieder zwang, ein anderer zu werden. Das Leben war für ihn nichts weiter als eine Totenliste. Und hätte er seinen Namen beibehalten, so hätte es in seinen Augen auch so etwas wie eine biographische Rekonstruktionsarbeit eines einzigen, kontinuierlichen Lebens geben können. Doch gerade eine solche Kontinuität bezweifelte er bei sich und anderen, die wie er vertrieben wurden. Er meinte, daß wenn er "alle jene Figuren, als die ich einmal herumgelaufen, oder die mich auf ihren Schultern getragen, um mich versammeln und all jene ‚faits divers‘, die mir zugestoßen, vor mir aufhäufen könnte – der Zahl und Menge nach würde das sogar für ein reiches Menschenleben auslangen." (Anders 1985b:65) Dieses Leben im Plural, das er in Post Festum 1962 definierte, fand seinen treffenden Ausdruck im Namen Anders.
Wer kein durchgängies Leben bei sich findet, ist in gewisser Weise ein Heimatloser, ein Nomade, ein Emigrant. Seit seiner Zeit in Freiburg lebte er als Nomade, der verzweifelt versuchte, Anschluß an seine Zeitgenossen zu finden. Dieses Sich-an-Menschen-Halten scheint mir charakteristisch für jene, die nicht an geographischen Orten heimisch werden können. Bei Günther Anders gelang eine positive Identifikation mit Menschen. Er wurde nicht zum Amokläufer, sondern zum Liebhaber. In dieser Beziehung kam das Geliebtwerden und Glücklichsein-Dürfen aus den Kindertagen voll zum Tragen. Er wurde zum Liebhaber der Frauen und zum Freund der Toten. Der Identifikationswechsel war also nicht nur einer vom Namen Stern zum Namen Anders, sondern auch einer vom Sohn Stern, zum Mann Anders. In die Zeit der Nomadisierung fiel auch die Entdeckung der Frau als sexuelles Objekt/Subjekt.
Von 1930-1933 lebte er in Berlin und traf dort, wie bereits erwähnt, Bertolt Brecht und viele andere Intellektuelle. Er begann in dieser Zeit des Übergangs seinen einzigen Roman zu schreiben: Die molussische Katakombe. Er knüpfte nach seinem gescheiterten Versuch, in der akademischen Welt Fuß zu fassen, an seine frühen literarischen Produktionen an. Dies fiel ihm umso leichter, als er sich nie als der klassische, akademische Philosoph verstand, auch wenn er sich etwa zehn Jahre seines Lebens in diesem Milieu aufgehalten hatte. Von Beginn seiner intellektuellen Laufbahn an hatte er Gedichte und kurze Prosa geschrieben, hatte Fabeln und Romane erarbeitet, ebenso Theaterstücke produziert. Er ist nie der reine Philosoph gewesen, den er selbst für den Namenswechsel stilisierte. Er war immer ein Grenzgänger zwischen den Formen und Inhalten. Hinzu kam, daß die Nationalsozialisten rasch an Boden gewannen und Hitler für ihn zu einer realen Bedrohung wurde. In dieser Situation schien es ihm nicht länger legitim zu sein, sich nur mit Fragen der Philosophie aufzuhalten. Er organisierte ein Seminar, in dem der Text Mein Kampf gelesen werden sollte, der zu diesem Zeitpunkt unter den Intellekuellen verpönt war. Hans Jonas schrieb darüber in seinen Erinnerungen folgendes: "Hitlers Mein Kampf hatte von uns damals niemand gelesen. Lediglich Günther Stern hat viele Jahre später gesagt: ‚Ich war einer derer, die Mein Kampf gelesen und schon erkannt hatten, daß das die große Gefahr ist.‘ Aber da ich das damals nie aus seinem Munde gehört hatte, so habe ich meine Zweifel, inwieweit ich seinen Worten glauben kann und ob ihn seine Erinnerung da nicht täuscht. Ich jedenfalls hielt es absolut für unter meiner Würde, so etwas zu lesen." (Jonas 2003:130)
Günther Anders war immer von einem tiefen Erkenntnisinteresse getrieben. Er wollte herausfinden, was die Wurzeln dieses Phänomens waren, was einen Hitler umtrieb, und er wollte den aufkommenden Faschismus beschreiben. Hier bahnte sich eine Arbeitsweise an, die er für alle später von ihm untersuchten Phänomene beibehielt. Im Fall der Judenvernichtung zog es ihn an den Ort, der auch heute noch als Synonym für diese gesetzt wird: nach Auschwitz. Er schrieb einen Brief an Klaus Eichmann, den Sohn von Adolf Eichmann, um die Motivationen und die Rolle des Hauptverantwortlichen für die Judentransporte im deutschen Machtbereich herauszufiltern. Im Fall Hiroshimas reiste er nach Japan, um die Opfer des Atombombenabwurfs aufzusuchen, und begann einen Briefwechsel mit Claude Eatherly, einem am Abwurf der Atombombe beteilgten amerikanischen Soldaten, um die Zusammenhänge zwischen der individuellen und kollektiven Rolle in diesem Kriegsereignis zu verstehen. Schon im Fall Hitler wendete er diese Strategie an und kam zu der Erkenntnis: "Aber dann kam Hitler bzw. die Vor-Hitler-Zeit, und die Forderung des Tages, die zu einer ‚Forderung der Jahre‘ wurde, nahm mich von morgens bis abends in Anspruch. So habe ich das System, das ich eigentlich hatte schreiben wollen, nicht geschrieben. Weder die Anthropologie noch die Kunstphilosophie." (Schubert 1987:27)
1933 schließlich nahm die Gefährdung durch den Nationalsozialismus markant zu, und nach der Machtergreifung gaben die Nationalsozialisten jede Zurückhaltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung auf. Im Gegensatz zum Vater machte sich der Sohn keine Illusionen, er war überzeugt, daß eine Kulturnation durchaus in der Lage sei, einen Teil seiner Bevölkerung nicht nur zu vertreiben, sondern auszulöschen. Sein Verhältnis zum Judentum wurde dadurch nicht berührt. Er zog nicht den Schluß, sich vom Judentum zu distanzieren, um sich zu schützen. Jahrzehnte später wurden ihm bewußt, an der Klagemauer in Abgrenzung zu den betenden Juden, was ihn mit dem Judentum verband, nämlich das, was dem Christen Martin Heidegger fehlte: heimatlos zu sein: "Denn für mich als Migranten, der an einem nur zufälligen Orte ansässig geworden ist, ist das Unterwegssein zum Zuhause geworden. Dieses Schicksal der Heimatlosigkeit, nicht dieses Stück Mauer macht mich zum Juden." (Anders 1978:74) Günther Anders war kein bekennender Jude, blieb aber bis zu seinem Austritt Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Wien. Er hat sich nie von seiner jüdischen Herkunft distanziert, lediglich den zionistischen Staat Israel griff er in den sechziger und siebziger Jahren immer wieder heftig an, was zu Konflikten mit seiner Schwester Eva Michaelis-Stern (sie lebte in Jerusalem) und Hannah Arendt führte. Einerseits befürwortete er den Staat Israel, weil es durch ihn einen "Flecken auf der Welt gibt, auf dem die Gejagten sich zu Hause fühlen", andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dort zu leben, denn das Land war ihm zu provinziell, zu theokratisch, zu sehr auf seine eigenen Bedürfnisse bezogen, und was am schwersten wog, daß in diesem Staat die "ewig Unterdrückten zu Unterdrückern" geworden waren. (Anders 1978:73)
Günther Anders war sich durchaus bewußt, daß er dem Judentum vieles an eigenem Erkenntnisgewinn verdankte. Vielleicht verhalf ihm seine jüdische Herkunft auch zu einem wichtigen Instrument, um gegen jede Form des Totalitarismus und Vergottung menschgemachter Dinge, ausgedrückt im jüdischen Bilderverbot, angehen zu können. Vielleicht weigerte er sich deshalb so vehement, die vom Menschen geschaffenen Maschinen, die vom Menschen entwickelten und etablierten technologischen und technokratischen Gesellschaften zu akzeptieren, weil sie im Kern eine Art von Götzenverehrung einschlossen. Niemand kann heute noch ernsthaft daran zweifeln, daß die Sorgfalt, mit der wir Menschen unsere Autos waschen, pflegen und bedienen, die sklavischer Treue, mit der wir unsere Computer hegen und weiterentwickeln, um sie perfekter und uns angemessener zu machen, nicht ein religiöses Element beinhaltet.
Die Technik zu verehren, ohne den kritischen Impuls ihrer Auswüchse in Frage zu stellen, kam Günther Anders niemals in den Sinn. Vielleicht hat ihn die Immunität gegenüber der Götzenverehrung zum Atheisten werden lassen, davor bewahrt, als Jude und Mensch ausgelöscht zu werden. Er war immer davongekommen, in diesem Sinne war er ein aufgesparter Jude: "Und wenn Sie mich schließlich fragen, an welchem Tage ich mich am tiefsten geschämt habe – nein: nicht etwa Jude zu sein, [...] sondern an welchem Tage ich mich am tiefsten geschämt habe, als Jude noch dazusein, dann antworte ich, an jenem Sommertage, sieben Jahre nach Kyoto, als ich in Auschwitz vor den Gebirgen von Schuhen, Brillengestellen, ausgebrochenen Gebissen, abgeschnittenen Haarschöpfen und herrenlos gewordenen Handkoffern stand. Und unter diesen eigentlich auch meine Brille, meine Zähne, meine Schuhe, meine Handkoffer hätten sein müssen. Da fühlte ich mich, da ich kein Auschwitzhäftling gewesen war, da ich durch einen Zufall durchgekommen war, wie ein Deserteur." (Anders 1978:63)
Der Zufall trat in Gestalt von Bertolt Brechts Adreßbuch auf, das der Gestapo in die Hände fiel. Günther Anders, der als linker Jude fürchtete, ins Visier der Nationalsozialisten zu geraten, setzte sich daraufhin nach Paris ab. Sein zu diesem Zeitpunkt wichtigstes Manuskript Die molussische Katakombe ließ er aus Angst, daß es bei ihm gefunden werden könnte, in Berlin, in Pergament eingewickelt, in einem Rauchfang zurück, wo es Monate hing, bis es Hannah Arendt, als sie nach Frankreich ausreiste, mitnahm. Dieses Manuskript ist aus mehreren Gründen von Bedeutung. Erstens: Es blieb der einzige Roman von Günther Anders. Zweitens: Es analysierte und beschrieb bereits Anfang der dreißiger Jahre den Totalitarismus des nationalsozialistischen Systems und verweist darüber hinaus mit seiner Thematisierung des Verhältnisses von Lüge und Wahrheit auf die "strukturelle Lügenhaftigkeit moderner Medientechnologien". (Liessmann 2002:166) Drittens: Die molussische Katakombe markierte sehr deutlich den Übergang vom Philosophen Günther Stern hin zum Schriftsteller Günther Anders. Einerseits ist das Buch eine philosophische Abhandlung, andererseits bedient es sich der Fabel als Form, um den Lehrcharkter seiner Aussagen literarisch zu verarbeiten und besser vermitteln zu können.
Auch die Publikationsgeschichte dieses Manuskriptes ist interessant, zeigt sie doch eines ganz deutlich, daß es Günther Anders auch in dieser Frage nicht gelungen ist, zur rechten Zeit zu kommen und daher das Buch seine Wirkung zweimal verfehlte. Noch in Berlin hatte Bertolt Brecht das Manuskript an den Verlag Kiepenheuer vermittelt, der es zwar "annahm, aber nicht mehr publizieren konnte: die Nazis waren schneller gewesen. Es fiel in die Hände der Gestapo, die es aber an den Verlag zurückschickte, da sie es für eine Sammlung von Südsee-Märchen hielt." (Liessmann 2002:164) In Paris, kurz vor seiner Emigration nach Amerika, gab Günther Anders das Manuskript dem einzigen deutschsprachigen Verlag, der in Paris dafür in Frage kam, in dem auch Manes Sperber mitarbeitete: "Ich übergab das Konvolut einem gewissen Herrn Sperber und hörte viele Wochen nichts. Bis ich kurz vor meiner Weiterflucht nach Amerika nach meinem Manuskript fragte. […] ‚Ach ja!‘, meinte der, sich vage erinnernd, um dann in die klassische Frage auszubrechen: ‚Und das halten sie für linientreu?‘" (Schubert 1987:90) Das Buch scheiterte also nicht an seiner inhaltlichen Relevanz, sondern an den Umständen. Es wurde sozusagen zum Opfer der politischen Verhältnisse. Bei der späteren Publikation 1992, zum neunzigsten Geburtstag von Günther Anders, galt das, was Günther Anders bereits 1979 in einem Interview sagte: "Unter diesen Umständen entstand das 600 Seiten lange Manuskript über die Prinzipien des Nationalsozialismus, das nun heute, nach beinahe vierzig Jahren, seine Funktion, die es zu erfüllen niemals die Gelegenheit gehabt hat, vollends eingebüßt hat." (Schubert 1987:31)
Ich denke, daß diesem Buch, daß noch heute von enormer Relevanz ist, weil es die politischen Mechanismen und Instrumente technokratischer Diktaturen beschreibt, leider auf Grund der antiquierten Sprache ein nachhaltiger Erfolg verwehrt bleiben wird.
Eines ermöglichte das nicht publizierte Manuskript Günther Anders aber doch. Es floß immer wieder in spätere Texte als verschollenes Manuskript über eine verschollene Zivilisation ein und diente ihm als Beleg für die Richtigkeit seiner Annahmen. Hannah Arendt hatte sich gegenüber Hans Jonas einmal fürchterlich empört, daß Günther Anders diesen Trick anwendete: "In einem Wahn zu leben, ist schrecklich genug, und von allen Möglichkeiten des Wahnes ist der Größenwahn wohl der unerträglichste. All das war mir nicht ganz so neu und unerwartet, wie Du denkst. Ich hatte auch angenommen, dass der alte Wahn in ein neues Stadium getreten ist, als ich sah, dass Günther in dem Buch über die Atombombe sein niemals veröffentlichtes Molussien so zitiert, als sei es erstens die Bibel und hätte zweitens eine Auflage von mehreren Millionen. Das war ja bereits im eigentlichen Sinne verrückt." (Arendt an Jonas / 17.9.1959 / PAK) Günther Anders fand mit der Molussischen Katakombe den Anfangspunkt seiner Auseinandersetzung mit den Themen Freiheit, Technik, Medien und dem täglichen Umgang damit. Die Form der Fabel wählte er schon in den dreißiger Jahren, um mit kurzen, fabelhaften Texten dem Leser den Zugang zu seinen Erkenntnissen und seinem Denken zu erleichtern. 1968 erschienen unter dem Titel Der Blick vom Turm seine kurzen Lehrstücke mit Illustrationen von A. Paul Weber im Verlag C.H. Beck. Auch in den 1992 erschienenen Ketzereien läßt er immer wieder Fabeln einfließen, um seinen Argumenten Gewicht zu verleihen.
Dabei sind die Fabeln keine reinen Lehrstücke, sondern enthüllen darüber hinaus, wie Günther Anders sich gerne gesehen hat. Sie sind eine hervorragende autobiographische Quelle, vor allem weil außer dem Buch Die Schrift an der Wand und den Ketzereien nur wenige Texte vorliegen, in denen er explizit von sich und seinem Alltag schreibt. Vielleicht war es ihm aber auch nicht möglich, eine Autobiographie zu schreiben, weil ihm sein Leben zu weitläufig schien. So hat er sie eben auf viele Texte verstreut, denn "tritt man durch die Türe in die eigene Wohnung, und blickt man nach drei Schritten zurück, dann ist die Türe bereits verschwunden, und die Wohnung erweist sich als endlos." (Anders 1985h:1)
Er hat geschafft, was vielen mißlang, die Vergangenheit zu bewahren, den Skandal der Vertreibung zu erinnern und sich mit den gerade geschehenen Notständen zu beschäftigen. Mag sein, daß Günther Anders in der Emigration noch verharren mußte, doch nach seiner Rückkehr auf heimatlichen Boden stürmte er voran, um das Erinnerte mit dem Geschehenen gemeinsam zu denken: "Da wir, statt die weiterströmenden Jahre als gültig zu rechnen, die Pause als Pause durchhielten; da wir ‚auf der Stelle traten’; nämlich auf dem Zeitpunkt, auf dem ‚es’ passiert war; und da wir, statt uns in das Alltagsgespräch der neuen Umwelt einzuschalten, den Empörungsschrei, den wir am ersten Tage angestimmt hatten, gleich ob wir gehört wurden oder nicht, weiterschrien, haben wir der Versuchung, die Entwürdigung, die wir erfahren hatten, durch Vergeßlichkeit zu entwürdigen oder die Herrschaft ‚drüben’ als etwas anzuerkennen, womit Versöhnung in Betracht kommen konnte, nicht nur Widerstand leisten können, sondern diese noch nicht einmal als Versuchung kennengelernt." (Anders 1985b:77)
Günther Anders und seinen Mitemigranten war sogar der gültige Tod vorenthalten geblieben, denn "wirklich stirbt man nur zu Hause." (Anders 1985b:78) In der Emigration war Günther Anders mit einer ganz banalen Frage konfrontiert, der Jagd nach der Lebenserlaubnis: "Jeder von uns (die Ausnahmen sind kaum der Rede wert) hatte ja erst einmal zu versuchen, sein Lebensminimum zu erjagen, als da sind: ein Bett, Arbeitserlaubnis, Geld, Essenskarten, Schwarzarbeit, vor allem aber seine (‚Aufenthaltserlaubnis‘ genannt) Lebenserlaubnis. […] Kurz: die ordinäre Sorge war, mindestens in den ersten Zeiten der Emigration, so ungeheuer und so nervenaufreibend, daß sie im Wettstreit der Sorgen oft im weitesten Abstand als Siegerin hervorging." (Anders 1985b:84-85)
Bereits 1935 spitzte sich die Situation in Frankreich zu. Es wurde immer schwieriger, Arbeit zu finden. Publikationen waren schwer vermittelbar und das Schreiben auf Grund der miserablen Lebensumstände praktisch unmöglich. Die Sterns hielten sich viel in Kaffeehäusern auf, trafen sich mit Leidensgenossen, hatten aber auch Kontakte zu französischen Intellektuellen. Günther Anders gelang es, einige Artikel in der Zeitschrift der Recherches philosophiques unterzubringen. Hannah Arendt, die eine Stelle in der Organisation Agriculture et Artisanat ergattert hatte, half ihrem Mann mit dem Notwendigsten aus, denn seine Lage war noch prekärer als ihre: "Ansonsten brachte der Faschismus für Günther Stern kaum angenehme Seiten mit sich, und seine Schwester Eva, die ihn nach einer Trennung von mehreren Jahren in Paris besuchte, war bestürzt, wie hohlwangig er aussah, wie entmutigt er vom Leben in einer feindlichen Umgebung, ohne Unterstützung und Anerkennung, war." (Young-Bruehl 2004:176)
1936, als die Lage gefährlich wurde, floh er nach Nordamerika und landete in New York. Hannah Arendt blieb in Frankreich, wo sie noch im selben Jahr Heinrich Blücher, ihren späteren zweiten Mann, kennenlernte. Die Scheidung der Sterns erfolgte im Jahr 1937. In den USA fand Günther Anders nur schwer Anschluß an die Emigrantengruppen. Er war nun vollends von seinem ursprünglichen sozialen Netz abgetrennt. An seinen kärglichen Lebensumständen änderte sich vorerst wenig, auch wenn der Alltag in New York und später in Los Angeles leichter zu bewältigen war. Erleichternd wirkte sich der Umstand aus, daß seine Familie bereits nach Amerika emigriert war: "Während der ersten Monate konnte ich bescheiden durchkommen, denn mein Vater, der eine Professur in North Carolina gefunden hatte, half mir. Was bestimmt nicht leicht für ihn war." (Schubert 1987:37)
Das Exil in den USA veränderte sein Leben und Denken. Er mußte sein bisheriges Leben aufgeben, weil es ihm nicht wie vielen anderen gelungen war, ein veritables Vermögen in die USA zu retten oder in der boomenden Filmindustrie als Autor Fuß zu fassen. Die neuen Lebensumstände zwangen ihn, Jobs anzunehmen, die ihn mit Fragestellungen konfrontierten, die er in Europa wahrscheinlich nicht in derselben Schärfe entwickelt hätte, und auch seine spätere Medien- und Technologiekritik wäre nicht in dieser heute vorliegenden Form möglich gewesen: "Dann arbeitete ich in Los Angeles‘ Fabriken – eine Erfahrung, die ich wahrhaftig nicht missen möchte – wie denn überhaupt die falschen jobs die richtigsten sind, weil sie uns Erfahrungen einbringen, die man in einem nach Maß geschneiderten Beruf niemals sammeln kann. Ohne meine Fabrikzeit wäre ich in der Tat niemals fähig gewesen, meine Kritik des technischen Zeitalters, also mein Buch Die Antiquiertheit des Menschen zu schreiben." (Schubert 1987:37-38)
Gänzlich anonym und abgegrenzt dürfte er allerdings auch in Los Angeles nicht gelebt haben. Von Kontakten zur amerikanischen Kulturszene ist wenig bekannt, doch zu den Emigranten pflegte er einen distanzierten, aber doch von Interesse getragenen Umgang. Vor allem die Situation in den vierziger Jahren in Hollywood, wohin er gezogen war, um seine schwierige Einkommenssituation zu verbessern, erschien vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs besonders bizarr. In der Filmmetropole, wo zahlreiche Emigranten in verschiedensten Bereichen Arbeitsmöglichkeiten vorfanden, vor allem auf Grund ihrer hervorragenden Ausbildung und ihrer Kenntnisse europäischer Geschichte, die in vielen Filmprojekten gefragt waren, lebten auf engstem Raum die Größen deutscher Geistesgeschichte: Herbert Marcuse, Bertolt Brecht, Thomas Mann, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Arnold Schönberg und viele mehr. Es gab eine Vielzahl an Begegnungsmöglichkeiten. Dennoch schien es Günther Anders seltsam, "daß es am Stillen Ozean eine solche Politisches, Soziologisches und Philosophisches diskutierende Gruppe gegeben hat, während in Europa Hitler wütete und in Auschwitz Millionen zu Asche verbrannten". (Schubert 1987:36)
Die USA waren aber kein Land, in dem sich Günther Anders wohl fühlte. Dabei spielte die Sprache kaum ein Rolle. Für europäische Verhältnisse sprach er gutes Englisch und hielt auch seine Vorträge an der New School for Social Research in der Landessprache. Schwerer, scheint mir, wog, daß es für ihn, den Flüchtling, in diesem Land keine Heimat geben konnte, weil es ihm wie ein Placebo des von ihm verlassenen Kontinents vorkam: "Zurück aus diesem verfluchten, unwirklichen, azurenen Westen, wieder zurück in New York. Was für unsereins so ‚zurück‘ heißt. ‚Zurücksein‘ bedeutet: an einem fremden Platze, an den man im Laufe der Emigration zufällig schon einmal verschlagen gewesen war, und an dem man sich schon einmal jahrelang durchgehungert hatte, wieder einmal hängenbleiben. Aber da es hier Ecken und Häuser und Lokale und Geräusche und Gerüche gibt, die voll sind von Erinnerungen, sogar von Erinnerungen an unterdessen Gestorbene, ist dieses Häusermeer zu einer meiner Heimaten geworden. Jawohl, ‚Heimaten ‘ – im Plural." (Anders 1985i:19) Nichts war so wie in seinem gewohnten Umfeld in Deutschland, in Europa, und dennoch schien ihn alles an zu Hause zu erinnern, ohne daß die Menschen und die Dinge etwas davon wußten, wie es zu Hause in Breslau, in Hamburg, in Freiburg oder Berlin gewesen war. Als Beispiel können dafür seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1941 dienen, erstmals publiziert 1966 unter dem Titel Leichenwäscher der Geschichte.
Günther Anders arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einem Requisitenlager in Hollywood, wo er Nachbildungen von Gegenständen, Kleidungen, ja ganze Filmkulissen zu putzen und pflegen hatte. Dieser Arbeit verdankte er nicht nur Erkenntnisse über die Funktionsweise der amerikanischen Filmindustrie, das Verhältnis von Original und Kopie (später haben all diese Beobachtungen Eingang in seinen Text Phantom und Matrize gefunden), sondern auch wesentliche Einsichten in das Verhalten, Leben und Denken von Emigranten, die als Verfolgte und Vertriebene in der Filmindustrie Hollywoods plötzlich in die Lage versetzt wurden, jenes System, dem sie gerade entronnen waren, für den Film originalgetreu wiedererstehen zu lassen. Was Günther Anders durch die Leichenwäsche der europäischen Geschichte, die ja auch die seine war, lernte, war, daß "das Gewesene […] uns hier noch bevor[steht]. Und hoffentlich bin ich, wenn das Angebot an Gewesenem hier stürmisch ausbrechen wird, längst schon wieder im alten Europa. Sofern es das dann noch geben wird. Oder wieder." (Anders 1985h:17)
Für Günther Anders stand also außer Zweifel, daß er eines Tages zurückkehren würde. In diesem Sinne war sein Schreiben auf die Zeit danach gerichtet, auf die Hoffnung, als Rückkehrer das Erinnerte mit dem Ereigneten in Übereinstimmung bringen zu können. Diese Projektion seiner schriftstellerischen Tätigkeit in eine gewisse Zukunft hat ihm das Leben in Amerika nicht gerade erleichtert. Aber es blieb ihm keine andere Wahl. Über Amerika und für Amerikaner kulturtheoretisch zu schreiben war ihm verwehrt geblieben, da er der amerikanischen Kultur sehr skeptisch, sogar ablehnend gegenüberstand. Günther Anders war von seiner Tradition, von seiner Kultur abgeschnitten, er war in dieser Zeit des Exils kein Gegenwärtiger. Der Ort seines Lebens (USA) stimmte nicht überein mit dem Ort seines Denkens (Europa/Deutschland). So blieb ihm, wie vielen anderen Emigranten, als einzige Heimat die Sprache, "weil die Sprache das einzige Gerät war, mit dessen Hilfe sie sich, wenn auch nicht vor dem physischen Untergang, so doch von dem letzten Herunterkommen bewahren konnten; und weil sie das einzige unraubbare Gut war, das einzige Stück Zuhause, das sie, wenn sie es verteidigten, selbst im Zustande restloser Entwürdigung noch beherrschten, das einzige, das (wenn auch nur ihnen selbst) bezeugte, wo sie hingehörten." (Anders 1985b:91)
Vielleicht war diese Analyse der Emigranten und ihres konservierenden Sprachverhaltens auch ein Schlüssel zu der im Exil entwickelten Medientheorie, die mit dem Titel Die Welt als Phantom und Matrize 1956 im ersten Band seines philosophischen Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen erschienen ist. Die philosophischen Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen entstanden aber nicht durch einen Zufall, auch wenn Günther Anders uns dies glauben machen wollte. Er erzählte gerne, daß er 1948 nur einmal kurz ferngesehen habe und ihn sofort in aller Klarheit die Euphorie über das Phänomen Fernsehen verstörte, weil er eine andere Konsequenz aus dem In-die-Ferne-Sehen als seine Zeitgenossen zog. Günther Anders hatte natürlich leichtes Spiel, seine Medientheorie zu entwickeln, da es zum damaligen Zeitpunkt nur eine eingeschränkte Anzahl von Sendern und Fernsehprogrammen gab. Heute, da unsere Medien keinen Anfang und kein Ende kennen, es ausdifferenzierte und weitläufige Medientheorien und Technologiediskurse gibt, wäre ein Rückgriff auf diese einfachen Darstellungen von Günther Anders am Beginn des Medienzeitalters aber durchaus hilfreich, um die komplexe und vernetzte Medien- und Technologiegesellschaft auf ihre historischen Ursprünge zurückführen zu können, denn nur so sind die Auswirkungen auf den Menschen in psychologischer, sozialer und politischer Hinsicht wieder sichtbar und begreifbar zu machen.
Die Mythologisierung seiner von ihm immer wieder zur Schau gestellten raschen Auffassungsgabe, die uns auch in der Frage Hiroshima begegnen wird, war ein Versuch, die Einzigartigkeit seiner damaligen Erkenntnisse zu betonen. Die Geschwindigkeit, mit der er die mediale Veränderung der Welt erfaßte, war aber nur deswegen möglich, weil er mit seiner Phänomenologie des Fernsehens, also des In-die-Ferne-Sehens, an seine Studien in Freiburg bei Edmund Husserl und schließlich an seine nie publizierte Habilitation zu den musikalischen Situationen anknüpfen konnte, in der er sich ja gerade mit der Frage beschäftigte, was geschieht mit einem Menschen, der hört, der der Musik lauscht. Dieselbe Frage stellte er sich schon im Zusammenhang mit dem Radio und seiner Studie Spuk und Radio, die bereits 1930 noch unter seinem Namen Günther Stern publiziert wurde und wo er Teile seiner späteren Erkenntnisse über das Fernsehen vorwegnahm, zum Beispiel die für alle Menschen gleichzeitige Wahrnehmung ein und desselben Musikstückes überall dort, wo der gleiche Sender eingestellt ist.
Günther Anders setzte also sein Denken konsequent auch in Bezug auf das Medium Fernsehen um und stellte sich die Frage: Was geschieht mit dem Menschen, wenn er in die Ferne sieht? Was sieht er? Was macht das Fernsehen mit ihm und umgekehrt, was macht der durch das neue Medium in seinem sozialen und politischen Verhalten veränderte Mensch mit der Technik? Wie wirkt das eine auf das andere? Er stellte eine Wechselwirkung zwischen den Geräten, Maschinen und seinen Produzenten her, die schließlich in seinen berühmten Satz mündete: Wir können uns das, was wir herstellen, nicht mehr vorstellen. Kaum einer von uns kann heute noch sagen, wie der Fernseher in all seinen Einzelheiten funktioniert, wie er hergestellt wird, wie das Bild auf den Schirm kommt beziehungsweise wie wir als Kollektiv die Entwicklung der multimedialen Technik Jahr für Jahr weitertreiben, ohne daß wir begreifen würden, welche unserer eigenen Handlungen zu welchem Ergebnis im Gesamtsystem der Technik führt. Denn eines hat Günther Anders als erster sehr früh erkannt, der einzelne Fernseher, das einzelne Gerät, die einzelne Maschine sind nicht das Problem, sondern in ihrer sich ergänzenden Wechselwirkung sind sie ungeheur effizient und weil es Amüsiermaschinen sind, auch so beliebt.
Ein wesentliches Element, an dem Günther Anders seine Theorie festmachte, war die Nachricht als Ware. Nachrichten präsentieren im Fernsehen keine Fakten mehr, sondern sind bereits selbst beurteilte und vorverurteilte Meinungen. Diese Vor-Urteile werden durch die technische Bearbeitung der Nachrichten bei der Kameraführung, beim Filmschnitt, bei der Inhaltsauswahl hergestellt. Der Konsument, also der Fernseher (das Wort hat ja eine Doppelbedeutung, es bezeichnet im Deutschen das Gerät und den Betrachter), der Zuschauer, der Informationskonsument erhält also eine bereits gefilterte Information. Fernsehen ist in diesem Sinne einerseits eine Welt produzierende Maschine, andererseits aber selbst Teil der Welt, durch die sie in die Lage versetzt wird, Welt zu produzieren. Das erinnert stark an das über den Menschen und seine Weltfremdheit Gesagte. Der Mensch ist Teil der Welt und selbst ein Stück Weltproduzent. Es war nur logisch und konsequent gedacht, daß Günther Anders diesen Prozeß der Dialektik auch auf die Maschinenzivilisation anwendete und der vom Menschen geschaffenen Maschine ebenfalls Weltfremdheit attestierte.
Schon bald nahm die weltfremde Maschine auch in unseren Wohnzimmern Platz, drängte sich in unsere Familien und ist von dort seitdem nicht mehr verschwunden. Im Gegenteil! Das Fernsehen und die multimediale Gesellschaft haben alle Lebensbereiche durchdrungen. Jeder kann das in seinem Alltag überprüfen. Der Fernseher steht meist im Zentrum des Raumes, oder die Einrichtung wird so gewählt, daß die Medienanlage (Fernseher, DVD, Video, CD-Player usw.) ihre einzige und zentrale Funktion, uns zu unterhalten, optimal erfüllen kann und effizient zur Geltung kommt. So sehr der Fernseher den räumlichen Mittelpunkt bildet, so wenig ist er es in sozialer Hinsicht: "Schon vor Jahrzehnten hatte man beobachten können, daß das soziale Symptommöbel der Familie: der massive, in der Mitte des Zimmers stehende, die Familie um sich versammelnde Wohnzimmertisch seine Gravitationskraft einzubüßen begann, obsolet wurde, bei Neu-Einrichtungen überhaupt schon fortblieb. […] Nun erst ist er durch ein Möbel abgelöst, dessen soziale Symbol- und Überzeugungskraft sich mit dem des Tisches messen darf; was freilich nicht besagt, daß TV nun zum Zentrum der Familie geworden wäre. Im Gegenteil: was der Apparat abbildet und inkarniert, ist gerade deren Dezentralisierung, deren Ex-zentrik; er ist der negative Familientisch. Nicht den gemeinsamen Mittelpunkt liefert er, vielmehr ersetzt er diesen durch den gemeinsamen Fluchtpunkt der Familie." (Anders 1956:106) Die Familie saß zwar damals (heute längst nicht mehr) noch gemeinsam vor dem Bildschirm, aber jeder war für sich alleine, jeder konsumierte die Nachricht, die Unterhaltungssendung für sich. In diesem Feld entstand das, was Günther Anders den Masseneremiten nannte: "Die Schmids und die Smiths konsumieren die Massenprodukte nun also en familie oder gar allein; je einsamer sie waren, um so ausgiebiger: der Typ des Massen-Eremiten war entstanden". (Anders 1956:102)
Das Wesentliche dabei ist aber nicht eine Weltaskese, eine Abkehr von der Welt, sondern im Gegenteil, wir verharren vor dem Fernseher, um ja nichts von den Ereignissen in der Welt zu verpassen. Wir wollen uns damit nicht abkoppeln, sondern Teil dieser Welt sein, bleiben und, wenn wir es nicht mehr sind, wieder werden. Nun ergeben sich nach Günther Anders daraus aber mehrere Problemfelder: Erstens verändert das Fernsehen das Verhältnis von Nähe und Ferne: "Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe." (Anders 1956:105) Diese Umkehrung des Verhältnisses von Nähe und Ferne hat weitreichende politische und soziale Folgen für das Zusammenleben der Menschen, wie sich heute immer deutlicher zeigt. Die Ferne ist das Weite, das am Horizont des Meeres Ins-Nichts-Gerückte, das nur vage oder gar nicht Sichtbare beziehungsweise Erkennbare. Das Ferne geht auf Distanz zum Betrachter, es ist auch das Fremde, das Noch-nicht-Gekannte, auf einer Reise der Punkt, an den wir gelangen möchten, das Ziel aller Sehnsüchte und Ängste, letztlich der Endpunkt des Lebens, der in zeitlicher Ferne liegende Tod. Ferne kennzeichnet also ein räumliches wie zeitliches Distanzverhältnis. War es früher so, daß die Ferne, das Entfernte, das Hinter-den-Bergen-bei-den-sieben-Zwergen-Liegende, das sagenumwobene Fremde, meist als gefährlich und oft als barbarisch bezeichnet wurde und das Nahe als das Heimische, das Eigene, das Gute und Alltägliche, so kehrt sich dieses Verhältnis in der multimedialen Kultur um. Das Ferne oder besser der/die ferne Person, das ferne Bild, die ferne Information wird uns zum Maß für das Ideale, das Eigene, das Heimische. Nehmen wir nur das Internet, die Chatrooms und Talkshows. Im multimedialen Zeitalter – der letzten aller historischen (also menschlichen, also modernen) Epochen – erscheint uns das, was am Bildschirm (TV- oder Computermonitor) vor sich geht, nahe, vertraut und unserem Lebensalltag angemessen. Wir finden Sexual- und Lebenspartner per Chatroom, wir holen uns Informationen vom Bildschirm (nur einen Mausklick entfernt) und wir lassen uns von Talkmastern in allen Lebensbereichen beraten, belehren und führen.
Widerstand ist in dieser fernen Welt nicht möglich. Sicherlich könnte ich den Fernseher oder Computer abschalten. Noch. Denn wer wird seinen Arbeitsplatz, seine sozialen Bindungen aufrechterhalten, wer seine Alltagsgeschäfte erledigen können, wenn er seinen Monitor, der den Blick in die Ferne freigibt, am Morgen nicht unter Strom setzt. Die Zukunft der multimedialen Zivilisationsverweigerer sieht nicht rosig aus: ein Leben in Armut und Isolation. Die Ferne wurde in den letzten dreißig Jahren zum gesellschaftlichen Maß, an dem sich alle/alles messen müssen/muß. Unter diesem Aspekt legte Günther Anders‘ frühe Medientheorie auch den Grundstein für das, was er später in den achtziger Jahren als den Totalitarismus der Medien bezeichnete und in seiner Einführung zum Buch Welt ohne Mensch 1984 nochmals aufgriff und neuerlich radikalisierte und verschärfte: "Was ich meine, ist allein, daß wir durch den heimlichen Totalitarismus der Medien in der sog. "freien Welt" dazu gezwungen sind, uns für ‚frei‘ und für 'Gegner des Totalitarismus' zu halten." (Anders 1984b:XIX)
Darüberhinaus wohnt dem Fern-sehen von vornherein noch kein Erkenntnisprozeß inne. Wer nur in die Ferne sieht, wird noch lange nichts sehen. Er wird zwar wahrnehmen, vielleicht sogar noch aufnehmen, aber hat er deswegen schon erkannt? Erst wenn ein Mensch mir nahe kommt, kann ich ihn unterscheiden, ihn als jemanden, den ich kenne, erkennen oder ihn eben als unbekannt klassifizieren. In der Ferne bleibt er vage, unkenntlich und fremd. Das In-die-Ferne-Sehen kann durchaus die Phantasie anregen, Überlegungen provozieren, diese sind aber immer spekulativ, unüberprüfbar. Die Entfremdung, der wir ausgesetzt sind, wenn wir in die Ferne sehen, seit wir begonnen haben, uns aus den germanischen, keltischen und gallischen Dorfstrukturen zu entfernen, ist jene der Distanzierung. Wir distanzieren uns von dem, was uns heimisch ist, von der Gruppe, dem Kollektiv.
Die Distanzierung macht den Menschen aber auch sprachlos, wie Günther Anders es formulierte. Dem Masseneremiten folgte auf dem Fuß der Stammler, denn die Familienmitglieder reden nicht während des Fernsehens, und Fernseher liefern ja nicht nur ein mit Vor-Urteilen behaftetetes Bild, sondern auch eine mit Vor-Urteilen behaftete Sprache der Wirklichkeit: "Da uns die Geräte das Sprechen abnehmen, nehmen sie uns auch die Sprache fort; berauben sie uns unserer Ausdrucksfähigkeit, unserer Sprachgelegenheit, ja unserer Sprachlust – genau so wie uns Grammophon- und Radiomusik unserer Hausmusik beraubt." (Anders 1956:107)
Und diese Beraubung der Ausdrucksfähigkeit hat eine zutiefst politische Konsequenz, denn da die Beraubung im nichtpolitischen, also nichtöffentlichen Raum stattfindet, weiß der eine vom Diebstahl beim anderen nichts. Das Zusammentreffen von passivem Konsum der Wirklichkeit, von Welterfahrung und vorurteilsbehafteter Information durch das Fernsehen, hinterlegt mit dem Phänomen des Masseneremiten, führt zu einer Entpolitisierung, zu einer Entideologisierung der Menschen und der Gesellschaft: "Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Menschen ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt. Findet die Prozedur des ‚conditioning‘ bei jedermann gesondert statt: im Gehäuse des Einzelnen, in der Einsamkeit, in den Millionen Einsamkeiten, dann gelingt es noch einmal so gut." (Anders 1956:104)
Auch das Kino wurde oft mit dem Fernsehen verglichen. Doch Kino ist etwas anderes. Es ist mehr als nur Unterhaltung, es macht Kunst möglich, es entwickelt eine eigenständige Ästhetik, und es ist ein in sich geschlossener Vorgang, ähnlich einem Buch. Ein Kinofilm hat einen eindeutigen Anfang und ein ebensolches Ende. Wir müssen den Kinosaal verlassen, wenn der Film zu Ende ist. Im Kino bewegen wir uns noch in der Welt, im Fernsehen bewegt sich die Welt um uns, denn Fernsehen endet nie, außer in der Frühzeit des Fernsehens in Österreich, als der Bildschirm nach Mitternacht mit einem Testbild versorgt wurde. Insofern war das Testbild ein Meilenstein in der Fernsehunterhaltung: billig, funktionell, permanent einsetzbar und unterhaltend.
Wie schon im Radio, wo Musik, Diskussionen, Nachrichten und Hörspiele sich abwechseln ohne Ende, hat das Fernsehen dies fortgesetzt und mit Unterhaltung durchsetzt; selbst das Wetter ist unterhaltsam und spannend geworden, als ob es für einen Städter (und die Mehrzahl der Menschen lebt heute in Städten) irgendeine Bedeutung hätte, ob es regnet oder die Sonne scheint. Der Unterschied liegt höchstens in der Frage: Soll ich einen Regenschirm mitnehmen oder nicht? Im Fernsehen wird der Wetterbericht jedoch zu einer fundamentalen, täglich aufs neue die Nerven aufreibenden Nachricht hochstilisiert, zu einer Information, ohne die unser Leben an Sinn verlieren würde. Im Fernsehen wird also das Bedeutungslose noch zur Unterhaltung und so mit Bedeutung angereichert.
Mag sein, daß uns das Fernsehen, wie Neil Postman (1985) formulierte, zu Tode amüsiert, weil es keinen Zugriff auf Inhalte bietet. Aber das ist ja nur ein Teil der Geschichte. Mittlerweile müßte die These von Neil Postman im Lichte der multimedialen Telekommunikationsnetzwerke ergänzt werden durch den Satz: Wir informieren uns zu Tode. In der multimedialen Telekommunikationsgesellschaft wird dem Hören (Radio), dem Sehen (TV) und der Ästhetik (Kino) auch noch die Information (Computertechnologie) hinzugefügt, und wir werden auf Knopfdruck mit Informationen überschüttet, so, wie wir im Fernsehen mit Unterhaltung zugepflastert werden. Die Suchmaschinen im world wide web sind Ausdruck dieser User/Benutzerüberforderung. Die Zukunft gehört denjenigen Menschen, die in der Lage sind, Informationen zu sortieren, zu analysieren, zu filtern und neuerlich zur Verfügung zu stellen. Und damit könnten wir mit Postman schreiben: Problematisch an den multimedialen Netzwerken ist nicht, daß sie uns über Themen informieren, problematisch ist, daß sie jedes Thema als Information präsentieren.
Die Informationsgesellschaft ist die Quadratur der Distanz, denn die Information ist nichts wert ohne ihre Bewertung, Bearbeitung, Umarbeitung, Zerstückelung und Veränderung. Aber dieser Vorgang setzt Denken voraus. Und Denken findet bei mir, in meiner Nähe, in meinem Kopf statt. Das Besondere ist ja nicht die Technologie hinter der Information, sondern daß sie auf uns Menschen trifft, die wir durch das Fernsehen bereits so auf Distanzierung gedrillt sind, daß uns das Fehlen von Nähe gar nicht mehr auffällt. Wir sind es so gewohnt, fern zu sehen und uns fern zu informieren, so daß wir das, was wir vor Ort sehen, was uns vor Ort informiert, gar nicht mehr wahrnehmen und in Erkenntnis verwandeln können. Solidarität per Internet mit den Zapatistas in Mexiko, den Erdbebenopfern in der Türkei, den Kriegsgeschädigten in Ex-Jugoslawien, auch mit dem Nachbarn, sofern er sich im Internet befindet, ist leichter herzustellen als mit Mitarbeitern im eigenen Betrieb, einem Inhaftierten in den heimischen Gefängnissen oder den Opfern sozialer Repression im eigenen Land. Besonders hilflos sind wir, wenn uns diese Menschen auf der Straße begegnen, uns die Hand entgegenhalten und uns um etwas bitten, um eine Gefälligkeit, um ein paar Almosen oder um ein Gespräch. Diese Menschen kommen uns nahe, sie sind plötzlich anwesend in unserem Leben – keine Oberflächen mehr und keine Bilder, sondern reale Körper, die uns bedrängen, die uns herausfordern, zu denen es uns nicht gelingt, Distanz herzustellen. Trainiert auf Distanz, können wir Nähe nicht mehr ertragen. Das körperlich Anwesende ist zu nahe, zu wenig unterhaltsam und viel zu informativ. Denn die nahen Opfer fordern von einem vom Geist des Humanismus durchtränkten Individuum eine moralische Tat, ein Handeln. Das ferne Opfer fordert vielleicht eine Geldspende, möglicherweise eine schriftliche Solidaritätsbezeugung, aber selten eine moralisch-körperliche Stellungnahme, keinen Einsatz des Lebens, der sozialen Stellung oder des beruflichen Ansehens. Die Distanzierung der multimedialen Kultur kann also auch als die Überwindung der humanistisch-aufgeklärten Moderne gesehen werden.
Die Fragen der Aufklärung, also jene nach kritischer Vernunft, müssen daher neu gestellt werden, denn Kritik ist dort nicht mehr möglich, wo Information nicht mehr in Wissen transformiert, also verarbeitet, in Erkenntnis verwandelt werden kann, weil sie sofort von neuen Informationen hinweggespült wird, in kurzer Zeit veraltet, noch bevor sie im Denken eine gewisse Selbständigkeit erlangen kann, um mit Michel Foucault zu sprechen, der schreibt: "Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden." (Foucault 1992:12) Nicht dermaßen regiert werden wollen heißt aber auch, nicht als wahr annehmen, was eine Autorität im Radio, im Fernsehen, im Internet als wahr ansagt, oder nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe, es anzunehmen, selber für gut, richtig und überprüfbar befindet. Nur so können Informationen auch in der Telekommunikationsgesellschaft Autoritätscharakter entwickeln. Informationen sind auch in der Mediengesellschaft nicht wertneutral, nur weil die Befürworter der neuen Technologien behaupten, diese demokratisierten den Zugang zur Welt und vereinfachten die Informationsweitergabe. Alle Information wird von jemandem in die Welt gesetzt, der ein bestimmtes Ziel damit verfolgt: Informationen sind also im weitesten Sinne auch ideologische Wahrheiten oder Unwahrheiten. So, wie das Fernsehen eine neue Definition von Wahrheit hervorgebracht hat, hat auch das world wide web eine Art von Wahrheit hervorgebracht. Das Kriterium für die Wahrheit einer Information ist heute die Information selbst. Überprüfung scheint uns nicht mehr unbedingt notwendig, da wir die Information ohnehin sofort wieder weitergeben oder sie in ein System mit anderen Informationen einlagern. Die im telekommunikativen Universum vorhandenen Informationen werden so aus ihrem Entstehungskontext herausgelöst und wertlos. Erst wenn wir sie bearbeiten, überprüfen und verarbeiten, erhalten Informationen wieder einen Wert. Dazu müssen sie aber kritisch hinterfragt werden. Nur wenn wir Informationen in Wissen verwandeln, wird es möglich, von den Medien und ihrer Vor-Verurteilungspolitik nicht regiert und letztlich nicht beherrscht zu werden.
Kritik ist also die Verarbeitung, Bewertung, Verwertung und Umsetzung von Informationen, ist ein Aneignungsprozeß, der über das einfache Sehen, das Hören, also das Wahrnehmen, hinausgeht. Die Bildschirme (TV- oder Computermonitore) sind Wahrnehmungsapparate, die dort, wo es sich nicht um Diskurs (also Frage- und Antwortspiele; chatrooms, newsgroups) handelt, keine Kritik mehr zulassen. Eines Tages wird uns der Monitor so selbstverständlich sein (ich meine, er ist es schon), daß wir ihn wie einst das Buch als Informationsgeber akzeptieren und nicht mehr kritsich befragen. Dann wird unsere Gesellschaft ein weiteres Stück Distanz zwischen uns und die Welt gelegt haben. Dies jedoch wäre ein Schritt in die Totalisierung der Distanz, denn das Buch hat nie Zugriff auf unsere Alltagsgeschäfte (Liebe, Sexualität, Beziehung, Einkauf, Freizeit) genommen. Es hat uns angeregt, aufgeregt, erregt, aber uns nicht auf eine totalitäre Weise vereinnahmt. Im telekommunikativen Universum verbirgt sich die Gefahr eines totalitären Pluralismus, weil dort in kongenialer Weise Unterhaltung und Information zu einem Gesamtuniversum verschmelzen, zu einer Art von Welterfahrung zusammenwachsen, die noch dazu den Anschein erweckt, als wäre diese Welt jederzeit neu programmierbar, neu herstellbar, also jederzeit ersetzbar. Und das für mich wirklich Verblüffende ist, es liegt eine Faktizität in dieser Fiktion. Damit wird aus einer science-fiction eine real-fiction. Ein neues Universum ist geschaffen, das sich permanent selbst erzeugt, und wir müssen mit und in ihm leben. Wir sind Menschen ohne Welt geworden, nicht weil wir zu viele Welten zur Verfügung haben, sondern weil wir uns ausschließlich einer unterwerfen müssen, der Welt der Medien, mit der und durch die wir leben.
All dies und noch viel mehr beschrieb Günther Anders bereits in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und kam damit ganz sicherlich zu früh. In die Mediendebatte Deutschlands ging sein Werk beinahe gar nicht ein, weil zu diesem Zeitpunkt sein Engagement für Hiroshima und Vietnam längst seine medienpolitischen und medienphilosophischen Einsichten überlagerte. Im amerikanischen Diskurs kam er nicht vor, weil seine Thesen auf deutsch verfaßt sind. Die englische Übersetzung wurde von ihm nicht autorisiert und konnte daher auch bis heute nicht erscheinen. Ein weiterer Aspekt, warum die Medientheorie von Günther Anders nie wirklich Fuß fassen konnte, lag und liegt auch in ihrer Radikalität, mit der sie den Menschen in Beziehung zu seinen Fernsehern, und später zu seinen Maschinen setzt. Konrad Paul Liessmann bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, daß das Reality-TV von heute, mit seinem Bekenntnisgequatsche, seinen Selbstdarstellern, Echtzeitverfilmungen und dem Versuch, der Wirklichkeit im Fernsehen Realität zu verleihen, nur die logische Konsequenz ist, daß der Weltproduzent Fernsehen selbst Welt werden will, also sich selbst zum Angelpunkt aller Wirklichkeit machen will: "Reality-TV bringt so nicht die Wirklichkeit, aber das Wesen des Fernsehens zum Vorschein – und das seiner Zuseher. Wahrscheinlich ist genau dies das Anstößige daran. Die Einschaltziffern für diverse Sendungen sind nämlich auch ein Indikator für den psychischen und geistigen Zustand einer Population. Das Problem dabei ist nicht, ob es Gewalt, Sex und Katastrophen im Fernsehen gibt; das Problem ist, ob man sich von Menschen mitregieren lassen will, die Gewalt, Sex und Katastrophen im Fernsehen lieben. Die Mediendemokratie kennt, wie jede Demokratie, nur ein Tabu: das Volk. Günther Anders hat an diesem Tabu gerüttelt. Verziehen hat man ihm das bis heute nicht." (Liessmann 2002:101-102)
Günther Anders hatte im Exil aber nicht nur an diesem Tabu gerüttelt, sondern auch den Zweifel ausgesprochen, daß auf Grund der medialen und technischen Entwicklung der Gesellschaft der Mensch nicht mehr das Zentrum der Welt sei. Das Exil gab ihm, auf Grund einer gewissen Abgegrenztheit zum europäischen Denken, die Möglichkeit, seine in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelten Thesen und Texte zu überprüfen, manches vor der Vollendung zu verwerfen, wenn es ihm nicht mehr haltbar schien. Viele seiner Texte blieben Fragmente oder wurden als Gesamtdokumente nie publiziert und ruhen heute noch im Nachlaß. Er empfand dies aber durchaus nicht als Defizit, sondern als Glücksfall für sich selbst, da es ihm, der so früh, zu früh, wie er oft betonte, vom Lesen zum Schreiben kam, dadurch vergönnt war, seine Position noch einmal zu überprüfen: "Welch beneidenswerte Chance, sich zu fragen, ob, was man schrieb, wirklich benötigt war, und für wen man es schrieb! Welche Gelegenheit, Halbgeratenes zu stutzen, ins Stocken Geratenes fortzuwerfen und dadurch im Rucksack Platz für Stiefel oder Brot freizubekommen. Welch ein Glück, etwas schief Angelegtes in einem irgendwo liegenbleibenden oder von irgendeiner Behörde idiotisch requirierten Handkoffer so endgültig zu verlieren, daß es einem als corrigendum nicht mehr weitere Vorwürfe machen konnte!" Darüber hinaus war ihm durch das Exil vergönnt gewesen, seinen ganz persönlichen, eigenen Ton beim Schreiben zu finden: "Wenn drei, vier von den zufällig Aufgesparten heute, wie man so sagt, ‚schreiben können‘: Wenn sie gelernt haben, für die Ohren, die sie erreichen wollen, denjenigen Ton zu finden, der diese Ohren wirklich erreicht; für den Punkt, den sie zu treffen wünschen, dasjenige Wort, das nur diesen Punkt trifft; und für den Zusammenhang, den abzubilden sie für nötig halten, diejenige Syntax, die nur diesen Zusammenhang abbildet – dann verdanken sie diese Beherrschung ihres Handwerks der Chance, daß sie so lange chancenlose Lernzeit hatten genießen dürfen." (Anders 1985b:92-93)
In diesem Sinne ging 1945 die Lehr- und Lernzeit von Günther Anders zu Ende. Er hatte seinen Stil und seinen Namen gefunden. Was jetzt noch fehlte, war ein großes Thema. Und er sollte nicht lange darauf warten müssen.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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