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Ein Mann wie Dylan Thomas
Ein paar Gedanken zum Werk von Peter Wawerzinek



In Ich-Dylan-Ich setzt Wawerzinek die Interpretationsareit an seiner eigenen Geschichte fort. Er erarbeitet sich ein Leben, von dem er sich wünscht, dass wir es glauben sollen: Du und ich, wir beide, Dylan, können erst richtig zeigen, was mit unserer Dichtkunst los ist, wenn wir aus dem Buch vorlesen, besser noch, singend, melodisch werden. [15] In Ich-Dylan-Ich holt er sich ein Du als Zeugen für die Wahrheit dessen, was er über sich sagt, doch wer dem Mann einmal leibhaftig gegenübersaß, mit ihm sprach und ihn sprechen ließ, sich ihm zu nähern versuchte, auf mehr als eine intellektuelle Armlänge wird wissen, dass er in seiner Literatur versucht, was im Grunde jeder Autor, der autobiographisch schreibt, zu verwirklichen trachtet, sich selbst als Mensch zu rekonstruieren.

Bei Wawerzinek aber ist, denke ich, noch ein anderer Mechanismus wirksam, nämlich der Versuch eine literarische Figur von sich zu formen, von der er möglicherweise denkt, dass er diese Figur gewesen sei und sicherlich weiß, dass es sich eben um Romanfiguren handelt. Es ist eine Fiktionen seiner selbst. Seine Literatur ist ein genialer Geniestreich des Tarnen und Täuschens, obwohl er beredt und beständig wie kein anderer über sich selbst und sein Leben berichtet.

Doch der Wawerzinek, der uns aus seinen Büchern entgegentritt, ist eben eine Kunstfigur, ein von ihm erfundener Protagonist, der sich in einer von ihm erfundenen Welt wiederfindet, als Heimkind, als Alkoholiker, als Dylan Thomas, als ein Kind das er einmal war und als ein Peter, der vorbeischaute. Die Literatur des Bachmann-Preisträgers von 2010 beweist in grandioser Weise, wie sich real existierende Figuren in biographische Fiktionen verwandeln können, gerade weil der Autor vorgibt, dass das dargestellte Leben unverschlüsselt an den Leser herangetragen wird. Was sagt uns Lesern das über den Autor, wenn er Dylan Thomas als sein Alter Ego präsentiert? Bei Wawerzinek heißt es: Ich bin du, du wohnst in mir, ich in dir. Ich bin deine Wiedergeburt. Ich bin Dylan Thomas, der Spätgeborene. Ich bin es natürlich nicht, bin niemals Dylan Thomas, bilde mir das nur ein, will es so haben. [16]

Ich lasse mich nun ein auf das Experiment. Vierzig Jahre zwischen den Geburtsjahren des einen (1914) und des anderen (1954). Bei Wawerzinek ist von Intertextualität die Rede, wenn er von biographischen Bezügen spricht: Wir beide, Dylan, du und ich, sind damals in der Küche am Radio sitzend durch meine Entscheidung, dich weiter anzuhören, unzertrennlich verbunden worden. [17] Sprache ist also das, was die Kunstfigur Wawerzinek ausmacht, das Erzählen über die menschliche Verbindung, Sprache, Schreiben udn Sprechen als Kommunikation mit der Welt.

Die Natur bei Peter Wawerzinek ist das Unveränderliche, das Statische, das Immerwährende: Denn die Natur bleibt sich nahe, kaum Veränderungen. [17] Die Natur der Kunst hingegen ist der Verlust. [21] Was Wawerzinek genau damit meint, lässt er im Dunkel. Um diesen Satz, der mich zum Denken anregt, zum Denken über das, was sein Kunstverständnis sein mag, baut er aber Nebensächlichkeiten zu verlorene Gedichte und vergangene Zeiten, aus der Banalität des Faktischen blitzt plötzlich ein Satz auf, der einen wegführt vom Biographischen, von der Geschichte, die er nutzt für seine Rekonstruktionsarbeit, blitzt ein Weg auf, dem es sich lohnt zu folgen.

Peter Wawerzinek hat es immer geschafft, bei mir Wohlgefallen für seine Literatur auszulösen, bis heute, auch mit seinem Dylanbuch: Ich reimte sehr flink und gern. Ich war ziemlich einfallsreich bis kühn. Ich brachte seltsame Worte unter einen Hut du war darin sehr gut, wohlgefällige Zeilen zu schaffen, die den Leuten ein wenig Bewunderung für mich abrangen. [18] Vielleicht ist das ja das Erfolgsgeheimnis seiner Literatur, er verbreitet Wohlgefallen, er verpackt, was er sagt, in gefällige Bilder, in seine Sätze kann ein Leser sich fallen lassen, wie in weiche Daunen, in seinen Worten kann er sich einnisten wie in eine verlorene Heimat, hineinkriechen, in den Menschen, den der Autor uns präsentiert. Wawerzinek ist in der Lage, mit seiner Sprache Identifikationsangebote für den Leser zu schaffen, selbst wenn das Leben des Lesers vollkommen andere Verläufe genommen hat.

Ich-Dylan-Ich ist für mich ein gelungenes Buch über das Schreiben, über die Kunst und deren Begleitumstände, die das Leben eines Schriftstellers mit sich bringen. Es reiht sich ein in die Bekenntnisliteratur von Rabenliebe und Schluckspecht und ist dennoch anders, denn es greift tatsächlich auf frühere Stilformen zurück, ist nicht so geschwätzig wie die großen autobiographischen Texte. Und wenn Wawerzinek schreibt, dass Verlust die Natur der Kunst [21] ist, dann geht das, was Peter Wawerzinek ist und eines Tages gewesen sein wird, in seiner Kunst verloren, so wie manche Texte schon heute nicht mehr [...] [s]einem heutigen Leben [22] zugehörig scheinen, weil die Kritik sie gar nicht wahrnimmt, so als hätte Peter Wawerzinek vor dem Bachmannpreis und der Rabenliebe als Autor noch nicht existiert.

Kurze Sätze erhöhen bei Peter Wawerzinek das Tempo der Sprache: Das Meer. Immer wieder das Meer. Wir brauchen das Brausen und Tönen des Meeres. Wir brauchen es jeden Tag und in voller Lautstärke. Wir wären ohne die wilden Elemente in der Seele arm. Dem Meer verdanken wir unsere schöpferischen Kräfte. Das Meer und wir und die Dichtung. Wir lieben die Natur. Wir brauchen die fliehenden Wolken und rasch wechselnden Witterungen. Wir erleben die unterschiedlichen Stimmungen des Tages. Der Wind raunt uns wilde Geschichten ins Ohr. Der Wind schenkt uns Melodien zu unseren Zeilen. Wir rücken den Stift und schreiben auf, was die Winde uns erzählen. Wir stehen unter fremder Macht. Wir können nicht anders, als uns zu dem entwickeln, was wir sind. [23-24]

Vom Meer zur Existenz in einem Absatz: Das Meer […], was wir sind. Ohne Mühe, ohne langmächtige Erklärungsversuche, den direkten Weg gehen, ohne Umwege und ohne auf Abwege zu geraten und doch macht es mich misstrauisch: kann es so einfach sein? Lebt ein Mensch so monokausal, einer der als Kind verlassen wurde, hinter dem sich die Tür des frühen Todes schloss, aufbewahrt zum Sterben mit der Schwester in einer Wohnung, auf sich gestellt, sprachlos und nur durch die Stille gerettet, weil gerade ihretwegen die Nachbarn nach den Kinder suchten und sie nach Stunden der Einsamkeit fanden.

Peter Wawerzinek spricht unablässig über sich selbst und dennoch ist er wie kaum ein anderer in der Lage, ein Stück Welterfahrung zu enthüllen. Seine Bücher sprechen Bände vom Leben ind er Welt. Es wird Zeit die Spuren zu sichern, der Stille einen Platz zu geben, nicht um Wawerzinek zu entlarven oder zu enttarnen, sondern die Genialität der Gesamtrekonstruktion in seinem Werk aufzuzeigen, herauszufinden, wie er es schafft, sich selbst neu zu erfinden und gleichzeitig Zeugnis dieser Erfindung abzulegen, als wäre alles geschehen, wie er es vor unseren Augen in seinen Texten geschehen lässt. Die Literatur gibt ihm die Macht dazu, denn Literatur bietet die Möglichkeit, eine Figur in den Köpfen der Menschen real werden zu lassen.

Peter Wawerzinek muss keine Charaktären erfinden, um Literatur zu schaffen, er muss nur lange genug über sich selbst sprechen und schreiben, dann entsteht die Figur von selbst. In dieser Sache ist er Peter Handkes Zwilling, überschreitet ihn aber auch, denn Handke erfindet sich selbst als Objekt, als Projektionsoberfläche für eine aufstrebende Medienkultur, zur Erwirtschaftung eines markttauglichen Autorenichs. Peter Wawerzinek hingegen erschreibt sich seine Existenz als literarisches Subjekt, die Herstellung als massentaugliches Produkt stellt dabei nur einen Nebeneffekt dar. Handke hat sich persönlich verwandelt, um die Genialität seiner Texte mit einem Dichterleben zu synchronisieren. Das ist ein Vorgang, der dem literarischen Markt als Medienmarkt in die Hände spielt. Peter Wawerzinek aber hat seine Vergangenheit, seine persönliche Geschichte durch seine Literatur transformiert, ohne sich selbst dabei wesentlich zu verändern. Er hat sich eine Lebensgeschichte erschrieben, in der er sich gemeinsam mit seinen Lesern und Kritikern heimisch gemacht hat und mit jedem Buch wird seine literarische Wohnhöhle reicher möbliert. Das macht ihn zu einem so großartigen Autor, das zeichnet seine Literatur jenseits aller bemerkenswerten formalen literarischen Bilder aus.

Gleich zu Beginn des Buches Ich-Dylan-Ich [11] verweist Peter Wawerzinek den Leser auf seinen ersten großen literarischen Erfolg vor zwanzig Jahren, in dem er einen biographischen Zusammenhang zu Das Kind das ich war ins Spiel bringt. Zurecht wie ich meine. Dieser Zusammenhang lässt sich aber auch in formaler Hinsicht erschließen, denn in beiden Texten ist die Ähnlichkeit der genutzten literarischen Bilder nicht zu überlesen, mit der der Autor die Leser in seine Bücher hineinzieht, die Geschichte dynamisiert. Im Buch Das Kind das ich war heißt es: Meine Haut war vom Sand blank gerieben. In meinen Knochen rauschte das Meer. Meine Hände waren auf dem Rücken gerifft. Hinter den Ohren wuchs mir türkises Moos. Meine Lippen schmecken nach Salz. Meine Füße gingen im Schaum […] Ich trug die Wolken als Schmuck auf dem Kopf. [7]

In Dylan heißt es: Es herrschte eisiger Wind und am Strand führten sich die Wellen gigantisch auf. Sie schäumten in die runde Bucht hinein und warfen sich übermächtig gegen die steinerne Brüstung. Sie schien ihre Spielwiese, eine Art Wellentrampolin zu sein. […] Da wölbt sich eine Wand wie silberbläuliches Schokoladenpapier aus der Fassade hervor und wirkt wie geblähtes Silberpapier, als hätte sich die Fassade ein Bäuchlein angefressen. [26]

Im früheren Kind-Text wird das Ich selbst zur Natur, nimmt naturgestalt an, wird das Ich zum Meer. Jeder Satz ein Bild für sich und doch ergibt sich aus dem einen Bild das andere. Der Mensch als Naturerscheinung. Im späteren Text dann die Umkehrung, das Meer ist lebendig geworden, wie bei Rilke die Natur zum Leben erwacht. Die Fassade ist ein lebendiges Wesen, das in der Lage ist, sich ein Bäuchlein anzufressen. Es gibt also eine innere Verbindung nicht nur der Texte zueinander, sondern auch eine Verbindung des Menschen zur Natur, die über die einfache Betrachtungs- und Beschreibungsmöglichkeit hinausgeht, denn der Mensch kann Natur werden und die Natur kann menschliche Gestalten annehmen. Das macht Wawerzineks Literatur zu etwas Außergewöhnlichem.

[Peter Wawerzinek: Ich-Dylan-Ich. Roman. Wien: Verlag Wortreich 2015. 151 Seiten.]
[Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war. Berlin: Transit 1994. 123 Seiten.]

eingestellt am: 1.8.2020 | zuletzt aktualisiert am: 1.8.2020
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