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Aus dem Homeoffice eines Unbrauchbaren IX
Ich stelle mir vor, es ist Krieg und jeder geht hin


Es herrscht Krieg, rufen die Menschen aufgeregt. Es ist Krieg! Bei unseren Nachbarn brennen die Häuser. Bei unseren Freunden hocken die Menschen in Kellern und der Bombenhagel fällt in ihr Leben wie Regen an einem trüben Novembertag. Die mediale Welt ist aufgeregt wie lange nicht. Die Propagandamaschinen der Welt laufen auf Hochtouren. Die Spendenkonten füllen sich. Menschen auf der Flucht. Leid wohin man blickt.

Ich bin entsetzt, wie die Geschichte sich zu wiederholen scheint. Nein, doch eher bestürzt, denn bisher hat man mir gesagt, Geschichte wiederhole sich nicht. Aber die Bilder ähneln sich doch sehr. Die Filme und Filmchen, die sich über die sozialen Netzwerke hermachen, wie ein Luftlandegeschwader, zeigen zerbombte Städte, brennende Industrieanlagen, zerfetzte Häuser, die mit aufgerissenen Leibern aneinandergereiht wie weidwunde Tiere an den Straßen liegen. Zerstört, abgesiedelt, unbrauchbar. Wie sich die Bilder ähneln: Vietnam, Bagdad, Afghanistan, Jugoslawien, Syrien und nun die Ukraine.

Wir rufen: Es ist Krieg! Es ist Krieg! Aber was ist anders als an all den anderen Kriegen. Was ist das besondere Schreckniss in diesem Krieg. Warum sollte mich dieser Krieg mehr in Schrecken versetzen als all die anderen Kriegen, die seit meiner Geburt eine Schneise der Verwüstung durch meine Welt gezogen haben. Das Schreckliche für mich ist, dass wir bis auf die Zähne bewaffnet sind und immer behauptet haben, dass unsere Militärs Verteidigunsgarmeen wären. Wie rasch sich eine Verteidigungsarmee in eine Angriffsformation verwandeln kann, sieht man am Einmarsch Russlands in die Ukraine und das noch viel Schrecklichere ist, dass unsere Armeen nicht mehr gewillt sind, einem Land, das von einer vormals Verteidigungsstreitmacht überollt wird, zu Hilfe zu kommen. In den Kasernen bleiben, gut Speisen und sich die Bäuche vollschlagen, wie in Freidenszeiten und dann, wenn sie ihren Sold, den sie auf den vorausgezahlten Tod einlösen sollen, weigern, ins Feld zu ziehen. Wie erbärmlich kann eine Armee denn noch sein. Vielleicht sollten wir damit aufhören, unsere Armeen zu besolden, dann würden Kriege mangels an Personal von selbst enden und all die entlassenen Soldaten könnten wir in unbewaffneten Nothilfeorganisationen unterbringen.

Die Geschichte wiederholt sich also doch nicht. Das Schreckniss besteht also nicht darin, dass unsere Armeen in den Krieg ziehen, sondern im Gegenteil, dass sie zu Hause bleiben. Vor dreißig Jahren war das anders. Da lauschte ich einer heftigen Diskussion in einer Privatwohnung, in der darüber diskutiert wurde, ob man die Waffen der Serben, die auf den Kessel in Sarajevo feuerten, ausschalten sollte. Ich war dafür. Der Aggressor war bekannt. Heute dreißig Jahre später, ist der Aggressor ebenso bekannt, aber unsere Armeen, die wir für diesen Einsatz seit Jahrzehnten füttern und nähern, die hochgerüstet auf ihre Chance warten, zu zeigen, was sie können, die viel gelobten Söldnertruppen, die im Dienste unserer Nationen ein Schattendasein fristen, wagen nicht einen einzigen Panzer der Russen in der Ukraine zu beschießen, weil sie selbst in einen Krieg hineingezogen werden könnten. Wie absurd: Ist das nicht ihr eigentlicher Zweck? Krieg zu führen, wenn Krieg herrscht?

Wir erleben den Offenbarungseid der westlichen Welt. Einer Welt, die sich eine freie Welt nennt. Ich bin aus diesem Grund kein Soldat geworden. Ich bin nicht gewillt, für eine freie Welt zu kämpfen, die in ihrem Kern nichts weiter ist als die Freiheit der Reichen, die Freiheit der eigenen Interessen. Jetzt, da umfassende militärische Solidarität gefragt ist, lehnt man sich zurück und bekämpft den Feind mit den Methoden des Kapitalismus. Wirtschaftssanktionen. Das ist, was den westlichen, freien Staaten einfällt. Sie nehmen in Kauf, dass Menschen bombardiert werden, weil sie sich nicht mit den Russen anlegen wollen. Sie geben ein paar Dollar und Euro ab und fühlen sich noch gut dabei, weil sie ein paar Cent mehr an der Tankstelle für ihr Privatvergnügen eines Wochenendausfluges bezahlen müssen, und so können sie sich erste Reihe fußfrei das Geschehen live im Fernsehen ansehen. Wir müssen nicht einmal auf unser geliebtes Kinopopcorn und ein kaltes Bier verzichten. Im Grunde ist es wie bei einem Fußballspiel, nur dass dabei nicht ein rundes Leder im Mittelpunkt steht, sondern Menschenleben, ein friedliches Miteinander. Es ist, als ob wir Netflix schauen, genauso irreal und ebenso bedeutungslos. Wir zahlen eben unseren Preis dafür, eine Art Abogebühr, damit wir passiv bleiben können, neutral, wie es so schön heißt. Mit Geld kann man sich ja bekanntlich alles kaufen, seit jetzt auch in Kriegszeiten ein gutes und friedvolles Gewissen.

Das war vor dreißig Jahren noch anders. Damals lag das Reich des Bösen jedoch am Boden. War mit sich selbst beschäftigt. Galt als leichte Beute. Der Westen, die freie Welt, das kapitalistische Europa und seine kapitalistischen Verbündeten lachten sich ins Fäustchen und dachten, der Endkampf ist zu ihrem Endsieg geworden. Manche beschworen gar das Ende der Geschichte. Wie leicht man sich täuschen kann. Weder die Geschichte ist zu Ende noch der Krieg, der seit ich geboren wurde, in mir haust wie ein unausrottabres Geschwür. In mir wuchert, an allen Ecken und Enden meines Denkens. Kein Jahrzehnt ohne Kriegserklärung. Kein Jahr ohne Schlachten. Kein Tag ohne Krieg. Deshalb suche ich die Stille, um dem Kanonendonner in der Welt zu entgehen.

Wenn ich mir was wünschen dürfte, in diesen finsteren Zeiten, die noch dunkler sein werden, als alle Zeiten, die wir bisher kannten, würde ich mir wünschen, dass wir aufhören aufgeregt zu schreien: Es ist Krieg! Es ist Krieg!, denn das ist nichts Neues unter der Sonne, das tue ich seit ich bewusst denken kann und man möge mir vergeben, dass ich nicht genug dazu getan habe, ihn zu beenden.

Wenn ich mir was wünschen dürfte, in diesen finsteren Zeiten, dann wünschte ich, wir alle würden uns vorstellen, jeden Tag herrscht Krieg und jeder ginge hin, egal ob männlich, weiblich, divers oder was auch immer man sei. Stellen wir uns vor, es ist Krieg und jeder geht hin, denn sollte die Losung Gandhis uns auch nur irgendwann einmal mehr als nur eine leere Worthülse gewesen sein, wenn wir sie in den Mund genommen haben, dann heute, hier und jetzt, in der Ukraine. Wir können nicht mit Waffengewalt einmarschieren, ohne eine Konfrontation mit einer Supermacht wie Russland zu riskieren. Korrekt. Aber stellen wir uns vor, wir alle machen uns auf den Weg nach Kiew, unbewaffnet, wie damals Gandhi 1930 auf seinem Salzmarsch ans Arabische Meer, denken wir wirklich, Putin würde uns alle niedermetzeln. Möglicherweise. Aber wir Europäer wären dann vielleicht das, was wir immer behaupten, was wir sein würden, eine Schutzmacht. Nationen mit Verteidigungsarmeen. Endlich könnten wir beweisen, was unsere Rhetorik wert ist. Was uns unsere pazifistische Haltung, die wie wir ein Mantra vor uns hertragen, wert ist.

Woran es scheitern wird, davon kann ich sprechen. Wir scheitern an unserer pazifistischen Rhetorik, denn vielmehr ist es heute nicht mehr, was von Gandhi in uns übriggeblieben ist. Rhetorik. Wir stellen unsere Körper nicht mehr in den Dienst des Friedens. Wir denken, dass Herrschaftseliten mit Wirtschaftssanktionen in die Knie gezwungen werden können. Was wir dabei vergessen, ist, Putin genug Kapital hat, um einen Kriegssommer und einen Kriegswinter zu überleben. Und bis die Sanktionen wirken, ist die Ukraine dem Erdboden gleich gemacht.

Wenn wir nicht wagen, unsere Armeen, die wir für diese finsteren Zeiten nähren, einzusetzen, dann schafft sie doch ab. Ich war immer der Überzeugung, Krieg lässt sich nur verhindern, wenn man die Welt radikal und nachhaltig entmilitarisiert, die Menschen entwaffnet, Schwerter zu Pflugscharen schmiedet. Wenn Putin eines bewiesen hat, dann die Richtigkeit der Annahme, dass jede Verteidungsarmee sich über Nacht in eine Angriffsarmee verwandeln kann.

Also, wer das Maul aufreißt und von den Schrecknissen des heutigen Krieges gegen die Ukraine schwadroniert, muss zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer kriegerischen Welt leben und in einer derartigen Welt auch unser Nachbar irgendwann betroffen sein wird und vielleicht eines Tages wir selbst. Vielleicht ist die Aufgeregtheit so groß, weil wir genau das erkannt haben. Einmal mehr in der Geschichte. Und wir mit unserer Aufgeregtheit genau diese Erkenntnis verdrängen können und wollen. Und wir Boomer, die wir besondere Pazifisten sind, lebten und liebten in dieser kriegerischen Welt, als wäre sie ein ewiger Friede. Und jetzt, dreißig Jahre nach dem Ende des Balkankrieges, geschieht es wieder. Mehr noch, denn wir haben uns die Losung der heutigen Weltordnung zu eigen gemacht. Wir scheuen den Krieg, weil wir wissen, dass wir in ihm umkommen können und werden. Wir scheuen ihn, weil er uns betrifft, unmittelbar. Wir scheuen ihn, weil wir verabsäumt haben, uns für die Demilitarisierung der Welt konsequent und nachhaltig einzusetzen. Und wir erkennen, was Putin mit dem Krieg in der Ukraine historisch bewirken wird, die Aufrüstung der westlichen Welt, die Rüstungsspirale unserer nationalen Armeen voranzutreiben und damit wird der nächsten Krieg vorbereitet, die nächste nationale Armee auf den Weg gebracht, die ihre Verteidigungskräfte in Angriffskräfte verwandelt, eines Tages. Das wird Putins Vermächtnis sein, die endgültige Erkenntnis, dass Armeen immer Angriffsarmeen sind, auch wenn sie sich in Friedenszeiten als Verteidigungskräfte tarnen.

Ich halte es mit Günther Anders, der einst als vierzehnjähriger Junge im Angesicht des Ersten Weltkrieges schrieb: Es ist Krieg! Es ist Krieg! Der Friede ist immer geschieden. Ich sage heute: Ich lebe von Geburt an in einem unerklärten Krieg, seit Anbeginn begleitet mich der Krieg durch meine hellen Nächte und meine dunklen Tage, denn er ist ewig und niemand ist bereit ihn zu beenden, heißt, die Waffen strecken, abrüsten, demilitarisieren, bis in unsere eigene Welt hinein, in unsere Beziehungen, unsere Freundschaften, unser Leben.

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eingestellt: 5.3.2022 | zuletzt aktualisiert: 5.3.2022
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