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Mittwochs-Reflexion | 2023|32
Über die Unreformierbarkeit des österreichischen Schulsystems - Das Leistungsprinzip


In unsere Gesellschaft herrscht das Leistungsprinzip und wir Lehrer*innen sind von diesem Prinzip durchdrungen wie kaum eine andere gesellschaftliche Berufsgruppe. Ein zentrales Gesetz unserer Schule trägt den Titel Leistungsbeurteilungsverordnung. Dieses unheilvolle Wortungetüm charakterisiert unsere Schule wohl wie kaum ein anderes Gesetz und macht bei näherer Betrachtung klar, warum unser Schulsystem nicht veränderbar ist, wenn wir nicht bereit sind, grundlegende Fundamente unseres Schulsystems in Frage zu stellen. Dieses zentrale Gesetz unserer Schule beinhaltet eine wesentliche Unterscheidung: Die Leistungsbeurteilung und die Leistungsfeststellung

Und hier beginnt bereits ein zentrales Problem unseres derzeitigen Bildungssystems, denn in dem 24 Paragraphen umfassenden Gesetz wird an keiner einzigen Stelle definiert, was wir Lehrer*innen, die wir eine Leistung feststellen und beurteilen sollen, unter einer Leistung zu verstehen haben. Es wird wie von selbst vorausgesetzt, dass jeder einen Begriff von Leistung hat, welcher der allgemeinen und gewollten Vorstellung von Leistung in der Schule entspricht. Aus meiner siebjährigen Erfahrung in diversen Lehrer*innenzimmern kann ich allerdings berichten, dass beinahe jede*r Lehrer*in eine andere Vorstellung davon hat, was Leistung sei. Und diese Vorstellung von Leistung bestimmt auch den Zugang zur Arbeitsleistung der Schüler*innen und damit auch deren Beurteilung, welche manchmal in einer Art von Urteil endet, in den schlimmsten Fällen sogar zu einer Verurteilung und schließlich zu Demütigungsprozessen führt, denen Schüler*innen durch Lehrer*innen ausgesetzt werden.

Diese meine Erfahrung speist sich nicht nur aus einer siebenjährigen Erfahrung mit Lehrer*innen im Lehrer*innenzimmer, sondern auch aus einer dreizehnjährigen Erfahrung als Schüler, der vielfältigen Lehrer*innenbeurteilungssystemen und -verurteilungssystemen ausgesetzt war. Ein Blick in meine Schulnoten und die Sammlung einiger der Aussagen meiner Lehrer*innen über meine schulischen Leistungen zeigen deutlich, dass von meinen Leistungsmöglichkeiten und Leistungswillen durchaus auf meine Persönlichkeit geschlossen wurde. Obwohl dies laut Gesetz eigentlich ausgeschlossen werden müsste, da das soziale Verhalten und der persönliche Charakter oder die moralischen Wertvorstellungen von Schüler*innen nicht Teil der Beurteilung sein dürfen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bevor wir uns jedoch damit beschäftigen, was Leistung überhaupt ist, denke ich, müssen wir uns mit dem Begriff des Lernens beschäftigen und dem Ziel des Lernprozesses, der angeblich in der Schule im Mittelpunkt allen Handelns steht. Schule hat sich ja nicht in einem gesellschaftlichen und sozialen Vakuum entwickelt. Schule ist immer auch ein Spiegelbild der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich habe den Verdacht, dass das Ziel der heutigen Schule, trotz aller Beteuerungen von Bildungspolitiker*innen, Wirtschaftstreibenden und Innovationsgurus, nicht die Förderung des selbstständigen Denkens ist, das ja letztlich immer zur Infragestellung herrschender Systeme führt, sondern die Herstellung möglichst offener, menschlicher Passformen, die an verschiedensten Fronten unseres Wirtschaftssystems nutzbringend einsetzbar sind. Dafür sollen sie ausreichend selbstständig Denken können, aber eben nicht so viel denken, dass sie die Gesellschaft insgesamt in Frage stellen können. Sie sollen über ausreichend Wissen verfügen, aber nicht so viel wissen, dass sie sich in widerständige Bürger*innen verwandeln.

Schule soll also ein Instrument sein, dass jenes Wissen vermittelt, das Schüler*innen zu gut funktionierenden und kreativen Geistern erzieht, die im Sinne des politischen Mainstreams ihre Pflicht erfüllen und eben keine Revolutionäre. Darin liegt auch der Grund dafür, dass Lehrer*innen eben genauso ticken müssen wie jene Schüler*innen, die sie produzieren sollen. Sie müssen Fachwissen mitbringen, sie müssen das System verstehen, aber sie dürfen es unter keinen Umständen in Frage stellen. Das ist auch der Grund, warum ich denke, dass sich mit den derzeitig wirkenden Lehrer*innen weder eine Schulreform geschweige denn eine Bildungsrevolution umsetzen lässt.

Zurück zum Problem der Leistung und ihrer Feststellung und Beurteilung. Ich unterstelle, nach oben Gesagtem, dass wir eine gemeinsame Vorstellung von dem haben, was Leistung eigentlich ist, um überhaupt darüber sprechen zu können und nicht augenblicklich im persönlichen Sumpf der Definitionen zu versinken. Ich habe aber verwirrend viele Definitionen von Leistung gefunden: einen physikalischen Begriff von Leistung, einen wirtschaftlichen, einen psychologischen, einen rechtlichen, einen volkswirtschaftlichen und siehe da - auch einen schulischen.

Eine dieser Definitionen lautet: Als Schulleistung wird das intellektuelle, physische und künstlerische Lernergebnis nach Aneignung eines schulischen Lernstoffes bezeichnet. In diesem Lernergebnis spiegeln sich jedoch auch die Arbeit, die Energie und die Zeit, die Schüler*innen in dieses Ergebnis investiert haben und eben nicht nur das Lernprodukt, also was Lehrer*innen gemeinhin als gefestigtes Wissen bezeichnen. Und was genau beurteilen wir nun, wenn wir diese Leistung beurteilen? Wenn wir ehrlich und aufrichtig mit unserer eigenen Lehrleistung sind, dann ist es in den meisten Fällen ein Lernergebnis, also das Erreichen eines bestimmten Lernziels. Aber dieses Lernergebnis sagt ja nichts über die individuellen Möglichkeiten von Schüler*innen aus bzw. wie sie zu diesem Ergebnis gekommen sind. Manche haben wenig Energie zur Verfügung (aus biologischen oder sozialen Gründen), andere wenig Zeit (aus familiären und psychologischen Gründen), wieder andere haben eine andere Arbeitsmoral (also einen anderen Leistungsbegriff), als die, welche von ihren Lehrer*innen erwartet und vorgegeben wird.

Wir beurteilen also nicht den Prozess und die sozialen Möglichkeiten, mit denen Schüler*innen in diesen Prozess hineingehen, sondern immer nur das Ergebnis. Aus leidvoller, eigener Schulerfahrung weiß ich, dass diese psychischen, physischen und sozialen Voraussetzungen und Vorbedingungen jedoch ein wesentlicher Faktor sind, ob Schüler*innen in unserem Schulsystem erfolgreich sind oder nicht. Ein Professor an der Uni Salzburg hat, nachdem ich über meine Schulerfahrungen berichtet habe, gesagt, es sei ein Wunder, dass ich in unserem Bildungssystemroulette so weit gekommen bin. Und er hatte Recht. Aus mir wurde nicht wegen unseres Schulsystems ein Akademiker, Schriftsteller und Lehrer, sondern trotz dieses Systems. Und diese Erfahrung hat mich als Lehrer geprägt. Ich hadere mit der Leistungsbeurteilungsverordnung, weil ich kein Verfechter des kapitalistischen und bürgerlichen Leistungsprinzipes bin. Das physikalische Leistungsprinzip ist mir wesentlich näher als das ökonomische.

Zum Schluss noch ein Wort, was zu tun wäre: Leistung und Ergebnis haben in Lernprozessen unmittelbar mit Zeit zu tun. Und das, was wir in unseren Schüler*innen wecken wollen und laut Verfassung auch sollten, ist selbstständiges Denken.

Doch das Erlernen von Denkprozessen erfordert nicht nur Zeit, sondern vor allem Energie. Und wenn wir unseren Schüler*innen, egal welcher Schulstufe, diese Zeit nicht zur Verfügung stellen und ihnen nicht die Möglichkeit geben, positive Energie in der Gesellschaft für diese Prozesse zu tanken, wird keine noch so gut technologisch ausgestattete Schule, keine noch so gut pädagogisch arbeitende Lehrkraft und keine noch so gute Unterrichtsmethode dazu führen, dass das Urteil, das wir am Ende eines Schuljahres fällen, den Leistungen der Schüler*innen gerecht wird.

Von einer Sache bin ich zutiefst überzeugt: Unsere Leistungsbeurteilungsverordnung führt nicht zur einer Einschätzung darüber, was Schüler*innen in der Lage wären zu leisten, sondern wozu sie auf Grund der Rahmenbedingungen ihrer sozialen Herkunft, ihrer biologischen Disposition und der Zeit, die ihnen zur Verfügung gestellt wird, in der Lage gewesen sein werden, zu leisten. Und wären wir wirklich gewillt, unser Bildungssystem zu reformieren, müssten wir zur Erkenntnis gelangen, dass wir uns zuallererst mit dem Leistungsbegriff unseres derzeitigen gesellschaftlichen Systems auseinandersetzen müssen, der im Grunde unseren gesamten Alltag durchdringt. Ein solcher Diskurs wäre aber für unser Schulsystem mehr als nur ein Reformvorhaben, sondern eine Revolution.


Zum Abschluß noch ein Gedanke, warum es zu dieser Revolution nicht kommen wird, eben weil in unserem Schulsystem immer nur die Leistung der Schüler*innen beurteilt und die Leistung der Lehrer*innen immer außen vorgelassen wird. Zu keiner Zeit meines bisherigen Daseins als Schüler, Student und Lehrer habe ich erlebt, dass Lehrer*innen eine Leistungsbeurteilung für ihre Lehrleistung bekamen. Einmal im System angenommen und aufgenommen, dem Lehrer*innenzimmer einverleibt, werden Lehrer*innen nie wieder von unabhängiger Seite daraufhin überprüft, wie wirksam ihre Lehrmethoden sind. Nie wieder werden sie in ihrer beruflichen Kompetenz in Frage gestellt. Nie wieder wird überprüft, ob ihre in einem anderen Jahrzehnt erlernten Lehrmethoden für die Zeit, in der sie angewendet werden, noch tauglich sind. Der Maßstab nach dem die Lehrkompetenz von Lehrer*innen bemessen, ist die Selbstevaluierung der eigenen Kompetenz durch die Lehrkraft selbst. Das wäre so, als würde man Schüler*innen die Beurteilung ihrer Kompetenz nach Aufnahme und Annahme im Schulsystem ebenfalls selbst überlassen. Daher stellt sich die Frage, ob nicht auch Lehrer*innen einmal im Jahr beurteilt werden sollten, ob sie ins nächste Schuljahr aufsteigen dürfen, da ja die Lehrleistungen der Lehrer*innen, ihre Methoden, ihre Didaktik, ihre soziale Kompetenz, ihre politisch-moralische Geisteshaltung einen nachhaltigen Einfluss auf Schüler*innenkarrieren und damit auf den Leistungswillen und die Leistungsmöglichkeiten von Schüler*innen und damit auf ihre Lernergebnisse haben.

Meine beinahe vierzigjährige Erfahrung an verschiedenen Stellen des Bildungssystems legt daher folgendes nahe: Gescheiterte Schulkarrieren beginnen zwar oftmals schon in der Familie, aber ganz sicher in den Volksschulen, setzen sich in Mittelschulen und in den Unterstufen der Gymnasien fort, in denen wir Schüler*innen wie pawlowsche Hunde mit "Leckerlies" darauf trainieren, korrekte Leistungen und Leistungserwartungen zu erfüllen. Das Prinzip des "Leckerlies", in Form von Mitarbeitsplus und guten Noten, verfestigt sich im Laufe der Zeit so weit, dass Schüler*innen, die in meinem Unterricht landen, nur noch leistungswillig und leistungsbereit sind, wenn ich sie belohne.

Wir Lehrer*innen sind die Dealer*innen eines der größten Verhaltensexperimente aller Zeiten, denn wir erziehen unsere Kinder dazu, nur zu springen, wenn es einen "Preis" zu gewinnen gibt. Das "Bildungsleckerlie" ist irgendwann wichtiger, als das Lernziel selbst. Und haben wir unsere Kinder erst einmal dazu gebracht, dieses Prinzip zu verinnerlichen, sind sie bereit für den Arbeitsmarkt, für die Lohnarbeit, für die Pflichterfüllung im ökonomischen Kriegsgebiet.

Das führt mich zu einem weiteren, einem wesentlichen Grund, der für die Unreformierbarkeit des Schulsystems spricht: der Lehrer*innenschaft.
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eingestellt am: 22.11.2023 | zuletzt aktualisiert: 22.11.2023
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