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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


Epilog

"Nicht nur von dieser letzten, sondern von allen hier aufgestellten Behauptungen gilt: Sie sind niedergeschrieben, damit sie nicht wahr werden. Denn nicht wahr werden können sie allein dann, wenn wir ihre hohe Wahrscheinlichkeit pausenlos im Auge behalten und dementsprechend handeln. Es gibt nichts Entsetzlicheres als recht zu behalten. – Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ‚Wenn ich verzweifelt bin, was geht es mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!" Die atomare Drohung. Günther Anders. München 1981:104-105.


§ 26 | Keine Hoffnung nirgends

Günther Anders hat mit seinem Leben, seinem Handeln, seinem Denken und Schreiben zahlreiche Wegweiser gesetzt, denen wir folgen können, wenn wir das wollen. Am Ende seines Lebens kehrte der Ketzer noch einmal an den Ursprung aller menschlichen Fragen zurück: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Ausgehend von diesen Fragen und der Bestimmung des sozialen Ortes, den der Mensch einnimmt, entwickelte er seine Technikphilosophie. Diese fiel nicht vom Himmel, sondern entstand Schritt für Schritt und ist für uns heute ein Wegweiser durch das Dickicht der Transformation des Menschen in ein anderes Wesen, für das wir im Augenblick nur Hilfsbegriffe kennen – wie Cyborg oder Artificial Intelligence. Günther Anders' Theorien können nicht erklären, welche Transformationsprozesse die technologischen Entwicklungen mit der Spezies Mensch noch anstellen werden, doch sie sind durchaus geeignet, deren Vorgeschichte zu erklären.

Es gibt eine historische Parallele zu Günther Anders' Denken, das wir bei Marx finden können. Marx hat die Transformation des Merkantilismus in den Industriekapitalismus und dessen unmittelbaren Auswirkungen beobachtet und beschrieben. Er hat daraus politische Lehren gezogen und zusammen mit Engels und anderen die verkürzte Formel der Diktatur des Proletariats entwickelt. Mehr als hundert Jahre blieben die zentralen Thesen von Karl Marx gültig. Die Transformation des euro-amerikanischen Industriekapitalismus in eine globale, multimediale Dienstleistungsgesellschaft kann jedoch mit Marx nicht mehr hinreichend erklärt werden. Daraus resultiert auch die Krise der Gewerkschaften und der Sozialdemokratien überall auf der Welt. Die politischen Eliten verwandeln sich auf Grund fehlender Wegweiser in Dilettanten, die mehr Schaden als Nutzen bringen, vor allem für diejenigen, die ihre Hilfe am nötigsten hätten. Für Günther Anders und sein Werk gilt ähnliches. Günther Anders' Schriften können wir als historische Texte lesen, die auf eine Entwicklung verweisen, die nach Auschwitz einsetzte und nun siebzig Jahre danach ihre volle Dynamik entfaltet. Günther Anders' Schriften zeigen uns die Entstehungsgeschichte eines Transformationsprozesses, in dessen Zuge der Mensch sich in eine neue Spezies verwandelt. Aufbauend auf seinen Thesen, seinen Methoden und Erkenntnissen müßte nun eine Theorie folgen, die den derzeit stattfindenden Wandlungsprozeß begleitet und beschreibt, als eine Art Vorgeschichte für jene Wesen, die nach uns kommen, damit diese verstehen können, wie sie zu dem geworden sind, was sie sein werden.

In diesem Sinne sehe ich Günther Anders' Schriften als eine Art Wegweisung im doppelten Wortsinne. In diesem Wort steckt der Begriff Weg als der Weg, den wir gegangen sind, den wir gerade gehen und den wir noch zu gehen haben. Es ist aber auch das Wort Weisung darin enthalten. Er gibt uns Anweisungen, er stellt Wegweiser auf, er gibt uns Taschenlampen des Denkens in die Hand, um uns in den tiefen Tälern, den Schatten der philosophisch-moralischen Berge des zwanzigsten Jahrhunderts, die uns den Blick auf die Gegenwart verstellen, zurechtzufinden. Er bietet uns einen Ausweg aus dem Dickicht eines akademischen Diskurses, der nur noch zum Teil in der Lage ist, die Welt – wie wir sie erleben – zu erfassen.

Gleichzeitig steckt aber auch der Begriff weg darin. Hinfort mit all dem, was uns belastet. Seien wir wieder radikal! Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf das, woraus wir geboren sind: Auschwitz und Hiroshima. Weisen wir weg, was uns den Blick auf diese beiden Skandale des zwanzigsten Jahrhunderts verstellt, um zu entdecken, was wir geworden sind und was wir im Schatten dieser beiden Ereignisse zu werden drohen. Weisen wir von uns all jene weg, die uns jenes Heil versprechen, das aus der Aufklärung herüberleuchtet in die Gaskammern von Auschwitz, in die atomaren Waffenlager der globalen Waffenlobbys, in die Elendsquartiere Lateinamerikas, in die Todeszonen Schwarzafrikas, in den Klimakollaps des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Günther Anders war angetreten, um dieses falsche Heil philosophisch sichtbar zu machen. Er fordert uns auf, die religiösen Eiferer von links und rechts in ihre Schranken zu weisen. Er weist uns darauf hin, daß wir als zufällige Wesen, die wir nun mal da sind, keine andere Chance haben, als eigenverantwortlich das zu gestalten, was wir eines Tages sein wollen, und nicht hinnehmen dürfen, was wir sein sollen. Denn es gibt kein Gesolltes für den Menschen im Angesicht des Nichts, sondern nur ein Gewolltes. Und für dieses Gewollte benötigen wir globale Spielregeln, damit die neue Spezies nicht ganz ohne uns entsteht, sondern ein wenig so ist, wie wir sie und vorstellen.

Seine Thesen konstatieren aus der Sicht des heutigen Menschen, daß nicht nur das Ende der Menschheit möglich ist, sondern auch die Auslöschung aller Vergangenheiten des Menschen, also auch die Hoffnung auf jeden Neubeginn, denn wenn die Menschheit ausgelöscht würde, gäbe es auch keine Zeugnismöglichkeit mehr über das Gewesensein von Menschheit. Dies gilt für einen Atomkrieg ebenso wie für eine etwaige Auslöschung des Menschen durch eine Maschinenzivilisation. Im einen Fall ist es nur unmittelbarer einsichtig. Eine Maschinenzivilisation würde den Menschen ja langsam und allmählich assimilieren. Was im Ergebnis dasselbe wäre, jedoch für den Menschen weniger leicht zu verstehen ist. In dieser Hinsicht ist Günther Anders ein Radikaler. Er beschönigt den Untergang nicht, er dämonisiert ihn nicht, er stellt ihn einfach fest. Dennoch bleibt er ein Mensch und will als Mensch weiterleben, muß sozusagen gegen den nihilistischen Impuls seines eigenen Denkens angehen und im Handeln gegen diesen Untergang antreten.

Günther Anders' Denken ist nihilistisch.
Günther Anders als Mensch will überleben.

Daraus einen Widerspruch in seinem Werk abzuleiten wäre purer Unsinn. Nirgendwo in seinem Werk gibt uns Günther Anders Hoffnung auf ein Leben jenseits des einmontierten Menschen, jenseits des atomaren Staates oder einer Philosophie des Untergangs, höchstens vielleicht den Wunsch, daß all sein Denken und Schreiben sich als Irrtum herausstellen und er Unrecht behalten möge, damit eine Welt ohne Mensch niemals Wirklichkeit werde.

Sein Leben legt Zeugnis darüber ab, daß es trotz allem, trotz der Verzweiflung weitergehen kann, weil der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich der Verzweiflung, die aus dem eigenen Denken kommt, tätig zu widersetzen. Jedoch nicht aus dem Affekt der Hoffnung, sondern aus dem viel ursprünglicheren, natürlicheren Affekt des Wunsches zu überleben. Dieser Affekt überschreitet das Hoffen, denn das Hoffen ist ein passiver Affekt, während das Wollen den aktiven Affekt des Handelns mit einschließt. In diesem Sinne ist sein Werk für mich ein Lehrstück über das Gewesene, das in meiner Zeit auf Zukünftiges verweist. Und so habe ich es auch gelesen: als Wegweiser durch meine Vergangenheit, die in eine gewisse Zukunft führt. Und was mich Günther Anders noch gelehrt hat, ist, daß diese Zukunft nur dann eine für den Menschen erträgliche sein wird, wenn wir den Willen entwickeln, uns gegen die Technokratie des Krieges, gegen eine vollkommen militarisierte Welt, gegen eine Welt, die in ihrer Technisierung keinen Raum für das soziale Wesen Mensch läßt, konsequent zur Wehr setzen. Ansonsten wird es nicht nur keine Hoffnung nirgends mehr geben, sondern auch keinen Ort nirgends.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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