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Marie Langer
31. 8. 1910 Wien | Buenos Aires 22. 12. 1987



Das argentinische Experiment | Psychoanalytische und politische Praxis

Psychoanalyse hat neben der institutionellen auch eine theoretisch-sozial-wissenschaftliche und eine therapeutische Erscheinungsform, die von den Analytiker/inne/n auf Sigmund Freud und andere Begründer/innen zurückgeführt werden und von diesen interpretiert, weiterentwickelt, institutionalisiert und/oder mißbraucht werden können - durchaus auch im ideologischen Sinne. Marie Langer nimmt in dieser theoretischen und methodischen Auseinandersetzung ebenfalls eine bedeutende Rolle ein, auch wenn diese, auf Grund ihres Wohnortes in Argentinien und später in Mexico, in Europa nur wenig wahrgenommen wurde. Marie Langer war immer der Meinung, daß die Ideologie und das damit in Verbindung stehende Heilungskonzept, von dem aus sich die Analytiker/innen der psychoanalytischen Theorie und Methode nähern, ihre Haltung gegenüber ihren Patient/inn/en und ihre Theorieauslegung beeinflußt.

Im Falle Marie Langers ist der ideologische Standpunkt beinahe klassisch kommunistisch-marxistisch, was den dialektischen Denkansatz mit einschließt und, damit verbunden, die Wahrnehmung der Psychoanalyse in ihrer gesellschaftlichen Dimension. Aus dieser ideologischen Position sind auch ihre von der orthodoxen Auslegung der Psychoanalyse abweichenden Bewertungen zu verstehen, die sie zu neuen, sehr praxisorientierten Konzepten führten. Im folgenden möchte ich zuerst diejenigen Problemkreise in der psychoanalytischen Theorie- und Methodenbildung aufsuchen und ihre Bedeutung klären, die für das Verständnis von Marie Langers Position notwendig sind.

Im theoretischen Bereich werde ich mich vor allem mit der Frage der philosophischen und moralischen Konzeption und den daraus resultierenden Problemfeldern der Psychoanalyse auseinandersetzen, da diese für eine marxistische und stark gesellschaftspolitische Psychoanalysekritik von großer Bedeutung sind. Im methodischen Bereich werde ich mich vor allem mit der Frage nach der Ideologie in der therapeutischen Situation, also mit der Frage der Neutralität beschäftigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich persönlich Marie Langer nicht für eine große Theoretikerin halte. Ihre Arbeiten aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren zur analytischen Gruppentherapie und zu Fragen weiblicher Lebenszusammenhänge sind zwar durchaus beachtlich, aber ihre größere Leistung ist doch eher auf einer politisch-methodischen Ebene zu suchen, vor allem in ihrer Kritik am rigiden Ausbildungssystem. In der psychoanalytischen Theoriebildung bewegte sie sich sehr in freudschen Konzeptionen und bezog sich in einer erweiterten Form auf die theoretischen Entwürfe von Melanie Klein, ohne jedoch kritiklos jene Glaubensgrundsätze der analytischen Familie hinzunehmen, die sich nach dem Tod Sigmund Freuds rasant entwickelten. Vor allem was die drei Defizite (Utopie-, Vertrauens- und Demokratiedefizit) der Psychoanalyse betrifft, bietet Marie Langer in ihrem später noch zu beschreibenden argentinischen Experiment interessante Ansatzpunkte zu deren Aufhebung. Zuerst möchte ich aber zeigen, wie sich die drei Defizite entwickelten.


Im Prozess der Institutionalisierung der psychoanalytischen Bewegung entstanden in den nationalen Vereinigungen drei Fachgebiete und die dazugehörenden Institutionseinheiten: Theorie (wissenschaftliche Publikationsorgane und Kongresse), Ausbildung (Lehr- und Patient/inn/enanalysen) und Verwaltung (Vereinigungen). In jeder dieser Institutionseinheiten bildeten sich nun eigene spezifische Defizite heraus, die mit einander in Verbindung tretend verhängnisvolle Wechselwirkungen entfalteten, die jenen Irrgarten ergeben, aus dem es schwer ist, einen Weg nach außen zu finden. (Miller 1988:231)

Nun zum ersten Defizit - dem Utopiedefizit, das im Zusammenhang mit der theoretischen Psychoanalyse steht, also bereits am Beginn der psychoanalytischen Bewegung etabliert wurde. Dieses Utopiedefizit ist meiner Meinung nach auch eine Ursache, warum sich eine unpolitische, im Sinne von unparteiische Psychoanalyse überhaupt entwickeln konnte, die es den Analytiker/inne/n schließlich auch ermöglichte, sich in methodischer Hinsicht als neutral zu definieren. Während meiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wurde ich das Gefühl nicht los, daß die von Freud entwickelte Methode weniger am Subjekt Mensch, sondern mehr an seiner Objektseite, also am Menschen als Forschungsgegenstand, interessiert war und ist; was vielleicht aus der naturwissenschaftlich-medizinischen Wissenschaftstradition resultiert, an der die Psychoanalyse sich immer schon orientierte. Damit ist auch eines der zentralen Probleme der Psychoanalyse thematisiert, daß sie nämlich gleichzeitig eine philosophisch-sozialwissenschaftliche Theorie und therapeutische Heilmethode ist, was die Notwendigkeit mit sich bringt, den Patient/inn/en einen Objekt- und einen Subjektstatus zuzusprechen, um beiden Bereichen gerecht werden zu können.

Ich bin nun versucht zu sagen, daß in der Entwicklung der Psychoanalyse und bei den ausübenden Analytiker/inne/n oft der Forscherdrang, also die Untersuchung des Objektcharakters Mensch (Frau und Mann) wichtiger war als die Heilungsnotwendigkeit für das Subjekt Mensch. Der Mensch (hier ist der Gattungsbegriff gemeint) und seine seelischen Prozesse sollen also eher der Psychoanalyse nützen und nicht unbedingt die Psychoanalyse dem Menschen. Sigmund Freud selbst hat diesen Geist der analytischen Familie, der sich durch die Institutionalisierung und Orientierung an medizinischen Konzepten noch verstärkte, schon sehr früh (1904) auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein; in Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf ferner ein gewisses Maß an natürlicher Intelligenz und ethischer Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in das Seelenleben des Kranken befähigt. (Freud 1969:12-13)

Bei wertlosen Personen läßt das Interesse den Arzt im Stich, jenes Interesse (das durchaus auch ökonomischer Natur ist), das die Patient/innen erst in den Genuß der therapeutischen Methode bringt. Es ist also nicht das Bedürfnis der Patient/inn/en ausschlaggebend, sondern jenes der Analytiker/innen. Erklärtes Ziel der Psychoanalyse ist es also nicht in erster Linie zu heilen, sondern unbewußtes Material bewußt zu machen und damit die Theoriebildung zu fördern. Mit der Bewußtwerdung ist der Heilungsprozeß jedoch für die orthodoxe Psychoanalyse abgeschlossen und der Mensch fähig, sein Leben zu bewältigen. Diesen Glaubensgrundsatz möchte ich nun als Utopiedefizit bezeichnen, da er sich lediglich auf vergangene Prozesse bezieht und den Menschen immer unter dem Aspekt der Kindheitsentwicklung betrachtet, denn die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu lösen bestrebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln ausdrücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man kann sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen: es seien alle Verdrängungen rückgängig zu machen; der psychische Zustand ist dann derselbe, in dem alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine andere Fassung: es handle sich darum, das Unbewußte dem Bewußtsein zugänglich zu machen, was durch Überwindung der Widerstände geschieht. (Freud 1969:11)

Die Verdrängung bestimmter Erlebnisse und die daraus entstehenden Krankheitsbilder resultieren aber aus ganz spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, die von der freudschen Therapie unberührt bleiben. Sigmund Freud formuliert auch in diesem Zusammenhang sehr früh ein Problem, das die Psychoanalyse bis heute bestimmt. Psychische Prozesse und das Unbewußte werden also aus sich selbst erklärt, da nur vergangene Verdrängung als relevant erachtet wird - der gesellschaftliche Einfluß auf das Individuum endet also bei der Adoleszenz. Ganz anders dazu die Meinung von Marie Langer: Das wäre ein Ansatz. Ein anderer wäre der von Sartre vorgeschlagene: während für die Marxisten der Mensch dann anfängt zu existieren, wenn er seinen ersten Lohn empfängt, beschäftigt sich Freud mit der Entwicklung des Menschen von seiner Geburt an bis um einiges vor diesem Zeitpunkt. Nun, wo sind da die Berührungspunkte? Auf der einen Seite in der Familie, die in der Gesellschaft eingebettet ist, die die Mitglieder, die diese Gesellschaft braucht, erzieht und unterwirft. Deshalb ist die Familie ein sehr wichtiges Bindeglied und die psychoanalytische Theorie erlaubt es, zu sehen, wie die Gesellschaft durch die Familie in das Individuum eindringt: durch das Über-Ich, das Ich-Ideal und die Identifikation in der ödipalen Phase. (Langer 1986:200)

Mit Utopiedefizit meine ich, daß für die Menschen allein durch das Aufdecken der unbewußten, weißen Erinnerungsflecken noch keine Lebensperspektive für sie in dieser Gesellschaft entsteht. Die Grenzen der analytischen Methode, die aus einer Überbewertung der Theorie und hier vor allem der freudschen Sexualtheorien resultieren, liegen also nicht nur in den unbearbeitbaren Krankheitsbildern der Menschen begründet, sondern in der Leugnung der sozialen Realität, also der vielfältigen Beziehungsprozesse zwischen Menschen, die auch außerhalb der frühkindlichen Familienbeziehungen vom Kind erfahren werden. Die psychoanalytische Methode kann vielleicht Symptome heilen, ihre Ursachen bleiben in der oben beschriebenen Auslegung jedoch erhalten, weil sie außerhalb des psychoanalytischen settings liegen, außerhalb des autonomen psychischen Befindens des Individuums, nämlich in der gesellschaftlichen Realität. Insofern ist Simone de Beauvoirs Kritik an der Psychoanalyse nicht von der Hand zu weisen, wenn sie sagt, daß es ein entscheidender Fehler sei, die psychischen Prozesse des Menschen als autonomes, aus sich selbst erklärbares Modell zu verstehen. Nämlich dadurch, daß sie das Unbewußte und das gesamte psychische Leben in sich einbezieht, legt uns bereits die Sprache der Psychoanalyse die Überzeugung nahe, daß das Drama des Individuums sich in ihm selbst vollzieht: Ausdrücke wie Komplex, Tendenzen usw. schließen diese Vorstellung ein. Ein Leben aber ist eine Beziehung zur Welt; indem das Individuum sich durch die Welt hindurch wählt, entscheidet es über sich; zu der Welt müssen wir uns wenden, um Antworten auf die Fragen zu finden, die uns beschäftigen. (Beauvoir 1968:59-60)

Marie Langer kommt aus ihrer sozialen und beruflichen Position, sie ist ja Psychoanalytikerin, jedoch nicht zur Schlußfolgerung Simone de Beauvoirs und verwirft die Erkenntnisse der Psychoanalyse, sondern nimmt das Unbewußte als Teil dieser Welt an und versucht, in ihrer Arbeit das Utopiedefizit auszugleichen, indem sie die gesellschaftlich-ideologische Realität einbringt. Dadurch entwickelt die analytische Technik nicht nur ihre latent vorhandene Heilung als Anpassungsstrategie, sondern macht die Menschen auch fähig, zu erkennen, welcher Teil ihrer Krankheit aus psychischen und welcher aus gesellschaftlichen Defiziten resultiert. Nur so werden Menschen fähig, wie Simone de Beauvoir sagt, sich durch die Welt hindurch zu wählen, ihre permanente Selbstbeschuldigung aufzugeben, die Entscheidungskompetenz zurückzuerlangen, um dadurch sich selbst und die Gesellschaft besser erkennen, akzeptieren und vielleicht verändern zu können.

Das Utopiedefizit, auf theoretischer Ebene etabliert, wirkt also auf der therapeutischen Ebene weiter. Im therapeutischen Bereich nehmen die Beziehungen, die zwischen den Analytiker/inne/n und Patient/inn/en bestehen, einen besonderen Raum ein. Und in dieser Beziehung sind die Vorstellungen vom Analyseziel, also von dem was jede/r der Beteiligten als Erfolg oder auch Heilung wertet, von entscheidender Bedeutung. Wie Marie Langer nun aber feststellt, variiert die Auffassung von psychischer Gesundheit von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Klasse zu Klasse und diese Auffassung hat nicht nur eine ideologische, politische und soziale Basis (...), sondern sogar eine sexistische. (Langer 1986:200) Ich würde hinzufügen, daß diese Auffassung auch von Individuum zu Individuum variiert, was auch zwischen Analytiker/inne/n und Patient/inn/en zu Mißverständnissen führen kann. Die Auffassung von psychischer Gesundheit, die die Analytiker/innen als gegebenes Übereinkommen in der Therapie voraussetzen, hängt stark von ihrer weltanschaulichen Haltung ab, gegen die sich Patient/inn/en in der Regel nicht zur Wehr setzen können, weil sie durch die Begriffe Widerstand und Neutralität mundtot und handlungsunfähig gemacht werden. Marie Langer meint nun, daß der weltanschaulichen Haltung der Analytiker/innen im therapeutischen Prozeß eine besondere Rolle zukommt, denn es ist nicht unwesentlich, ob die Analytiker/innen den Menschen lediglich als biologisches Individuum mit einer autonomen psychischen Präsenz ansehen, das in der einen oder anderen Form psychische Defizite aufweist, die aus seiner Vergangenheit resultieren und daher für die Heilung lediglich beseitigt werden müssen; oder aber als Individuum, das sich in einer sozialen Realität aus Beziehungen zwischen Frauen-Frauen-Männern-Männern bewegen, die diese psychische Präsenz mit mehr oder weniger Gewalt erst konstituieren.

In der einen Position wird der Ausdruck des Psychischen als gegeben hingenommen, in der anderen auch die Entstehung des Unbewußten als Arbeit eines gesellschaftlichen Prozesses verstanden. Das Analyseziel und damit der Heilungserfolg ist verbunden mit der Haltung der Analytiker/innen und ihrer Patient/inn/en gegenüber der sozialen Realität. Analytiker/innen, die ethnische, sexistische und klassistische Fragestellungen gleichermaßen in der Therapie zulassen wie frühkindliche Sexualentwicklung bzw. Verdrängungsprozesse und die politisches Engagement nicht in jedem Fall als Therapiewiderstand werten, werden die Analyseziele nicht nur als bloße symptomatische und charakterologische Wandlungen, als verstärktes Wachstums-Potential, als bessere Objektbeziehungen, als mehr Vergnügen am Leben, als weniger Elend formulieren, sondern die Patient/inn/en durchaus befähigen wollen, zu erkennen, welchen Anteil die gesellschaftlichen Verhältnisse an der Entstehung des jeweiligen Krankheitsbildes tragen. Da die Gesellschaft von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent variiert, wird auch das Ziel der Analyse ein unterschiedliches sein. In der nordamerikanischen Gesellschaft, wo alles dem freien Markt und seinen Notwendigkeiten untergeordnet wird, hat die Psychoanalyse bis heute eher die Wirkung einer Anpassungstherapie entwickelt: Für Freud liegt das Ziel einer guten Psychoanalyse darin, daß es dem Patienten gelingt, besser zu lieben und zu arbeiten. Freud behandelt Patienten der Mittel- und Oberschicht, und das Kriterium ‚besser zu arbeiten’ kann anpassend sein oder nicht, je nach Klassenzugehörigkeit, nach Art der Arbeit, usw. (Langer 1986:206)
Dies führt mich zum zweiten Defizit der Psychoanalyse, dem Vertrauensdefizit, das eine Folge des Utopiedefizits darstellt und vor allem im Zusammenhang mit der angewandten Psychoanalyse (Therapie) zu sehen ist. Sigmund Freud entwickelte sein Modell der Triebfunktionen (auf dem ja große Teile der therapeutischen Arbeit basieren) in drei Kategorien. Laut seiner Theorie besteht der psychische Apparat aus drei Teilen, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich (bzw. Ich-Ideal). Während das Es die eigentliche Lebensabsicht des Einzelwesens ausdrückt, die darin besteht, seine mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen (Freud 1972:11), kommt die funktionelle Wichtigkeit des Ichs (...) darin zum Ausdruck, daß ihm normalerweise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt sind. Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. (...) Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrigbleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre. (Freud 1975/III:294) Das Über-Ich, das sich im Zuge des Ödipuskomplexes herausbildet, tritt nun an die Seite des Es, und vertritt die bedeutsamsten Züge der individuellen und der Artentwicklung, ja, indem sie dem Elterneinfluß einen dauernden Ausdruck schafft, verewigt sie die Existenz der Momente, denen sie ihren Ursprung verdankt. (Freud 1975/III:302f)

Auf diese Einsichten gründet sich nun Sigmund Freuds Heilungsplan, denn er meint: Das Ich ist durch den inneren Konflikt geschwächt, wir müssen ihm zu Hilfe kommen. Es ist wie in einem Bürgerkrieg, der durch den Beistand eines Bundesgenossen von außen entschieden werden soll. Der analytische Arzt und das geschwächte Ich des Kranken sollen, an die reale Außenwelt angelehnt, eine Partei bilden gegen die Feinde, die Triebansprüche des Es und die Gewissensansprüche des Über-Ichs. Wir schließen einen Vertrag miteinander. Das kranke Ich verspricht uns vollste Aufrichtigkeit, d.h. Verfügung über allen Stoff, den ihm seine Selbstwahrnehmung liefert, wir sichern ihm strengste Diskretion zu und stellen unsere Erfahrung in der Deutung des vom Unbewußten beeinflußten Materials in seinen Dienst. Unser Wissen soll sein Unwissen gutmachen, soll seinem Ich die Herrschaft über verlorene Bezirke des Seelenlebens wiedergeben. In diesem Vertrag besteht die analytische Situation. (Freud 1972:32)

Sigmund Freud hätte nun auf Basis seiner Entdeckungen über den Aufbau des psychischen Apparates durchaus eine prägnante Kulturtheorie entwickeln können, indem er diesen Kriegszustand als Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt. Er schließt den psychoanalytischen Vertrag mit den Patient/inn/en aber nicht, um einen Ausgleich zwischen diesen drei Kategorien herbeizuführen, sondern um das Ich gegen die beiden anderen zu stärken. Dies hat nun weitreichende Konsequenzen nicht nur für die Theoriebildung, sondern auch für die Therapie und in weiterer Folge für die Entstehung der psychoanalytischen Bewegung. Denn jenes von Sigmund Freud mit unbewußten und bewußten Anteilen definierte Ich, existiert für ihn an-sich. Das Ich ist also ein aus biologischen und sozialen Bedingungen konstruierter Lebensentwurf, indem das Individuum Mutmaßungen darüber anstellt, wie es sein möchte. Doch das, was es sein möchte, ist Produkt des Einflusses, den die gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen auf dieses Ich ausüben. Das Es entzieht sich auf Grund seiner Triebenergie, seiner biologischen Präsenz diesen Wertvorstellungen, ebenso wie das Über-Ich, dessen moralische Präsenz diese Wertvorstellungen wortgetreu vollziehen muß und sie damit ad absurdum führt.

Für die bürgerliche Gesellschaft, aus der Sigmund Freud hervorgegangen ist und innerhalb deren Normen er seine Erfindung etabliert, bedeutet dies nun, daß eine freie, von den Bedürfnissen der Triebe (Hunger, Durst, Lust) bestimmte Lebensform ebenso unerwünscht ist, wie der radikale Vollzug der von ihr aufgestellten moralischen Wertsysteme (Gleichberechtigung, Demokratie, Menschenrechte). Es (Trieb) und Über-Ich (Ideologie) bieten in ihrer Kombination dem Ich unzählige Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe an, um so die herrschenden Machtverhältnisse zu verändern.

Sigmund Freud folgt nun aber nicht dieser utopischen Spur, die in seinem Konzept liegt, sondern entscheidet sich in seiner Therapieform, in seinem Heilungsplan für die konservative Variante, für jene, die in die Vergangenheit gerichtet ist. Sigmund Freud entscheidet sich in seinem berühmten Satz: Wo Es war, soll Ich werden, nun für die bestehende Ordnung der Dinge. Meiner Meinung nach hätte Sigmund Freud, hätte er den Heilungsvertrag tatsächlich im Sinne der Patient/inn/en geschlossen, und nicht für die Psychoanalytiker/innen, seinen Satz: Wo Es war, soll Ich werden, weiterführen müssen, indem er sagt: wo Ich war, soll wieder Es und Über-Ich werden. Denn das Es und das Über-Ich sind nicht die Feinde des Ich. Im Gegenteil, sie schützen es vor den eigenen Ansprüchen, die Produkt der gesellschaftlichen Realität sind. Sie schützen es vor allem vor der Vereinzelung, die im Konsumkapitalismus unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Das Es strebt zu anderen, das Über-Ich versucht sich gegen die anderen zu behaupten, aber das Ich strebt nur nach sich selbst, nach dem, was uns unsere individualistische Gesellschaft glauben machen will, das wir wirklich sind: authentische Einzelwesen im Wettstreit um die besten Plätze in der modernen Konsumgesellschaft. Die Zielvorgaben für ein Menschenleben haben sich jedoch grundlegend geändert, denn man denkt nur noch daran, seine Lebenszeit optimal auszunutzen und alle Fähigkeiten ins Spiel zu bringen. Wer einige seiner Möglichkeiten brachliegen läßt, begeht ein unverzeihliches Verbrechen gegen den neuen Kapitalismus des Ichs. (...) Mangelnde Fähigkeiten und Neigungen werden einem unglücklichen, einem ‚blockierten‘ Ich angerechnet, und deshalb muß man auf das Ich hören, es eingehend betrachten, es auseinandernehmen, damit man imstande ist, es zu begreifen. Das Ich ist Gegenstand des Kultus und der Kultur, weil man völlig auf das Ich gesetzt hat. Von ihm erwartet man, daß es Freude, Glück, Ruhm und vielleicht sogar Unsterblichkeit bringe, und man erwartet das mit größerer Selbstverständlichkeit als von irgendwem oder irgendetwas sonst. Es ist deshalb unser größter Ehrgeiz, unser Ich zu einem Meisterwerk zu machen, das von allen beneidet und bewundert wird. (Badinter 1991:238-239)

Also kann ich anschließend an dieses Zitat nur nochmals wiederholen: Wo Es ist, soll Ich werden, ist eine gute Sache, aber ebenso notwendig ist es, daß dort, wo Ich geworden ist, wieder Es und Über-Ich werden können. Nur wenn das individuelle und kollektive Triebschicksal und die individuelle Schuldproblematik wieder in den gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhang der Menschen zurückgeführt wird, kann es tatsächlich zu einer Heilung kommen.

Es ist natürlich legitim, die psychoanalytische Situation im Sinne Sigmund Freuds zu definieren, nur muß den Psychoanalytiker/inne/n gleichzeitig klar sein, daß damit der gesamte Heilungsplan in Frage gestellt wird und somit die Patient/inn/en letztlich doch die Betrogenen sind. Der psychoanalytische Betrug besteht darin, daß den Patient/inn/en glaubhaft versichert werden soll, daß der Bürgerkrieg sich in ihnen selbst vollzieht, ohne dabei zu erwähnen, daß die Bürgerkriege der Seele doch nur Ergebnis von viel bedeutenderen und weiterreichenden Bürgerkriegen außerhalb ihres psychischen Apparates sind, Ergebnis eines sexistischen, rassistischen und klassistischen Gesellschaftssystems, das die Menschen durch perfide Unterdrückungsmechanismen krank macht. Dabei soll nicht übersehen werden, daß Sigmund Freud die Menschen in die Lage versetzt, auf eine Weise über ihr Sexualleben zu sprechen, die vor Erscheinen seiner Schriften undenkbar war. Doch indem er den Schwerpunkt von der wirklichen, von Trostlosigkeit, Elend und Grausamkeit geprägten Welt auf eine innere Bühne verlegte, auf der Schauspieler vor einem selbstgeschaffenen, unsichtbaren Publikum erfundene Dramen darstellen, markierte er den Beginn einer Entwicklung, die sich von der Realität entfernt hat und dadurch meines Erachtens zur Ursache für die Sterilität geworden ist, unter der die Psychoanalyse und die Psychiatrie heute weltweit leiden. (Masson 1986:169)

Ein an sich positiver Ansatz, nämlich jener, daß der Mensch in der Therapie gegen den Trieb (Es) ebenso wie gegen das gesellschaftlich-moralische Gewissen (Über-Ich) gestärkt werden soll, verwandelt sich im Prozeß der Erfindung der Psychoanalyse in eine reaktionäre Theorie, weil das Individuum letztlich in der Realität, sobald es die Therapie verläßt, auf sich selbst gestellt bleibt. Die Psychoanalytiker/innen werden somit zu Heilungsagent/inn/en, Mechaniker/innen und Kompliz/inn/en unserer modernen, patriarchalen Gesellschaft. Der Heilungsplan, von dem Sigmund Freud spricht, dient daher nur der Anpassung an das alltägliche Unglück. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, daß weite Teile der Bevölkerung am Ende des 20. Jahrhunderts ihre psychische Präsenz im Vokabular der Psychoanalyse formulieren und dadurch in erster Linie sich selbst für ihre Neurosen und Psychosen verantwortlich machen und durchaus auch von Therapeut/inn/en dafür verantwortlich gemacht werden. Vor allem in unsere Alltagssprache hat sich ein psychoanalytisches Vokabular eingeschlichen: Herr Jedermann denkt in Begriffen wie ‚krank’, ‚neurotisch’ oder ‚psychopathisch’. Sein ‚Es’ wird in regelmäßigen Abständen auf den ‚Todeswunsch’ überprüft, sein ‚Ich’ auf ‚Schwäche’. Menschen, die ihn ablehnen, sind ‚egozentriert’. Sein ‚Kastrationskomplex’ ist für ihn eine genauso feststehende Tatsache, wie das ‚verdrängte’ Bedürfnis, mit der Mutter zu schlafen. Selbstverständlich war er früher, oder auch jetzt noch, in ‚Geschwisterrivalität’ verstrickt, und Frauen sind ‚neidisch’ auf seinen Penis. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß er jede Banane oder Bratwurst als ‚Phallussymbol’ erkennen und seine Ehekräche und Scheidungsaffären in diesem Psycho-Slang abwickeln wird. (Firestone 1975:43)

Nur eine kleine Minderheit von Unentwegten (zu denen ich auch Marie Langer zähle) war und ist nicht mehr bereit, diesen Betrug zu akzeptieren, verweigert die Erforschung des Ich zu Gunsten einer Erforschung der Verbindung zwischen dem Ich und den herrschenden Machtverhältnissen. Beide stehen in Wechselwirkung zueinander, eines ist Resultat des anderen und daher kann Heilung nicht alleine dadurch erzielt werden, daß wir lediglich uns selbst erforschen, unser Ich stärken. Das auf theoretischer Ebene etablierte Utopiedefizit wirkt in der therapeutischen Situation als Vertrauensdefizit weiter und begünstigt als Demokratiedefizit in den organisatorischen Verwaltungseinheiten der psychoanalytischen Bewegung die Entwicklung einer Herrschaftsform, die die gesellschaftliche Position der Psychoanalytiker/innen absichern soll. An dieser Stelle möchte ich mich nun näher mit den Statuten der WPV beschäftigen, die antidemokratisch und hierarchisch entwickelt wurden und bis zum Gegenkongreß 1969 in Rom in dieser Weise bestehen blieben. Es gibt im Verein drei wichtige Organisationseinheiten, die beinahe vollkommene Entscheidungsgewalt besitzen: Vorstand, Generalversammlung und Schiedsgericht. Der fünfköpfige Vorstand wird von der Generalversammlung gewählt. Diesen beiden Organen ist das Schiedsgericht beigeordnet, das Streitigkeiten innerhalb des Vereines beilegen soll. Innerhalb des Vorstandes kam es schon am Beginn zu einer entscheidenden Differenzierung zwischen dem Obmann-Posten und dem wissenschaftlichen Vorsitzenden. Diese Differenzierung war notwendig geworden, nachdem Sigmund Freud die Funktion des Obmanns nicht ausfüllen wollte, denn nur so konnte er sich aus den organisatorischen Fragen heraushalten, aber dennoch seinen Einfluß auf die theoretische Psychoanalyse geltend machen. Mit dieser Differenzierung zwischen Obmann und wissenschaftlichem Vorsitzenden ist bereits die Grundlage für die spätere Arbeitsteilung in Lehre und Forschung zwischen der Wiener und Berliner psychoanalytischen Gruppe geschaffen worden. Die oben skizzierte Organisationsform ist an sich noch nicht problematisch, macht Arbeitsteilung erst möglich, entwickelt aber am Übergang von der theoretischen (Wien) zur angewandten (Berlin) Psychoanalyse autoritäre Züge, die sie bis heute nicht verloren hat.

Mit der Etablierung der angewandten Psychoanalyse, d.h. mit der Entwicklung eines wissenschaftlichen Lehrplanes, einer Lehr- und Kontrollanalyse mit abschließendem Vortrag, als Vorraussetzung für die Aufnahme in die Vereinigung, was die einzige Möglichkeit war, um in den Besitz des begehrten und prestigeträchtigen Titels Psychoanalytiker/in und damit Zugang zur Ressource Patient/in zu bekommen, verlieren die sogenannten Kandidat/inn/en ihren Einfluß auf die Gestaltung und Weiterentwicklung der theoretischen, methodischen und institutionellen Konzepte der Psychoanalyse. Diejenigen Menschen, die also an der künftigen Entwicklung der Psychoanalyse aktiv Anteil nehmen wollen, entweder als interessierte Gäste oder als Auszubildende, von denen jene kritischen und innovativen Impulse kommen könnten, die die psychoanalytische Gruppe so lebendig erscheinen ließ, werden erst nach einem Anpassungsprozeß an die freudschen Konzepte als Stimmberechtigte zugelassen. (Vgl. Trübswasser 1989)

In diesem Zusammenhang muß vor allem dem Schiedsgericht eine zentrale machtpolitische Rolle zugesprochen werden. Streitigkeiten im Verein werden durch ein Schiedsgericht endgültig und mit Ausschließung jeder Berufung oder Beschwerdeführung entschieden. Jeder der Streitparteien kann einen Schiedsrichter wählen, diese bestimmen einen Obmann und ein Vorstandsmitglied erhält beratende Stimme. Außer diesen vier Personen ist niemand zu den Gerichtsverhandlungen zugelassen, denn die Verhandlungen des Schiedsgerichts sind geheim und müssen die Beschlüsse desselben bei sonstigem Ausschluß aus dem Verein befolgt werden. (Federn/Nunberg 1977:436) Vorraussetzung für die Etablierung eines solchen Schiedsgerichtes ist das Vorhandensein eines Personenkreises, der in die Machtverhältnisse des Vereinslebens, seine innere Struktur und seine Machtkämpfe verwickelt ist. Es muß Vereinsbeobachter/innen geben, die zu jener sich artikulierenden Minderheit zählen, die schon durch die Abschaffung der Urne 1910 entstanden ist. Ein besonders autoritärer Zug liegt in der Tatsache, daß die Gerichtsverhandlung unter Ausschluß des Mitgliederkollektivs stattfindet und nur ein zwar gewählter, aber immerhin auserlesener Personenkreis die Entscheidung über Vorgänge, die die Weiterentwicklung der Vereinigung prägen könnten, beeinflußt. Weiter gibt es keine Berufung gegen die Urteile, das von den Schiedsrichtern gesetzte Recht ist absolut und die Verurteilten müssen sich unter Androhung des Ausschlusses dieser Rechtssetzung unterwerfen.

Das von mir nur in wenigen Details angesprochene Demokratiedefizit der psychoanalytischen Vereine zeigt sich nun in folgender Weise: zwar werden die Vereinsmitglieder, der Vorstand und die Schiedsrichter/innen gewählt, aber durch die Aufsplitterung der Psychoanalyse in die drei Arbeitsgebiete Theorie, Therapie und Verwaltung entstehen spezialisierte Elitegruppen, die im Laufe der Jahre zu mächtigen Lobbys innerhalb der internationalen und nationalen Vereinigungen werden. Gegen dieses Lobbysystem trat Marie Langer seit Ende der sechziger Jahre vehement auf und arbeitete seit ihrem Austritt 1971 aktiv an der Umsetzung alternativer psychoanalytischer Konzepte, die die drei Defizite wenn schon nicht beseitigen, dann doch zumindest abschwächen konnte.


Diese Konzepte waren sehr unterschiedlich und kamen in verschiedenen Kombinationen zur Anwendung. Den Höhepunkt bildete aber sicherlich das argentinische Experiment in den Jahren 1971-1974, in dem Marie Langer (gemeinsam mit anderen) vor allem mit Gruppentherapie mit den psychoanalytischen Defiziten und den daraus resultierenden Widersprüchen umzugehen versuchte. Bis dahin war es aber ein weiter Weg, auch wenn dieser durch einige Besonderheiten in der theoretischen Entwicklung der argentinischen Psychoanalyse manchmal erleichtert wurde. Schon am Beginn griff die APA als einzige Vereinigung außerhalb Englands die theoretischen Konzeptionen Melanie Kleins auf und war von Beginn an viel besser ins staatlich finanzierte Gesundheitswesen integriert. Die psychoanalytische Ausbildung ist teilweise an den Spitälern und Universitäten institutionalisiert. Es gibt auch den Begriff von Salud Mental, was soviel wie psychische Gesundheit bedeutet, aber über eine bloße Widerherstellung hinausgeht und sehr viel mit Gesundheitsvorsorge zu tun hat. Das oben Angeführte hat zwar nicht automatisch die Beseitigung des Utopiedefizits zur Folge, doch durch die Wirkung sozialistisch-peronistischer Ideen in der Bevölkerung entwickelten die Psychoanalytiker/innen vor allem gegen Ende der sechziger Jahre Strategien, um die sozialen Verhältnisse stärker in ihre Arbeit einbeziehen zu können. Sie gründeten dissidente Gruppen und etablierten alternative psychoanalytische Schulen, wie z.B. die Escuela de Psicoterapia Psicoanalitica von Angel Garma und Arnaldo Rascovsky. (Vgl. Grosz:8-11)

Auch die Entwicklung der analytischen Gruppentherapie spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle, bei der Marie Langer - gemeinsam mit León Grinberg und Emilio Rodrigué - zu den Pionier/inn/en nach dem Zweiten Weltkrieg zu zählen ist. Durch die unterschiedlichen Zugänge Marie Langers, z:B. durch ihre Arbeit mit kleinianischer Theorie, machten es ihr möglich, in der psychoanalytischen Methode zwischen den machtpolitischen Aspekten, die sich durch die Institutionalisierung ergaben, und den durchaus für ihr Heilungskonzept in Frage kommenden Konzeptionen zu unterscheiden und diese dann auch zur Anwendung zu bringen. Für Marie Langer wurden Menschen nicht dadurch zu Psychoanalytiker/inne/n, daß sie einer Institution angehörten, sondern durch die Anwendung der grundlegenden technischen und theoretischen Konzeptionen bestimmter Gründer/innen, aber nicht ohne diese zu modifizieren und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten angepaßt zu haben. Aus ihrer praktischen Arbeit an der Universität in Argentinien, in Gruppen an der Klinik sowie ihrem Engagement in Nicaragua stellte sich für Marie Langer (und das equipo) die Frage - wie in einem postrevolutionären Land Psychoanalyse unter den dort herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen nutzbar gemacht und gelehrt werden könnte. Zu diesem Zweck wurde ein Zehn-Punkteprogramm entwickelt, das zentrale Thesen der Psychoanalyse aufgriff, damit diese in den Lehrveranstaltungen sowie in der Praxis umgesetzt werden könnten.

Waren diese zehn Punkte für Marie Langer noch eine Hilfskonstruktion, um die psychoanalytischen Errungenschaften weitergeben zu können, so sind für mich darin einige noch heute sehr strittige Fragen thematisiert, die im Zusammenhang mit den Defiziten der Psychoanalyse stehen, und die ich aus diesem Grunde hier zur Kenntnis bringen möchte. Marie Langer veröffentlichte diese zehn Punkte an zwei mir bekannten Stellen: Einerseits in ihrer Autobiographie (1986) und in einem Vortrag vor der casa de las americas in Havanna (1985), der in der Übersetzung von Ruth Rabian in Sgazette (Zürich) als Psychoanalyse ohne Couch (1988) erschienen ist. Da die Formulierungen dieser beiden deutschen Fassungen differieren, werde ich die jeweils mir am besten erscheinende heranziehen und die Herkunft durch Zitierung kenntlich machen.

1. Zuhören, fragen und aufnehmen können, Bedeutung der Katharsis.
2. Das Unbewußte existiert. Dies läßt sich leicht beweisen über die Deutung von Fehlleistungen, Träumen und Delirien. Alles scheinbar Unlogische an uns hat einen Sinn.
3. Daher auch unsere Haltung und Handlungen. Sie sind überdeterminiert. Unsere Ideologie hat einen unbewußten Teil.
4. Wir sind eine Summe von Konflikten. Wir haben Angst vor Veränderungen, die unsere Grundängste wecken. Jedes Symptom hat einen primären und einen sekundären Gewinn. (Langer 1986:12)
5. Wir sind immer ambivalent. Es gibt keine Liebe ohne Hass. Sogar die Mutter, müde und überfordert, kann ihr Kleinkind hassen. (Langer 1988:6)
6. Die Geschichte und die Sexualität unserer Kindheit sind wichtig, weil wir sie wiederholen - im allgemeinen, ohne es zu bemerken. (Langer 1986:12)
7. Wir wiederholen auch unsere Liebe und unseren Hass aus Kindertagen. Wenn dies auf den Therapeuten projiziert wird, reden wir von Übertragung.
8. Was der Therapeut gegenüber dem Patienten empfindet, bewusst oder unbewusst, nennen wir Gegen-Übertragung. Niemand ist neutral. Psychotherapeutisch arbeiten: heisst ideologische Arbeit machen.
9. Die Ergänzungsreihe: Wir sind das Ergebnis von konstitutionellen Faktoren und von frühen und späteren Erfahrungen. Von dieser Mischung und von ideologischen Faktoren hängt unsere Widerstandsfähigkeit oder Verletzlichkeit gegenüber traumatischen Situationen ab.
10. Wir alle sind wundervoll, aber auch verrückt. Helden aber auch Feiglinge (wie gehen wir mit der Angst um?). Liebende, aber auch Perverse. Es ist wichtig, die Schuldgefühle abzubauen, denn sie bewirken im allgemeinen nur Lähmungen
. (Langer 1988:7)

Der erste Punkt von Marie Langers Programm betrifft das psychoanalytische setting, die Situation innerhalb der die Analyse stattfindet, also den räumlichen und zeitlichen Rahmen. Um die klassische Couch Sigmund Freuds - die Patient/inn/en liegen, die Analytiker/innen sitzen am Kopfende hinter ihnen, ohne Blickkontakt - gab es seit den sechziger Jahren große Auseinandersetzungen, und die Couch wurde zum Symbol des Widerstandes vieler Gruppen, die sich um eine neue, alternative Auslegung und Anwendung der Psychoanalyse bemühten. In der Auseinandersetzung liegende versus sitzende Analysesituation nahm Marie Langer einen sehr pragmatischen Standpunkt ein, indem sie sich an klinische Gesichtspunkte hielt: Aber als ich aus der Institution draußen war, ließ ich mich sowohl, was die Häufigkeit der Sitzungen, als auch, was die Alternative ‚couch versus Angesicht-zu-Angesicht’ angeht, nur von strikt klinischen Gesichtspunkten leiten. (...) Zum Beispiel glaube ich, daß ich besser erotische oder sehr aggressive Übertragungsphantasien analysiere, wenn ich hinter dem Patienten sitze. Aber diese Phantasien sind auch von Angesicht zu Angesicht deutbar. Es ist besser, einen sehr zwanghaften und sehr kontrollierenden Patienten auf der Couch liegend zu analysieren, während bei der Analyse eines ‚borderline’ oder eines Psychotikers mit wenig Realitätsbindung in dieser Position die geringe Bindung sich noch verringert. (Langer 1986:227)

Doch die Grenzen der Einzelanalyse, ob nun mit Couch oder von Angesicht-zu-Angesicht, zeigen sich sehr rasch, wenn durch die ökonomische und soziale Situation eines Landes langjährige Analysen auf Grund der herrschenden Bedingungen unmöglich gemacht werden, wie dies z.B. in Nicaragua der Fall war. Deshalb arbeitete Marie Langer dort auch vorrangig in Gruppen, weil für ein Land auf dem Wege der Veränderung, auf dem Weg zum Sozialismus, die Gruppe das angemessene Medium darstellte. (Langer 1986:15) Wie sehr das von Berta Pappenheim, Sigmund Freud und anderen entwickelte psychoanalytische setting von ökonomischen Bedingungen abhängig ist, zeigt wohl auch jene Metapher, mit der Bernd Münk die Lebenssituation Marie Langers in Mexico beschrieb.

Raimund Bahr Und dieses Analyse-betreiben, von dem wir vorhin gesprochen haben, also aus der sozialen Realität in einen sicheren Ort...
Bernd Münk Ja, ja! (...) Also das war, kann man sagen, symbolisch. Also das war ein geschützter Ort, vorhin habe ich gesagt, die Reichen vor den Armen geschützt. Aber es war auf der anderen Seite auch ein geschützter Ort für eine Analyse. Was nicht heißt, man muß den der Reichen haben, aber in diesem sozialen Gefüge wars sicherlich ein geschützter Ort, um eine Analyse zu machen. Und der Mensch geht durch das Tor da hinein und verläßt ein Stück Realität der Stadt und geht anschließend durch das Tor wieder in diese Realität und hat sich zwischendurch in seiner Analysestunde mit unbewußten Phantasien herumgeschlagen - in einer Nische. Also für die Stunde der Analyse, ich glaube, es war, ich habs gelesen in der Diplomarbeit von Ingeborgs Bruder, wo er von der sozialen Nische auch geschrieben hat, die für eine Stunde da ist. Nicht fürs Leben. (Münk 19/5/1992)

Und um diese Nische etablieren zu können, ist in einer stark auf die Privatpraxis reduzierten Psychoanalyse eine bestimmte ökonomische Basis auf Seiten der Patient/inn/en notwendig, die eben nur in bestimmten sozialen Schichten vorhanden ist. Eine über die Klassen-, Ethnien- und Geschlechterfrage hinweg allen Menschen gemeinsame Eigenschaft, egal unter welchen ökonomischen Bedingungen sie auch immer leben mögen, ist das in Punkt zwei angesprochene Konzept des Unbewußten, dessen Existenz anerkannt werden muß, um mit dem psychoanalytischen Erkenntnismodell überhaupt arbeiten zu können. An Hand des Unbewußten und seiner Definition zeigt sich noch einmal das Utopiedefizit in der Psychoanalyse, das Marie Langer im theoretischen Bereich nur sehr begrenzt erkannte, das sie aber in der Praxis bis zu einem bestimmten Maße ausglich. Jedoch auch für sie existierte das Unbewußte nur auf die Vergangenheit gerichtet. Daß das Unbewußte aber durchaus zukünftige Anteile in sich trägt, zeigt Ernst Bloch in seinem Buch Das Prinzip Hoffnung (geschrieben von 1938-1947 in den USA), wo er von den zwei Rändern des Bewußtseins spricht und von der Doppelten Bedeutung des Vorbewußten. (Bloch 1980:129-137) Für Bloch gibt es im psychischen Apparat des Menschen nicht nur den Anteil des Nicht-Mehr-Bewußten, sondern auch des Noch-Nicht-Bewußten, und während sich das eine im Nachttraum manifestiert, findet sich das andere im Tagtraum. Für ihn ist damit jenes Vorbewußte gestreift, das überhaupt nicht in Freuds Konzept paßt, das Vorbewußte in der anderen Bedeutung, nach der anderen Seite, in dem kein Verdrängtes, sondern ein Heraufkommendes zu klären ist. Der Nachttraum mag sich aufs Nicht-Mehr-Bewußte beziehen, er regrediert darauf hin. Aber der Tagtraum ist auf ein mindestens dem Träumer Neues, wohl gar auf ein an sich selber, in seinem objektiven Inhalt Neues aufgetragen. Im Tagtraum eröffnet sich so die wichtige Bestimmung eines Noch-Nicht-Bewußten, als die Klasse, wozu er gehört. (...), es gibt noch keine Psychologie des Unbewußten der anderen Seite, der Dämmerung nach vorwärts. Dies Unbewußte blieb unnotiert, obwohl es den eigentlichen Raum der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen darstellt. Das Noch-Nicht-Bewußte ist zwar ebenso Vorbewußtes wie das Unbewußte der Verdrängtheit und Vergessenheit, es ist sogar in seiner Art ein ebenso schwieriges und Widerstand leistendes Unbewußtes wie das der Verdrängtheit. (...); das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft. (Bloch 1980:131-132)

Was Bloch hier anspricht und einfordert, nämlich das Noch-Nicht-Bewußte, das sich als Angehörige/r einer Klasse (ich würde hinzufügen auch einer Ethnie oder eines sozialen Geschlechtes) erkennt, ist jenes, das die Psychoanalyse als Therapie revolutionieren würde, wenn die Analytiker/innen es in ihr setting einbinden und ihre Deutungsarbeit daraufhin ausweiten würden. Dann wäre auch der Vorwurf des Indoktrinationsversuches an die linken Psychoanalytiker/innen, nicht mehr aufrecht zu erhalten. So wenig Marie Langer dieses revolutionäre Potential in der Psychoanalyse durch die Deutung der Tagträume thematisierte, so sehr diskutierte sie die Problematik der weltanschaulichen Position der Analytiker/innen und ihrer Wirkung im setting. Womit die Frage der Übertragung, Gegenübertragung und Neutralität der Analytiker/innen angesprochen ist, in der Marie Langer eine sehr abweichende Position gegenüber den bürgerlichen, klassischen Analytiker/inne/n einnahm.

Auf die Frage des Therapieerfolges, also auf die Problematik der Heilung im gesellschaftlichen Kontext, bin ich schon näher eingegangen. Aber nicht nur die Frage von psychischer Gesundheit ist hier von Bedeutung, sondern auch die Sichtweise der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der und über die die Patient/inn/en durch die Analyse besseres Urteilsvermögen gewinnen sollen: Um zu dem Postulat von Freud zurückzukommen, daß die Analyse dem Analysierten helfen müsse, sein Realitätsurteil zu verbessern, um deshalb besser mit der Realität umgehen zu können: Hier treffen wir auf eine Problematik, die unausweichlich ideologisiert wird, denn was soll das heißen: die Wirklichkeit besser verstehen, und von welcher Wirklichkeit sprechen wir? Paul Parin sagt, daß, damit der Analytiker die Wirklichkeit verstehen kann - den gesellschaftlichen Kontext - und damit er seinem Patienten helfen kann, diese zu erkennen, er einen wissenschaftlichen - das heißt marxistischen - Ansatz braucht. (Langer 1986:173) Da aber nun auch die Analytiker/innen von dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit auf unterschiedliche Art und Weise beeinflußt werden, wird ihre Arbeit in der Analysesituation, je nachdem wie sich ihre weltanschaulichen Haltungen manifestieren, zu unterschiedlichen Deutungsprozessen führen, was aber auch bedeutet, daß sie ihre Patient/inn/en in ihrer Suche nach neuen Lebenskonzepten in besonderer Weise beeinflussen. Die Forderung Sigmund Freuds, daß die Analytiker/innen neutrale Projektionsschirme darstellen sollen, kann somit nicht aufrecht erhalten werden. Marie Langer lehnte zwar das ideologische Neutralitätskonzept ab, bestand aber auch auf der Einhaltung bestimmter technischer Regeln, die die für eine Analyse notwendige Übertragungs- und Gegenübertragungssituation ermöglichen würden. Auf persönliche Bemerkungen soll ihrer Meinung nach in der analytischen Situation verzichtet werden, damit sich die Übertragung sauber entwickeln kann. Diesen Widerspruch zwischen der Forderung nach Aufgabe der ideologischen Neutralität und der Beibehaltung der technischen erklärt sie folgendermaßen: Als erstes spreche ich von der Abstinenz, die sich der Analytiker auferlegen muß: er darf den Patienten nicht bevormunden und ihn nicht trösten - außer in Grenzsituationen, würde ich hinzufügen, wo wir das beinahe alle gemacht haben. Den Forderungen des Patienten nach Freundschaft, Liebe, außerklinischem Kontakt, usw. nicht nachzugeben, ist notwendig, weil die Befriedigung seiner Übertragungswünsche - das heißt, seiner infantilen Wünsche - verhindern würde, daß das Verdrängte aus dem Unbewußten aufsteigt. Aber außerdem (...) dient es auch dem Schutz des Analytikers, denn dieser fühlt sich angesichts der Bedürfnisse des Patienten oftmals versucht, die Übertragungssituation auszunutzen, sie z.B. sexuell auszunutzen. (...) Es gibt aber auch Möglichkeiten, auf andere Weise die Übertragung zu mißbrauchen, zum Beispiel kann man Vorteile daraus ziehen, wenn der Patient reich und mächtig ist. (Langer 1986:223-224)

Marie Langer zieht also eine deutliche Grenze zwischen der Neutralität, die sich aus der ideologischen Position ergibt, und jener, die sich aus der therapeutischen Notwendigkeit ergibt. Es ist also ihrer Meinung nach notwendig, daß die Analytiker/innen sich bewußt machen, daß ihre Ideologien das Ziel der Behandlung beeinflussen und diese ihrerseits das Material, das sie auswählen. (Langer 1986:225) Auf Grund der oft hohen Honorare und der unterschiedlichen ideologischen Zugänge zur Heilungsfrage können aber in der Privatpraxis durchaus Fragen von Seiten der Patient/inn/en nach den persönlichen Lebensverhältnissen der Analytiker/innen entstehen, die ein Vertrauen der Patient/inn/en in die Analyse erst ermöglichen, denn die Ideologie der Analytiker/innen zeigt sich eben erst in einer längeren Auseinandersetzung zwischen Patient/inn/en und Analytiker/inne/n. Finden Patient/inn/en in ihren Analysen keine Antworten auf ihre Fragen, die durchaus auch auf die persönliche Lebensführung der Analytiker/innen abzielen, wird auch schwerlich die ideologische Position klar werden und damit die Projektionen von klassistischen (nach Meulenbelt 1988), rassistischen und sexistischen Verdrängungsmechanismen schwer möglich sein, da das notwendige ideolgische Vertrauen fehlt. Die Trennung von ideologischer und technischer Neutralität, die Marie Langer beschreibt, ist aus meiner Sicht undurchführbar, weil die analytische Technik selbst schon Produkt gesellschaftlich-ideologischer Entwicklungen ist (was an anderer Stelle zu beweisen wäre). Aber trotz dieser Problematik zeigen die von Marie Langer entworfenen zehn Punkte eine neue Richtung in der Psychoanalyse, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit den von ihr, gemeinsam mit León Grinberg und Emilio Rodrigué, entwickelten gruppentheoretischen Konzepten gesehen werden. Ihre bereits in den fünfziger Jahren vollzogene Hinwendung zur analytischen Gruppentherapie ist für mich nur eine logische Konsequenz jener theoretischen Überlegungen, die sich in der Aussage ausdrückt, daß Psychoanalyse und Marxismus in der bürgerlichen Kernfamilie ihre Berührungspunkte finden. Viele gesellschaftliche Problembereiche können durch eine Einzelanalyse nicht befriedigend bearbeitet werden, weil das Kollektive, welches mit zur Bildung des Unbewußten und der aus der Verdrängung resultierenden Krankheitsbilder beiträgt, in der Einzelanalyse nicht vorkommt. Nicht zuletzt sind viele Krankheitsbilder auch die Folge einer sich zunehmend entsolidarsierenden Gesellschaft, nicht nur mit Wirkungen auf die Kindheitsentwicklung, sondern vor allem auch in Bezug auf Arbeitsprozesse, Partnerschaften und freundschaftliche Beziehungsnetze, also mit Wirkung auf postadoleszente Erlebnisbereiche.


In ihrem Buch psicoterapia del grupo, su enfoque psicoanalitico (1957) sprechen León Grinberg, Marie Langer und Emilio Rodrigué nun von einer Mikrosoziologie und der zahlenmäßig begrenzten Gruppe, die als Forschungsgebiet von höchstem Interesse ist, weil sie einerseits an die bipersonale Psychologie angrenzt und andererseits der Soziologie, die sich mit großen Gruppen befaßt, benachbart ist. (Grinberg/Langer/Rodrigué 1972:30-31) Damit ist jene Lebensform angesprochen, in der wir uns am häufigsten bewegen, nämlich die der Kleingruppe von etwa acht bis zwölf Personen.

Bei der Entwicklung der Gruppentherapie gab es mehrere Richtungen, die bereits auf die Jahrhundertwende zurückgehen, wobei hier nur einige Namen zu nennen wären wie Pratt, Marsh, Moreno, Slavson usw. Marie Langer selbst sieht sich dabei in einer analytischen Tradition, weil sie sich auf die Deutungsarbeit, Übertragung und Gegenübertragung bezog und die Gruppe als Gestalt, also als eine Einheit auffaßte, worin das Verhalten des/der Einzelnen im Bezug auf das Kollektiv interpretiert werden muß: Es handelt sich bei uns also um eine psychotherapeutische Behandlung der Gruppe als solcher und nicht um eine Behandlung ‚in’ der Gruppe ‚durch’ die Gruppe. (Grinberg/Langer/Rodrigué 1972:40) Der Heilungsprozeß in der Gruppe vollzieht sich nach Marie Langer aber durchaus in anderen Linien als in der Einzelanalyse, denn um selbst Heilung zu erlangen, muß der/die Einzelne Teile der in der Gruppe vorhandenen Defizite in psychischer Hinsicht übernehmen, jede/r wird also zur Projektionsfläche für den/die andere/n und erlebt die reale Situation und zugleich auch die Rolle, die die unbewußten Phantasien der anderen jedem einzelnen Teilnehmer aufzwingen. (Grinberg/Langer/Rodrigué 1972:54)

Wir stimmen mit Pichon Riviere darin überein, daß jeder Heilungsprozeß eine Lernerfahrung impliziert. Aber damit dies erreicht wird, und damit die Person, die für eine bestimmte Zeit therapeutische Hilfe braucht, nachher ohne Therapie weitermachen kann, muß sie nicht nur zu einer insight der psychologischen Probleme, die in die Krankheit geführt hatten, gekommen sein; sie muß auch die notwendigen Instrumente geliefert bekommen, um zu verstehen, wie die Gesellschaft und der Ort, den sie in ihr einnimmt, ihr eigenes Leben bestimmt haben. Und auch diese Bewußtwerdung kann nicht wirksam sein, wenn es der Person nicht gelingt, gleichzeitig aus ihrer Isolation herauszukommen und solidarische Bindungen herzustellen jenseits ihrer kleinen privaten Welt. (...) Wir konnten beobachten, wie der therapeutische Prozeß der Gruppen sich in dem Maße entwickelte, wie Solidarität unter den Gruppenmitgliedern aufkam und sich konsolidierte, trotz der Rivalitäten, Spannungen und der bestehenden Ambivalenzen. In den Gruppen stellten wir die Solidarität dem krankmachenden Wettbewerb des Systems entgegen. (Langer 1986:235)

Dem Verständnis und der Einsicht in die Entstehungsgeschichte der Krankheit bei den Patient/innen wird hier also große Bedeutung beigemessen. Auch war es notwendig, die persönliche Schuld an der Entstehung der Krankheit zu relativieren und ein Verständnis dafür zu wecken, welche Verantwortung der Gesellschaft dabei zukommt. Es ist also notwendig die Vereinzelung zu überwinden und zu einer Solidarisierung mit den inneren Phantasien und Bildern der Mitleidenden zu kommen, die ja die eigenen sind. Das verführte Marie Langer jedoch nicht, die Einzelanalyse aufzugeben, sondern sie ergreift die Möglichkeit, die die Gruppe bietet, um jene Defizite auszugleichen, die sich durch die bipolare Situation in der Einzelanalyse ergeben: Die Gruppentherapie zusammen mit der Möglichkeit, dieses oder jenes Symptom aufzulösen und vielleicht auf lange Sicht auch eine Strukturveränderung zu bewirken, bietet etwas sehr Wichtiges: eine Gruppe, der man zugehört. Eine Gruppe, der gegenüber du dich in aller Ernsthaftigkeit ausdrücken kannst und wo du lernst, solidarisch zu sein und Solidarität zu empfangen. (Langer 1986:249)

Ich möchte hier nicht weiter auf den theoretischen und praktischen Ablauf der Gruppenanalyse eingehen, dies kann in dem Buch von Grinberg/Langer/Rodrigué und in der seit den sechziger Jahren rasant angewachsenen Literatur nachgelesen werden. Vielmehr wende ich mich nun jener Arbeit Marie Langers und anderen Analytiker/inne/n zu, die sie in Buenos Aires an der Universität und an der Klinik des Krankenhauses Avellaneda geleistet haben und die ich als das argentinische Experiment bezeichnen möchte, in dem versucht wurde, die Widersprüche zwischen Psychoanalyse und gesellschaftlicher Wirklichkeit in der praktischen Arbeit aufzulösen.


Marie Langer beschreibt die Vorgänge rund um das argentinische Experiment in ihrem Artikel Institutionelle Gruppenanalyse in der Arbeiterklasse (1979), den sie gemeinsam mit Alberto Siniego und Fernando Ulloa verfaßt hat. Ihrer Meinung nach war das politische Umfeld im Land mitausschlaggebend, daß dieses argentinische Experiment überhaupt stattfinden konnte. Mit Héctor Camporá kommt es nach dem Ende der Ongania Diktatur in den Jahren 1971-1973 zu einer Öffnung des politischen Systems gegenüber dem Linksperonismus: Diese Erfahrung war möglich dank einer politischen Situation, die das Land mit Hoffnung erfüllte und auf unserem Gebiet eine Reihe von Öffnungsmöglichkeiten bot. In dieser Situation erhielten die Zentren für Psychische Gesundheit und die Abteilung für Psychopathologie in den Spitälern eine neue Bedeutung. Es wurde mit Eifer versucht, auf die wirklichen Bedürfnisse der Patienten einzugehen, ihre Problematik innerhalb ihrer Klasse und des Landes zu erfassen. (Langer/Siniego/Ulloa 1979:145) Hinzuzufügen ist, daß die meisten Fachkräfte unbezahlt und freiwillig in der Klinik arbeiteten, wobei sich die Arbeitsgruppen aus alten, erfahrenen Psychiater/innen bzw. Psycholog/inn/en und jungen, in Ausbildung stehenden zusammensetzten. Diese unbezahlte Tätigkeit wurde schon allein dadurch notwendig, daß in Argentinien kaum mehr die nötige ökonomische Basis im Gesundheitssystem bestand, solche sozialpolitischen Experimente zu realisieren. Ermöglicht wurde die Arbeit auch dadurch, daß Sylvia Bermann, damals Abteilungsleiterin, das Projekt unterstützte, auch auf die Gefahr hin, daß die Tätigkeit jene Wirkung entfalten würde, die sich die Initiator/inn/en davon erhofften, daß die Patient/inn/en zu einer autonomen, selbstbestimmten Identität und damit auch zu einem vom Gesundheitssystem unabhängigen Leben finden könnten: Wir heben dies hervor, weil jede institutionelle Arbeit, die auf einen wahrhaften sozialen Wandel zielt, automatisch subversiv wird und somit ihre Entwicklung und Dauer von einem komplexen Zusammenspiel zwischen den Personen, die die Arbeit ausführen, den Autoritäten der Institution und dem politischen Kampf in der Gesellschaft, der die Institution angehört, abhängt. (Langer/Siniego/Ulloa 1979:146)

Im Krankenhaus wurde mit therapeutischen Gruppen gearbeitet, wodurch nicht nur Patient/inn/en behandelt, sondern gleichzeitig auch Nachwuchstherapeut/inn/en in einem anderen als dem bisher gewohnten setting ausgebildet werden konnten. Die Gruppe wurde von co-therapeutischen Gruppenteams betreut, die aus 2 Therapeuten mit weitreichender Erfahrung, vorzugsweise einem Mann und einer Frau, und 2 oder 3 jüngeren Therapeuten mit nur wenig oder ohne Erfahrung gebildet wurden. (Langer/Siniego/Ulloa 1979:147) Während in diesen Gruppen die praktische Ausbildung der Therapeut/inn/en stattfand, übernahm das Institut Coordinadora de Trabajadores de Salud Mental (CTSM) die theoretische Ausbildung in psychoanalytischer, marxistischer und kontrollierender Hinsicht. Es wurde dadurch eine wesentlich freiere und flexiblere Struktur in der Ausbildungsfrage gefunden, als dies in der APA der Fall war. Denn einerseits wurde die Behandlung der Patient/inn/en aus der Privatpraxis herausgelöst und die finanzielle Bedürftigkeit in ein Recht auf Analyse verwandelt, das auf Grund der Steuerleistung der Patient/inn/en entsteht, und anderseits eine Art Lehranalyse in praktischer und theoretischer Hinsicht ermöglicht, die nicht mehr an jener Institution durchgeführt wird, an der die Kandidat/inn/en später arbeiten müssen. Das öffentliche Gesundheitswesen übernahm die Rolle der Vereinigung, stellte Arbeitsmöglichkeiten auch außerhalb der Privatpraxen zur Verfügung, während die theoretische Ausbildung an einem unabhängigen Institut gemacht wurde: Diese Aufgabe des Lehrens und Lernens setzte einen komplexen Mechanismus der positiven Rückkoppelung in Bewegung, was bewirkte, daß das Lehr- und Forschungszentrum mit der einstimmigen Unterstützung sowohl der jungen wie der älteren progressiven Therapeuten rechnen konnte, (...) um den Elitismus der Psychoanalyse zu durchbrechen und deren Lehre zu demokratisieren. (...) Dieses Modell der Ausbildung unter Therapeuten mit verschiedenem Wissensstand bewirkt die Konzentration aller Anstrengungen auf eine Aufgabe hin, die nicht darauf angelegt ist, Macht und Führungspositionen (Wissen ist Macht) zu erobern und zu bewahren, sondern darauf, eine wirkliche Ausgangsbasis für solidarisches Lernen zu schaffen. (Langer/Siniego/Ulloa 1979:149f) Diese Ausbildung in Cotherapeut/innen Gruppen, die auch den Patient/inn/en erklärt wurden, um die unterschiedlichen Wissensniveaus klarzustellen, ermöglichte ein erleichtertes Erlernen der Möglichkeiten und Grenzen der Therapie, da nicht alle Prozesse in der Gruppe auf die Auszubildenden projiziert wurden und so die Führerrolle leichter erlernt und wieder abgegeben werden konnte.

In diesem Zusammenhang muß auch klargestellt werden, daß hier die Reinheit der Theorie zwar geopfert wurde, was aber notwendig ist, wenn sich Psychoanalyse in die soziale Realität begibt, wie Berthold Rothschild feststellte. (Rambert/Rothschild/Valk 19/8/1992) Das heißt, es wurde auf eine exzessive Übertragungsdeutung innerhalb der Analysand/inn/engruppe verzichtet und mehr auf gegenwärtige Problemfelder eingegangen, während es durchaus möglich war, das ein/e Therapeut/in die Deutungsarbeit machte und die/der andere den sozialen Kontext verdeutlichte. Gleichzeitig wurde die Zeit, in der sich die Gruppe mit der Bewältigung von Problemen ihrer Teilnehmer/innen beschäftigte, dadurch verlängert, daß sie sich außerhalb des therapeutischen settings in einem Cafe traf. So entsteht nicht nur eine stärkere Bindung der Personen aneinander, sondern auch eine solidarische Haltung der Teilnehmer/innen. In dieser Nutzbarmachung von Gruppenkapazitäten über die therapeutische Situation hinaus enstand ein solidarisches Klima, das den Menschen eine Rückkehr in stabile soziale Bindungen ermöglichte. Diese wiederum gestatteten ihnen, auch nach der Analyse allein und auf sich gestellt, ohne den schützenden Rahmen, nicht nur zu überleben, sondern auch einen positiven Lebensentwurf für sich zu finden. In dieser Vorgangsweise liegt der Erfolg dieses Experiments. Letztlich ging es den Therapeut/inn/en darum, zu zeigen, wie nötig es sowohl für das Team als auch für die Gruppenmitglieder war, daß die Patienten verstanden, was von ihrem Schicksal und ihrer Krankheit ihnen selbst angehörte, und was das Resultat einer krankmachenden Gesellschaft war. Auf diese Art konnten sie die Verfolgung durch ihr Über-Ich mildern, das sie der alleinigen Verantwortung für ihre ‚Sünden‘ und Mißerfolge beschuldigte. (Langer/Siniego/Ulloa 1979:153)

Was schon im theoretischen Rahmen vollzogen wurde, ein klassenbewußtes Verhalten in die psychoanalytische Methoden- und Theoriebildung einzuführen, sollte nun auch in der praktischen Umsetzung erfolgen. Und, wie ich glaube, ist dies auch gelungen, denn Marie Langer konnte hier gemeinsam mit anderen Analytiker/innen beweisen, daß psychoanalytische Ausbildung nicht unbedingt zu einer Kaderelite führen muß und nur der Mittelschicht offensteht, sondern, wenn die Analytiker/innen nur über geeignete Konzepte nachdenken würden, sich durchaus adäquate Modelle finden ließen, wo Psychoanalyse auch in einem öffentlichen Gesundheitswesen ihren Platz finden würde, in Gruppen- ebenso wie in Einzeltherapie. Dies war und ist jedoch mit der Gefahr verbunden, daß die Psychoanalytiker/innen Prestige- und Machtverluste hinnehmen müßten. Schließlich wollte Marie Langer mit dem argentinischen Experiment vielleicht nur zeigen, daß eine erfolgreiche Analyse bedeutet, sich die Fähigkeit zu erwerben, sich nicht selbst allzu sehr zu belügen und, die eigenen Fähigkeiten und Beschränkungen erkennend, sie operativ verwalten zu können. (Langer 1982:20)

Auf die eben beschriebene Weise wurden im argentinischen Experiment alle drei psychoanalytischen Defizite zwar nicht beseitigt, aber doch zumindest sichtbar gemacht und abgeschwächt. Das Utopiedefizit wurde gemildert durch die Koppelung der Psychoanalyse mit der sozialen Wirklichkeit von Analytiker/innen und Patient/inn/en in ideologischer ebenso wie methodischer Hinsicht, durch die Wiederentdeckung der emanzipatorischen und kulturtheoretischen Inhalte der Psychoanalyse und nicht zuletzt durch die Möglichkeit, Patient/innen in eine solidarische Gemeinschaft zurückzuführen, in der sie Zukunftsperspektiven entwickeln können. Das Vertrauensdefizit wird dadurch aufgehoben, daß das Konzept der Neutralität in politischer Hinsicht aufgegeben wird und die Analytiker/innen Partei ergreifen für ihre Patient/inn/en und gegen die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Durch die Verlegung des Ausbildungsprozesses in die therapeutische Gruppe erhalten die Patient/inn/en zumindest teilweise die Möglichkeit, die Therapeut/inn/en als fehlbar und sich selbst als ihnen gleichwertig zu erkennen. Und auch das institutionelle Demokratiedefizit wurde durch diese Arbeit teilweise aufgehoben. Einerseits löste sich die Plataforma-Gruppe bald nach ihrer Gründung wieder auf, als die Teilnehmer/innen bemerkten, daß sie ähnliche Strukturen wie die übrigen Vereinigungen auszubilden begannen und andererseits gelang es für kurze Zeit, die Vergesellschaftung und Dezentralisierung der Ausbildung zu gewährleisten, denn sie wurde in mehrerern Institutionen durchgeführt, an einem öffentlichen Krankenhaus ebenso wie in einem unabhängigen Ausbildungszentrum, das lediglich Methode und Theorie weitergab, ohne diese zu verwalten. Mit dieser Vorgangsweise wurde das Monopol der psychoanalytischen Verwaltungsinstitutionen gebrochen.

Leider dauerte dieses Experiment auf Grund der sich verschärfenden politischen Gegensätze im Land nur zwei Jahre. Der subversive Gehalt von Marie Langers Arbeit, der darin bestand, die Patient/inn/en nicht nur von den Gesundheitsinstitutionen, sondern auch von deren Heilungsagent/inn/en (Therapeut/inn/en, Ärzt/inn/e/n, usw.) unabhängig zu machen, konnte nicht wirklich zum tragen kommen. Mit dem Ende des argentinischen Frühlings mußte Marie Langer ihre Tätigkeit einstellen und 1974 zum zweiten Mal flüchten, da sie auf der Todesliste der triple A stand. Sie emigrierte wie viele andere lateinamerikanische Psychoanalytiker/innen nach Mexico, wo sie bis kurz vor ihrem Tod lebte und arbeitete.
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[Zitierte Literatur] | [Abkürzungsverzeichnis]

eingestellt: 17.6.2020 | zuletzt aktualisiert: 18.7.2020
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