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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 15 | Im Sternland

Günther Anders war, nachdem er die Welt in all ihrer Schrecklichkeit erkannt hatte, mit seiner Vorbildung, seinen speziell entwickelten Interessen gut vorbereitet auf eine klassische akademische Laufbahn als Philosoph. Nach seiner Vertreibung aus dem bürgerlichen Paradies, in dem vor allem die Mutter für Ordnung sorgte, in dem er von Frauen umgeben war, die seine sozialen und alltäglichen Bedürfnisse befriedigten, trat er ein in eine kriegerische, feindliche, politische Welt, in die Welt der Männer. In dieser männlichen Welt mußte er sich nun zurechtfinden. Dabei kam ihm sicher zugute, daß er einen akademisch gebildeten Vater mit weitreichenden Beziehungen hatte, mit dem er sich austauschen konnte, vor allem in philosophischen und literarischen Fragen.

Auf den Vater folgten noch andere Männer, die ihm den Zugang zu ihrem jeweils spezifischen Denken ermöglichten. Sie führten ihn in verschiedene philosophische, literarische und denkerische Konzeptionen ein, vermittelten ihm Einsichten in die Art, wie Schreiben funktioniert, jenseits des ganz persönlichen Gebrauchs zum Verfassen von Gedichten, Kurzprosa oder Tagebüchern. Unter ihnen befanden sich Günther Anders‘ Schwager, Rudolf Schottlaender (1900 – 1988), Freunde des Vaters wie der ebenfalls in Breslau geborene Ernst Cassirer (1874 – 1945) in Hamburg, die Philosophen Edmund Husserl (1859 – 1938) und Jonas Cohn (1869 – 1947) in Freiburg. Die Verbindungen dieser Gruppe untereinander waren vielfältig: Schottlaender studierte bei Husserl und Heidegger; Husserls Assistentin war Edith Stein, die eine Zeitlang bei den Sterns verkehrte und die Günther Anders aus seiner Kindheit kannte. Bis er in ein eigenes Netz von Bezugspersonen eintrat, in Marburg im Seminar von Martin Heidegger, die wohl wie kaum eine zweite Gruppe das deutsche Denken des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflußt hatten, bewegte er sich im Netzwerk der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, das sich rund um seinen Vater aufgebaut hatte.

Der Vater brachte ihm auch bei, daß es so etwas wie einen Leser gab, für den er schreiben konnte. Nicht nur die Familienangehörigen waren ein potentielles Publikum, sondern auch alles, was sich außerhalb der familiären vier Wände abspielte. Günther Anders durchlief, bis er dieses Publikum für sich gewinnen konnte, einige Initiationsriten. Allen voran führte der Vater ihn Schritt für Schritt an den Berufsstand des Schriftstellers und Philosophen heran. Daß es dennoch nicht zu einer philosophisch-akademischen Laufbahn kam, hatte nicht nur mit den sich radikal verschärfenden politischen Bedingungen in den zwanziger Jahren zu tun, sondern auch damit, daß Günther Anders Mitte der zwanziger Jahre seine philosophischen Bezugspunkte änderte. Er trat in den Marburger Kreis um Martin Heidegger ein, der ihm einen völlig neuen Zugang zum philosophischen Denken eröffnete. Dieses Denken widersprach jedoch in vielem dem des Vaters. Günther Anders rezipierte und reproduzierte nicht einfach nur, was auf ihn einstürmte, sondern modifizierte die neuen Ideen und zog seine eigenen Schlußfolgerungen daraus. Wie ihm schon als Kind Handlungen nur dann als erledigt schienen, wenn er sie selbst ausgeführt hatte, waren Gedanken und philosophische Konzepte nur dann seine, wenn er sie selbst entwickelt hatte. So emanzipierte er sich über die Jahre aus den verschiedenen Einflüssen und fand seinen ganz eigenen Weg durch die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, der uns heute noch einen Weg in die Philosophie des einundzwanzigsten Jahrhunderts weist. Er begann früh, selbständige philosophische Arbeiten zu verfassen – zu früh, wie er später einmal selbst bemerkte: "Was Heidegger damals kannte – und dieses Kennen war nun allerdings gründlich, um nicht zu sagen abgründig – waren Platon, Aristoteles, die Vorsokratiker und die Patristik. Auch seine Seminare reichten nur bis Thomas. Aber ich nahm nicht an allen teil. Rezeption ist mir stets außerordentlich schwergefallen, jedenfalls in der Philosophie, nicht die Rezeption von Kunst, nicht von Musik – gleichviel, ich habe sehr früh, als Fünfundzwanzigjähriger, begonnen, wie ich es albern nannte, 'meine eigene Philosophie' zu produzieren. Aber diese angebliche Kreativität war letztlich wohl nur eine Variante von Ignoranz." (Schubert 1987:25-26)

Wie wird ein Mensch nun zu einem Philosophen mit einer eigenen philosophischen Theorie? Welche Etappen muß er zurücklegen? Wie gelingt die Abgrenzung zum Psychologen, zum Physiker, zum Ökonomen, zum Politiker? Und beginnt die Entwicklung tatsächlich schon in frühester Kindheit? Kann der genaue Beobachter die Veranlagung zum Philosophen bereits bei einem Kind von fünf, sechs Jahren erkennen? Werner Deutsch hat darauf in einem Interview folgende Antwort versucht: "Ich weiß nicht, wie sich eine philosophische Hochbegabung äußert, das ist das erste Problem. Eines ist sicher, wie viele Fragen stellt ein Kind? Und da war Günther, aber auch die anderen Kinder, jemand, der die Eltern gelöchert hat, der ständig Fragen gestellt hat und dann auch Themen aufgeworfen hat, zum Beispiel: Wer ist Gott? Was macht Gott? und so weiter. Ja, es wäre zu vergleichen, ob bei anderen Kindern dieser Wissensdurst und diese Fragelust auch so ausgeprägt sind. Die Voraussetzungen, um ein Philosoph zu werden, sind bei Günther schon erkennbar. Aber ich vermute, daß sehr viele Kinder, wenn es nur um Wissensdurst und Fragelust geht, diese Neigung auch zeigen. […] Ich würde sagen, die Voraussetzung zum Philosophen sind in dieser kindlichen Begeisterung zu finden. Er hat ja auch Naturalienkabinette angelegt, er hat viel gebastelt, er hat auch angefangen zu komponieren, eine Art Allround-Begabung, das Hinter-die-Dinge-Blicken und den Dingen auf den Grund gehen, das ist bei ihm schon als Kind erkennbar, mit einer Intensität, die eher selten ist." (Deutsch / Interview / 2005)

Hinzu kam die schon mehrfach angesprochene Wahrheitsliebe des jungen Günther Stern. Er mußte selbst in unbedeutenden Fragen die wahre, also seine Antwort darauf finden. Vielleicht ist aber auch die Frage nach der Entwicklung eines Philosophen falsch gestellt, und man sollte zur ursprünglichen Aussage seiner Mutter kurz nach seiner Geburt zurückkehren, als sie schrieb: Günther, kein eben Geborener! Letztlich geht es aber nicht darum, wie altklug war Günther Anders, wie hochbegabt kam er zur Welt, welche Förderungen bekam er als Kind, sondern vor allem darum, welchen sozialen Einflüssen, welchen Vorbildern war er ausgesetzt, in welchen sozialen Netzen wuchs er auf und entwickelte seine Ideen.

Nun zum ersten Vorbild, dem Vater William Stern, der wohl den ursächlichsten und größten Einfluß auf ihn ausgeübt hat und an dessen Art zu arbeiten er sich bis ins hohe Alter orientierte. Der Vater pflegte, wenn es um seine Philosophie ging, um die Wissenschaft, ein freundschaftliches Verhältnis mit seinem Sohn und suchte die offene Auseinandersetzung. Es gibt zahlreiche Stellen, vor allem in der Autobiographie von Günther Anders Besuch im Hades, die dies belegen. Stellvertretend sei hier folgendes zitiert: "1903 oder 1904 muß das gewesen sein. – Denn ich erinnere mich sehr genau, wie du mir auf einem unserer Spaziergänge hier am Stadtgraben entlang erzähltest – und ich fühlte mich sehr geschmeichelt, weil du mich wie einen Gleichaltrigen oder wie einen Vertrauten behandeltest – daß du vor vielen Jahren in das Eulengebirge gefahren seiest, um dort den ersten Entwurf deiner ‚Philosophie’ niederzuschreiben, deren erster dicker Band nun bereits draußen sei, und daß du auch, dich auf Kant berufend, einen Namen für deine Phiolosophie erfunden habest, nämlich den 'Personalismus'." (Anders 1979:143)

Der Vater weihte den Jungen in die Geheimnisse seiner Gedankenwelt ein. Diese reale Zwiesprache endete erst mit dem Tod des Vaters. Doch sein intellektueller Einfluß auf den Sohn blieb noch bis in dessen hohes Alter wirksam. In einem Interview, das Günther Anders in den achtziger Jahren Alexander Giese gab, betonte er, daß sein Vater mit Person und Sache ein dreibändiges Werk geschaffen habe, seine eigene Antiquiertheit des Menschen aber nur zwei Bände umfasse. Der dritte Band erschien in Artikelform im Neuen Forum, einer Wiener Zeitschrift, in der Günther Anders regelmäßig publizierte.

Der Einfluß, den der Vater ausübte, war nicht nur intellektueller Natur, sondern äußerte sich auch in ganz einfachen, alltäglichen Handlungen, die beinahe an Initiationsriten erinnern. Günther Anders schrieb in seiner Autobiographie darüber, wie er in den Manuskripten des Vaters, die im Papierkorb gelandet waren, wühlte, sie herauszerrte und las, nichts davon verstehend, sie aber dennoch als etwas Besonders wahrnehmend. Und dann war da die Heiligkeit des elterlichen Arbeitszimmers, das nur unter besonderen Umständen betreten werden durfte, und nicht zuletzt die Schönheit der Arbeit selbst, die bei Günther Anders im Rückblick poetisch nachklingt: "Vaters grün beschirmte Petroleumlampe, in deren Schein er etwas schreibt, gewiß eines seiner Bücher, nein, wie ist das möglich, denn er scheint ja gar nicht nachzudenken, seine Hand wandert ja ganz gleichmäßig und ohne jede Unterbrechung von Zeile zu Zeile, ob er da wohl eine heimliche Vorlage hat, die er einfach abschreibt? Vater? Lächerlich! Nein, Vater hat sowas nicht nötig. Still. Daß wir ihn nicht stören." (Anders 1979:116-117)

Wie sein Vater hatte auch er es später nicht nötig, abzuschreiben, sondern fand stilsicher seine eigene Sprache. Schließlich erhielt er die höchste Auszeichnung, die einem Lehrling des Geistes zuteil werden konnte, das eigentliche Initiationsritual, durch das der junge Günther Stern zum Träger des Wortes wurde, zum Überbringer der Schrift: "Oft hatte ich nämlich Vaters mit säuberlich stenographierten Texten bedeckte Seiten (die mich mit Ehrfurchtsschauder erfüllten wie Hieroglyphen, und von denen ich wußte, daß sich aus ihnen später, so wie Schmetterlinge aus Raupen, Vaters Bücher entwickeln würden), zu Steinitzens zu tragen. […] Regelmäßig endeten diese Botengänge dann damit, daß mir Vater, der (obwohl dreißig Jahre älter als ich) damals dreißig Jahre jünger war als ich heute, bei der Überreichung der Reinschrift, wohl teils aus Freundlichkeit, teils aber auch, um meine Dankbarkeit zu prüfen, weiszumachen versuchte, daß ich ihm absolut unentbehrlich sei, da ja ohne diese meine Botengänge keines seiner Bücher herauskommen würde, vielmehr jede Seite zuerst bei ihm und dann bei Steinitzens liegenbleiben würde – was ich ihm zwar nicht ganz glauben konnte, aber auch nicht ganz nicht glauben wollte." (Anders 1979:76-77)

Der Vater ging jedoch nicht nur zu Hause der geheimnisvollen Tätigkeit des Schreibens nach, aus der dann später Bücher entstanden, sondern er suchte regelmäßig einen Ort außerhalb der familiären Umgebung auf, draußen in der Welt, einen öffentlichen Raum, der nicht weniger geheimnisvoll und romantisch war. Diesen Ort, die Universität in Breslau, durfte der Sohn manchmal besuchen, um den Vater dort abzuholen: "Der Seminarsaal wird mir aufgeschlossen. Gesehen hatte ich den natürlich niemals zuvor. Zwar war es mir, wenn ich Vater an Regen- oder Schneetagen abholte, erlaubt gewesen, in das Steffensgebäude einzutreten, nicht dagegen in den Saal selbst – kein Wunder also, daß der, wie das Reich der Erwachsenen überhaupt, für mich im Geruch des Mysteriösen gestanden hatte, was übrigens noch dadurch gesteigert worden war, daß das Gebäude, das erste Barockgebäude, das ich je gesehen, in meinen Augen etwas Byzantinisches und Üppig-Tropisches an sich hatte." (Anders 1979:121)

Diese Mischung aus frühkindlichen Eindrücken und realen Initiationen haben jedoch nicht dazu geführt, daß Günther Anders seinem Vater in die akademische Laufbahn folgte. Dies hat mit der schon angesprochenen Hinwendung zur Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zu tun, und damit einhergehend mit der Entlarvung der väterlichen Naivität in seinen politischen Anschauungen, aber auch mit den Männern und der einen Frau (Hannah Arendt), die ihm während des Studiums in Freiburg und später in Marburg begegneten. Edmund Husserl und Martin Heidegger waren zwar auf der persönlich-emotionalen Ebene bei weitem nicht so einflußreich wie der Vater, dafür aber auf der inhaltlichen, konzeptuellen, philosophischen und intellektuellen.

Bevor Günther Anders aber zu Edmund Husserl vordrang, mußte er den Übergang aus dem Hamburger Familienhaushalt nach Freiburg schaffen, mußte sozusagen der geistigen Abnabelung eine physische folgen lassen. Nach seinem Abitur überlegte er, was zu tun sei. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in Hamburg zu bleiben, um die Vorlesungen von Ernst Cassirer weiter zu besuchen, und dem Wunsch, nach Freiburg zu gehen, wo Edmund Husserl lehrte. Über diesen Zwiespalt schrieb William Stern an seinen Freund und Philosophen Jonas Cohn in Freiburg: "Ich schob das Schreiben immer auf, weil ich hoffte, Dir über Günthers Sommerpläne berichten u. Dich fragen zu können, ob er eventuell, wenn er nach F.[reiburg] kommt, Euer Pensionär werden könnte. Aber er schwankt noch. Einerseits zieht es ihn hinaus, andererseits ist er gerade jetzt in einer Begeisterungsstimmung über das, was ihm H[a]mb[ur]g an Philosophie bietet: dies Nebeneinander zweier so verschiedener Denkweisen, wie sie im Kritizismus u. im krit. Personalismus vorliegen, fesselt ihn ungemein." (Lück 1994:127-128)

Bereits 1920 folgte sein erster Sommeraufenthalt bei der Familie Cohn und 1921 schließlich eine endgültige Festlegung des Studienortes. Die Familie Cohn wurde für ihn so etwas wie eine Übergangsfamilie, bei der er sich sehr wohl fühlte. Bis zum Jahr 1925, also bis zum Abschluß seiner Dissertation, verbrachte er immer wieder kürzere oder längere Aufenthalte im Haus der Familie Cohn. Wie wohl er sich dort gefühlt haben muß und mit welcher Offenheit er empfangen worden war, läßt sich aus einem Brief von Clara Stern an die Cohns erschließen: "Es ist wohl selten, dass eine Natur wie Günther auf solch tiefes Verständnis stösst, wie er es bein Ihnen gefunden hat. Als ganz Fremdes kam er zu Ihnen – Sie wussten nichts von seiner Entwicklung, von seinen Gaben, von seinem Streben, von seinen Fehlern und Vorzügen. Und fast hellseherisch haben Sie den jungen Menschen erfasst, sind ihm mit feinstem Verständnis, mit mütterlicher Einfühlung entgegengekommen – Denn Ihnen ist jedes Ressentiment fern. Unser Junge und Ihre Kinder haben noch nicht die Brücke gefunden, auf der sie sich treffen könnten – wie nahe läge es da jeder Mutter, die Gründe hierfür nur ganz 'einseitig' zu sehen – Ihre Objektivität ist etwas ganz Seltenes – in meiner eigenen Familie, bei meinen Geschwistern habe ich sie oft schmerzlich vermisst." (Lück 1994:136)

Jonas Cohn nahm Günther Anders vorerst in seine Obhut, half ihm bei Geldnöten aus, unterstützte ihn dabei, sich in Freiburg einzuleben und an der Universität Fuß zu fassen. Erleichtert wurde ihm die Umstellung auch dadurch, daß Freiburg eben Sternland war. Nicht nur Jonas Cohn, sondern auch Edmund Husserl war ein Freund des Vaters, wie Hans Jonas in seinen Erinnerungen feststellte: "William Stern und Edmund Husserl kannten einander, so daß Günther Stern in Husserls Haus verkehrte." (Jonas 2003:85) Im Gegensatz zu Martin Heidegger, der auf Edmund Husserl folgen sollte, hatte letzterer, als Günther Anders bei ihm seine Dissertation begann, bereits seinen intellektuellen Zenit überschritten. Das Verhältnis zu Edmund Husserl ist am besten als freundschaftlich, aber distanziert zu beschreiben. Immerhin war Husserl eine gewichtige Person der akademischen Philosophie, im Alter seines Vaters, Wegbereiter der Phänomenologie und Lehrer von Martin Heidegger, dessen Reputation längst auch bis zu Günther Anders vorgedrungen war. Abgesehen von wöchentlichen Spaziergängen, die sie miteinander unternahmen, während denen sie philosophische Probleme erörterten und sich dabei schon früh klare Differenzen im Denken zeigten, dürfte es kaum Berührungspunkte gegeben haben: "Peripathisch machten wir zusammen phänomenologische Analysen, zumeist der Sinne, die er, da er unbewußt das Sehen als das Modell der ‚Wahrnehmung überhaupt‘ unterstellt hatte, vernachlässigt hatte: der nicht optischen Sinne, also des Hörens, des Riechens und namentlich der Körperempfindungen – was ihn in große Verlegenheit versetzte, weil bei diesen seine angeblich schlechthin gültige Unterscheidung zwischen ‚intentionalem Akt‘ und ‚intentionalem Gegenstand‘ dubios wurde." (Schubert 1987:26) Das Angebot einer Stelle als Sekretär lehnte Günther Anders dankend ab.

Vielleicht noch einige Worte zum Hergang seiner Promotion und zum Abschluß seiner Doktorarbeit mit dem Titel: "Über die Rolle der Situationskategorie im Logischen", was meist mit dem kurzen Satz promovierte 1925 bei Edmund Husserl in Freiburg abgetan wird. Der Abschluß zum Doktor der Philosophie ging nicht glatt vonstatten und offenbarte erste Risse in Günther Anders‘ Verhältnis zur akademischen Institution Universität. Der Abschluß zog sich ein ganzes Jahr hin. Während er 1924 sein Examen rasch hinter sich brachte, forderte Edmund Husserl von ihm einige Nachbesserungen an der schriftlichen Arbeit. Diese war Günther Anders nicht ohne weiteres bereit zu leisten. Einerseits war er zu diesem Zeitpunkt längst auf dem Sprung nach Marburg, um bei Martin Heidegger zu studieren, andererseits widerstrebte es ihm sichtlich, die Kritikpunkte seines Lehrers aufzunehmen und die abgeschlossene Arbeit noch einmal durchzugehen. Erst nach gemeinsamen Interventionen des Vaters und des Schwagers Rudolf Schottlaender machte er die notwendigen Korrekturen und erhielt 1925 sein Diplom. Auf seinen Abschluß folgte die Übersiedelung nach Marburg, mit Zwischenaufenthalten in Berlin, Abstechern nach Paris und damit verbunden der Auszug aus dem Sternland. Günther Anders war in der Fremde angekommen und begann dort heimisch zu werden. Er suchte und fand neue Bezugspunkte. Er machte einen Schritt nach vorne, hinein in die Welt des wahren Wortes, nach dem er solange gesucht hatte und das er nun endlich zu finden begann, in der Auseinandersetzung mit und im Widerspruch zu anderen, in der Entwicklung seiner eigenen philosophischen Konzepte. Wie weit Günther Anders sich bereits in Freiburg während des Studiums vom Sternland entfernt hatte, läßt sich in den Briefen William und Clara Sterns an Hans Cohn nachlesen. Der Vater beschwerte sich bei seinem Freund Jonas Cohn: "Günther schreibt so karg, daß wir kein rechtes Bild haben über den Stand seiner Arbeit, Termin usw." (Lück 1994:144) Der Vater bedauerte, daß die Kontakte zu seinem Sohn und auch zu seinen Töchtern spärlicher wurden. Seine Sorge war getragen vom Verlust des intellektuellen Einflusses auf den Sohn, der begonnen hatte, seinen eigenen Weg als Philosoph und Akademiker zu gehen. Und auch seiner dichterischen Entwicklung konnte er nicht mehr folgen, denn es blieb ihm verborgen, "was dichterisch in ihm vorgegangen ist". (Lück 1994:138)

Die Zeit in Freiburg war der letzte Ruhepol in Günther Anders' Leben. Nach Marburg zu gehen hieß nicht nur Sternland, sondern auch seine Kindheit zu verlassen, erwachsen zu werden, sich vom Kind Günther Stern zum Mann Günther Anders zu emanzipieren, vom Philosphen Günther Stern zum politischen Schriftsteller Günther Anders zu werden, die Heimat gegen die Fremde zu tauschen. Erst in den sechziger Jahren erreichte er wieder einen Ort, an dem zwar nicht mehr Heimat, aber doch so etwas wie Seßhaftigkeit möglich werden sollte. Zu dieser Frage schrieb er an seinen Freund Vladimir Dedjer: "Meanwhile our life has changed foundamentally: after our return from Copenhagen, we immediatlly moved from the place in Mauer which you know to a real apatement, the first one in my long life.” (Anders an Dedjer / 6.1.1968 / LIT)

Erst 1968 war er nach seinen Erfahrungen in Marburg, Berlin, Paris, New York und Los Angeles wieder an einem Ort angekommen: in Wien – im Weder-Noch.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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