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Über den Ursprung
Essay über das Schreiben


Beginnen will ich beim Titel. Der Titel ist, was den Text zum Text macht, ihn heraushebt aus der Notiz, aus dem beiläufig hingeworfenen Skript, aus der zufällig, aus der Gelegenheit herausgewachsenen Zeichenfolge. Die Überschrift gibt dem Text Halt und lässt ihn als mehr erscheinen als nur ein Stück Geschriebenes. Mein Text will benannt sein, wenn er mich überdauern und ihn absichern soll, gegen die Ansprüche der Leser, die nach mir kommen. Er soll Programm sein und doch alles offen halten.

Wie also einen Text übertiteln, der sich mit dem Schreiben beschäftigt. Nichts ist schwieriger als einen Titel zu finden, sagen die meisten Autoren. Ich denke aber, es ist einfach. Ein Titel entwickelt sich wie von selbst. Er ist plötzlich da und dabei zumeist das Naheliegende. Im Falle dieses Schriftsatzes hat sich der Titel von selbst aufgedrängt. Dennoch soll er mehr sein als nur die Summe der Einzelaussagen. Er soll verweisen auf das, was ihn hervorbringt, das, was in seiner Tiefe noch lauert und er soll einen Bezug herstellen, selbst dann noch, wenn das, worauf er sich bezieht im Text keine Rolle spielt. Der Titel soll den Essay verankern in seinem Entstehungskontext.

So mancher Leser wird sagen, da schmückt sich einer, der kleiner ist als er selbst, mit dem großen Michel Foucault und seiner Archäologie des Wissens. Nichts liegt mir ferner, als mich zu schmücken, mit den Federn der anderen, mit den wunderbaren, mythischen und mir oft fremd anmutenden Worten anderer Autoren. Aber, was mich mit diesen anderen, oft auch fremd gebliebenen Denkern verbindet, ist die Suche nach den Ursprüngen menschlichen Handelns, menschlicher Existenz, menschlicher Organisationsformen, wenn es nicht in meinen eigenen Ohren so groß klänge, würde ich sogar Schreiben der anthropologischen Existenz des Menschen. Noch größer als eine Archäologie des Schreibens würde ein Titel klingen, der sich da liest wie eine Anthropologie des Schreibens. Doch all das ist Unsinn, ist Spiegelfechterei, denn mir geht es im Grunde um die schlichte Frage: Was kann ich heute noch mittels Literatur zur Welterkenntnis beitragen, nach Michel Foucault, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, nach Bert Brecht, Ruth Klüger, Günther Anders, Jean Paul Sartre, Albert Camus, Franz Kafka, Ingeborg Bachmann und wie sie alle heißen mögen; nach all den klugen Köpfen, die sich über ihr eigenes und das Schreiben der anderen (nach)denkend hergemacht haben, um Kluges und Klügstes in die Welt zu setzen. Was kann noch beigetragen werden zur Analyse der deutschen, der deutschsprachigen Literatur, die von Heerscharen eifrig-beflissener deutscher Literaturwissenschaftler und Linguisten bis in den letzten Winkel der Ungewissheit verfolgt und aufgefunden wurde? Eine Erforschung, die keine weiße Flecken zurückgelassen, den Dschungel der Schriftlichkeit durchforstet, erobert und besetzt hat und besetzt hält.

[ Was natürlich sofort die Frage provoziert: Wem gehört denn die Literatur: den Autoren, den Lesern, den Verlagen, den Wissenschaftlern? Und was ist Literatur eigentlich: gesetztes, gedrucktes Schriftwerk, Kunst und oder Kunstgewerbe, Geistes- und oder Handwerk? Unsere Archive und Bibliotheken sind vollgestopft mit literarischen, politischen, ökonomischen, sozialen, philosophischen und wissenschaftlichen, rechtlichen Texten, die Antworten geben auf diese Fragen. Dennoch ist es still um mich, wenn ich an Literatur denke, wenn ich darüber nachdenke, was ich tue - wenn ich das tue, was ich eben gerade tue: Schrift setzen, schreiben, texten oder wie auch immer man es nennen mag. ]


Doch all das Wissen darum, dass schon soviel Wissen in der Welt ist, hat das Hervorbrechen dieses Essays nicht verhindern können. Ich konnte mich mit den Antworten, die ich vorfand, nicht zufrieden geben. Vielleicht ist das ja schon einer der ersten Motivationen für das Schreiben. Es drängte sich mir als Schriftsteller, Historiker und Literaturwissenschaftler eine weiterführende Frage auf: Wie entsteht ein Text? Nicht so sehr auf semiotischer oder linguistischer Ebene, sondern im ganz banalen Vorgang der Aneinanderreihung von Buchstaben. Durch welche Mechanismen werde ich überhaupt in die Lage versetzt, diesen Satzteil: durch welche Mechanismen werde ich überhaupt in die Lage versetzt, diesen Satzteil - zu schreiben.

Es ist eine Art archäologische Arbeitsweise, die mich in die Lage versetzt, alle meine Erkenntnisse zu diesem Problemfeld aufzuschreiben. Archäologie meint in der Geschichtswissenschaft die Altertumskunde. Mit Archäologie verbinden wohl die meisten Menschen das Bild eines Archäologen, der am Boden kauernd, mit einem kleinen Handfeger bewaffnet, der Erde zu Leibe rückt, um ihr Kostbarkeiten aus versunkenen, oft sagenumwobenen Kulturen zu entreißen. Da kommt mir sofort der Name Schliemann in den Sinn, der Entdecker Trojas, oder dem, was von Troja übrigblieb.

Was aber kann der Begriff Archäologie bedeuten, wenn er losgelöst wird, aus dem Kontext seiner ursprünglichen Zuschreibung als Altertumskunde? Kann der Begriff nützlich sein, um anderes zu bezeichnen? Eine Übersetzung in den Sprachgebrauch, den ich von diesem Begriff nutzen möchte, heißt, ihn mit neuer Bedeutung aufzuladen. Das setzt nicht notwendigerweise eine Löschung der alten Begrifflichkeit voraus. Doch im Zusammenhang mit dem Schreiben meint Archäologie eben nicht Altertumskunde, sondern meint den Akt der Grabung, dem Tätigkeitsfeld, das dem Begriff vorausgeht: mögliche Fundorte festlegen, graben, finden, Gefundenes bestimmen und in einer historischen Kontext einordnen.

Das Wesentliche an einem Archäologen ist ja nicht die Altertumskunde, sondern seine Grabungstätigkeit und die Kontextualisierung seiner von ihm gefundenen Scherben und Tonkrügen. In diesem Sinne möchte ich meine Auffassung von Archäologie verstanden wissen. Auch ich werde in diesem Essay Grabungen vornehmen, also einen vom Erdboden verdeckten „Befund“ freilegen. Befunde sind die messbaren und beobachtbaren Fundumstände, also der Fundkontext. Jeder von uns hat schon mal einen Befund, nach einem Arztbesuch, in Händen gehalten. Ein essayistischer Befund ist auch nichts weiter als ein messbarer und beobachtbarer Fundumstand nach einer ärztlichen Untersuchung. Der Krankenbefund stellt im besten Falle fest, an welcher Krankheit der Patient leidet und der Arzt kann so eine Therapie festlegen, die zur Gesundung, zumindest zur Linderung der Leidens beitragen kann.

Meine Arbeitsweise ähnelt der des Arztes oder des Archäologen. Es wird ein Ort festgelegt, an dem gegraben oder die Diagnose vollzogen wird, im einen Fall ein Erdhügel, im anderen der Patient, in meinem das Schreiben. Nur mein Ort ist eben nicht eindeutig zu verorten. Das Schreiben selbst findet zwar immer an einem Ort statt, nämlich dort, wo der Schreibende sich befindet, doch im Gegensatz zum Archäologen und Arzt ist der Befund eben nicht mehr an diesem Ort aufzufinden, sondern dort, wo der Schreibende längst nicht mehr ist, in seinem Text. Hier muss notgedrungen meine Arbeitsweise von der des Archäologen abweichen.

Der Ort meines Befundes ist das Denken selbst, das jedem Schreibprozess vorausgeht. Und diesem Denken wiederum geht eine Erfahrung, eine Weltbetrachtung voraus, ein mit allen Sinnen die Welt erfassendes Verhalten. Die Welt, die einem Autor begegnet, ist schon selbst ein archäologisches Fundstücke. Er muss aus dem Hier und Jetzt, selbst wenn dieses Hier und Jetzt ein Vergangenes, ein Erinnertes, ein Zurückgelassenes ist, seine Texte entwickeln. Ruth Klüger formulierte es so: […] was man kennt, ist die Gegenwart. [Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München: dtv 19947, S.83.]

Mit dieser Gegenwart, die ja in dem Augenblick, da ich das Wort Gegenwart hinschreibe, schon Vergangenheit ist, schlage ich mich seit ich denken kann herum. Das Schreiben hat mit Gegenwart wenig zu tun. Die Erfahrung, das tätige Wahrnehmen der Welt findet in der Gegenwart statt, das Denken ist zwar näher an der Gegenwart dran, aber dennoch ein Prozess, der mit Vergangenem zu tun hat. Schreiben verhält sich zur Gegenwart wie eine tickende Uhr. Kaum habe ich gesehen, dass es zwölf Uhr mittags ist, ist Mittag auch schon vorbei.

Das macht die Sache mit dem Schreiben so schwierig. Kein Autor kann sich sicher sein, während er seine Texte verfasst, dass sie im Augenblick der Publikation, geschweige denn im Augenblick, in dem der Leser sie zur Verfügung bekommt, noch aktuell sind, noch aussagekräftig, nicht längst von der Realzeit überholt wurden. Deshalb sind vielleicht die erfolgreichsten Bücher jene, die eben nicht behaupten, sich mit etwas zu beschäftigen, das sie kennen, sondern mit dem, was sie nicht kennen, nämlich den gemachten Erfahrungen, die allesamt in der Vergangenheit liegen und immer nur durch Grabungen und Befunde in die Gegenwart zurückgebracht werden können und so die Welt bereichern und für die Nachkommenden sichern.

Meine Grabungen sind nicht systematisch. Ihnen liegt aber ein gerütteltes Maß an systematischer Sammlertätigkeit zugrunde. Mein Befund ist natürlich bruchstückhaft, wie der Befund jedes Archäologen kann ich nur bewerten, was ich aufgefunden habe. Das liegt wohl daran, dass ich selbst Teil des Grabungsprojektes sein muss, da mein Schreiben hier ebenso auf dem Prüfstand steht, wie das Schreiben jedes anderen. Kann ich mich als Autor, mit meinen Texten und meiner Erfahrung nicht einordnen in dieser Archäologie, so wäre alles in diesem Text Gesagte nicht einmal das elektronische Papier wert, auf dem es erscheint.

[ Es wäre doch spannend einen Text zu schreiben, der sich selbst analysiert, während er sich schreibt, während er geschrieben wird. Noch im Schreiben werden seine Schwachpunkte und Problemzonen aufgezeigt, wird das theoretisch Erörterte praktisch erprobt, mit Exkursen, Verweisen und kleinen Abhandlungen zu Thema und Autor. Sichtbar soll werden, was der Text will, was er kann, was er soll, was er darf. Sichtbar soll werden wie Literatur entsteht, wie sie sich in der Realität verwirklicht, wie ihr Wahrheitsgehalt von Seite zu Seite steigt und zurückkehrt in die Realität, aus der sie herausgewachsen ist. Der Text als sezierte Einheit, als vom Autor selbst zerstückeltes Sein, verfolgt bis in seinen dunkelsten Winkel, bis nichts übrig bleibt, als das, was Literatur im Grunde ist, die Verwirklichung von Welt, um selbst Welt zu schaffen.
Natürlich führt dieser Exkurs gleich zu Beginn zu weit. Kaum eingelesen in mich selbst, wird die erste Erinnerung aufgerufen an einen Text von Günther Anders dem großen und klugen Übertreiber in Richtung Wahrheit und seinen Ausführungen zur Weltfremdheit des Menschen, die er in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte. Der Mensch ist jedoch, als biologische Einheit selbst ein Stück der (Natur)Welt, der durch seine fundamentale „Künstlichkeit“ in die Lage versetzt wird, selbst eine (Kultur/Kunst)Welt zu schaffen. Täglich sind wir mit dieser Form der Weltproduktion beschäftigt und verändern sie dadurch stetig. Literatur ist ein Stück dieser Weltproduktion, die irgendwann einmal als Bruchstück, als Zitat unabhängig von seinem Autor existiert.
]


Es ist bezeichnend, dass ich mich heute als wissenschaftlicher Autor rechtfertigen muss, dafür, dass ich mich in meinen literarischen Text einbringe. Meine beinahe vierzigjährige Schreiberfahrung legt mir nahe, dass nichts, aber auch gar nichts über Literatur gesagt werden kann, ohne den Bezugspunkt, den der Autor selbst dazu einnimmt, mitzudenken und preiszugeben. Deshalb werde ich mich auch immer wieder zu Wort melden, mich mit meinem Schreiben, sozusagen exemplarisch einbringen, um zu zeigen, wie schwierig es war und ist, das eigene und das fremde Schreiben zu trennen, weil doch alles Gelesene selbst schon Bezugspunkt für mein eigenes Schreiben ist. Meine Texte sind über viele Jahre hinweg entstanden und längst Teil meiner eigenen verschütteten Vergangenheit, wenn der Leser diese in Händen hält, oder als Google-Raubkopie aus dem Internet heruntergeladen hat. Doch selbst zum Zeitpunkt ihrer Entstehung war es für mich notwendig, die Voraussetzungen zu klären, unter denen das erste Wort einer Niederschrift entstand.

Einem Text gehen ja im Normalfall mehrere Textvarianten voraus. So auch im Falle einer Archäologie. Daher sollte auch diese Archäologie, die sich um das Schreiben als Akt der Weltverarbeitung und Weltentstehung bemüht, mit dem Ursprung dieses Textes selbst auseinandersetzen.

Vorangegangen ist schon diesem Text all das, wovon ich noch berichten werde: Erfahrung und Erkenntnis. Doch ausgelöst wurde er in einem germanistischen Seminar, wo ein Literaturwissenschaftler von Rang und Namen sinngemäß sagte, er könne das Geheimnis des Schreibens nur schwer beschreiben, wie aus einem Gedanken ein Stück Text wird, das dann Jahrzehnte später noch interpretierbar bleibt und ein wenig von dem enthüllt, was der Autor uns sagen wollte.

Da regte sich in mir aus zweierlei Gründen Widerspruch, der aus meinem Unbehagen entstand, dass ich eben nicht nur Schriftsteller, sondern eben auch Literaturwissenschaftler und Historiker und Lehrer bin. Der erste Widerspruch regte sich in Bezug auf den Geniebegriff, der sich hinter dieser Aussage verbarg. Nicht ergründen zu können, wie ein Text entsteht, wie Schreiben an sich zustande kommt, bedeutet dem Autor und seiner Tätigkeit einen mythologischen Stellenwert zuzuordnen. Seine Tätigkeit steht damit außerhalb der Bewertbarkeit, seine Bedeutung wird dadurch einerseits überhöht und andererseits entwertet.

Überhöht dadurch, dass er sich jeder Kritik und jeder Grabungstätigkeit entziehen kann, in dem er behauptet: Schreiben sei ein unbeschreiblicher Vorgang, es dränge aus ihm heraus. Drängt die Rohrverlegung aus einem Installateur heraus? Drängt das Abendessen eines Haubenkoches aus ihm heraus? Drängt sich der Bauplan einem Architekten auf? Nein, in den meisten Fällen gibt es Möglichkeiten herauszufinden, wie ein Berufsfeld funktioniert. Nur bei den Künstlern, in meinem Fall bei den Schriftstellern, also gerade bei denen, die gewohnt sind, die Welt zu beschreiben, soll die Beschreibbarkeit der Tätigkeit des Schreibens versagen. Das kann ich nicht glauben.

Entwertet wird der Autor dadurch, dass er in Bezug auf die Entstehung und die Bedeutung seines Textes in den Hintergrund tritt. Es gab und gibt eine lange Tradition in der Philosophiegeschichte den Autor für tot zu erklären oder für das Verständnis seines Werkes als entbehrlich zu erachten. In all diesen Versuchen wird ja auch im Sinne der Archäologie, die sich ja mit toten Kulturen und ihren Resten beschäftigt, das Fundstück selbst bewertet, also der Text. Es wird so getan, als wäre der Autor nach der Produktion seines Textes aus der Geschichte verschwunden. Aus Sicht eines Lesers, eines Wissenschaftlers mag das ja durchaus Gültigkeit besitzen, doch aus meiner Sicht, aus der Sicht desjenigen, der den Text schreibt, ist es natürlich nicht unwichtig zu wissen, wer ich bin und von welchem Erfahrungshorizont aus ich schreibe. Es geht dabei nicht darum, den Autor als Urheber seines Textes zu rehabilitieren, auch nicht den Tod des Autors in Frage zu stellen, sondern den Autor differenziert zu betrachten. Der Autor in seiner gesellschaftlichen, seiner persönlichen und literarischen Funktion ist zu unterscheiden und in Bezug auf die Bedeutung seines Schreibens hin zu untersuchen.

Doch bevor ich zum Autor komme, zu seiner Assoziationsfähigkeit, zu seiner Kunst der Abschweifung, Ausblendung, Einblendung, seinen Manipulationskünsten noch einmal ein paar Worte zum Begriff der Archäologie. Zerlege ich den Begriff Archäologie, der ja aus dem Griechischen stammt, in logie hergeleitet von logos (Wort, Rede) und archäo, hergeleitet von arché (Anfang, Ursache, Ausgangspunkt) könnte ich den Essaytitel auch als Rede vom Anfang, von der Ursache, vom Ausgangspunkt des Schreibens nennen. Ich möchte herausfinden, was ich tue, wenn ich tue, was ich tue, wenn ich schreibe. Was ist mein Befund zum Schreiben. Die Schrift ist der Erdboden, der alles verdeckt, was zum Ursprung des Schreibens hinführen könnte, zur Erfahrung und zum Denken. Doch wie kann ich mich einem Vorgang wie der Erfahrung und dem Denken nähern, der keine Materialität besitzt, sondern nur in seinen gesprochenen und geschriebenen Artefakten sichtbar wird, dort, wo er sich materialisiert, im Falle der Literatur in den Texten.

Ich muss mich also dem Schreiben in gleicher Weise nähern, wie ich mich alten, vergangenen Kulturen näher, mittels der Befunde von Grabungen, die ich interpretieren, zusammenfügen und darstellen kann. Auch das Denken als unsichtbare, unangreifbare, unmaterialisierte Basis aller menschlichen Weltvermittlungsprozesse, ist nur durch seinen sich materialisierenden Kontext erfassbar.

Nochmal: Warum eine derartig umständliche Beschreibung? Warum nicht direkt zur Sache kommen, aufschreiben, wo alles begann, wie eins zum anderen führte? Weil eben der Ausgangspunkt dieses Schreibens selbst im Unantastbaren liegt, deshalb bedarf es einer Interpretationsarbeit des eigenen Beginnens, in dem sich das von mir selbst Gedachte und daher für mich selbst ebenfalls Unantastbare begreifbar und erklärbar macht, mir selbst Einblick gibt in meine Arbeitsweise, sagbar zu machen, was ich tue, um aus der Isolation des falschen Geniebegriffs herauszutreten und mich und meine Arbeit in einen Kontext der Welt zu stellen und Schreiben auf das zurückzuführen, was es ursprünglich war: Kommunikation und Handwerk.

Erfahrung, Denken und Schreiben sollen als gesellschaftlich nützliche Arbeit sichtbar werden, der ein Wert zukommt, die in einem täglichen Überlebenskampf wurzelt, nicht im Elfenbeinturm, etwas vermittelt über die real existierende Welt, nicht als weltfremd gilt und damit ebenso unantastbar wird, wie das Denken selbst. Das Denken materialisiert sich vor allem auch in der Kunst, im gesellschaftlichen Kontext, in dem es erscheint. Die Schrift ist sozusagen einer dieser Kontexte und sicher nicht einer der unwesentlichsten in unserer abendländischen Kultur. Schließlich ist die Schrift das Transkript des semantischen Sprechens, das Fassbare, das Festhaltende, das Festlegende, das Überprüfbare, Massentaugliche, Medialisierbare, real Verfügbare eines immateriellen Prozesses, des Denkens selbst.

Ein Wort fügt sich an ein anderes, davor noch ein symbolisches Zeichen W an eines wie o und r und t. Danach Satz an Satz. Text an Text zum Werk, in dem sich das Ergebnis des Denkens eines Autors über die Welt bruchstückhaft eingeschrieben hat. Schreiben ist also demnach nichts anderes als der bruchstückhafte Befund einer Grabung und der Text nichts weiter als seine museale Realisierung. Der Text ist eine archäologische Sammlung, eine Anhäufung von Kontextbefunden des Denkens, aber, und das ist glaube ich die Tragik des Autors, niemals die Darstellung dessen, was er erfahren oder gedacht hat.

Wie sich schon jetzt deutlich zeigt, entsteht dieser Essay aus dem Gerümpel meiner Erfahrungen und Erinnerungen und lässt mich doch erschrecken, wenn ich daran denke, wie wenig ich von ihm und über seine Entstehung weiß. Bertolt Brecht hat ein kleines Stück vom literarischen Himmel der Weisheit gefunden und setzt selbstbewusst-ironisch eine mögliche Antwort, auf das, was mich als Frage umtreibt: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen | Den Vorhang zu und alle Fragen offen. [Bertolt Brecht. Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. S.134.]

Auf seltsame Weise wurde dieser Spruch von der Medienkultur, in ihrer ultimativen literarischen Erscheinung des Kritikers Marcel Reich-Ranicki auf das Mittelmaß einer gereimten Spruchzeile herabgewürdigt. Nichts ist geblieben vom utopischen Gehalt, weil in dieser Art und Weise verdeckt wird, was Bertolt Brecht wirklich meint, wenn er in weiterer Folge vom bitteren Ende schreibt. Brecht sagt uns, dass der Autor uns nichts lehren kann, sondern nur hinführen kann, zu dem, was er gesehen, gefühlt, mit all seinen Sinnen wahrgenommen, was er in einem Stück Literatur verwirklicht hat, was hinführt zu dem, was schließlich seine Kunst, was Literatur ausmacht. Brecht lässt nur einen Ausweg aus dem Ungemach, das der Autor uns durch seinen Text hinterließ: Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: | Sie selber dächten auf der Stelle nach. | Auf welche Weis dem guten Menschen man | Zu einem guten Ende helfen kann. | Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! | Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! [Bertolt Brecht. Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. S.135]

Kaum ein Autor der Moderne, der sich nicht abgemüht hätte mit er Frage nach Funktion, Entstehungsweise und Vermittlung von Literatur. Und trotz all der vielen Antworten, die sich mir aufgedrängt haben über die Jahrzehnte, blieb doch beinahe alles offen. Mich treibt seit Jahren die Frage um, was ist Literatur, wie kann sie überhaupt produziert werden? Und über all dem Denken, ist mein Schreiben auf der Strecke geblieben. Mein Schreiben ist flüchtig, haltlos, irrlichternd. Auch jetzt zeigt sich wieder die Unmöglichkeit, das zu erklären, was ich bearbeiten will, den Gegenstand zu finden.

Es ist unglaublich schwierig, über das zu schreiben, was sich in der Welt zeigt, über die Erscheinungen der Dinge, die sich ja oft nicht einmal gesprochen oder geschrieben sprachlich vermitteln. Letztlich muss ich als Erstes sinnlich Wahrgenommenes in (meine) Sprache übersetzen. Doch alle Wahrnehmung ist, wie wir wissen, subjektiv, ist brüchig, ist trügerisch, ist schon in sich keine Kenntnisnahme der Realität, sondern nur das, was wir uns selbst von ihr zur Kenntnis bringen. Bereits im Ansatz bricht der Literatur die Realität weg.

Oftmals fühle ich mich wie ein Analphabet, der sich Hilfskonstruktionen baut, auf deren Oberflächen er dann seine Bilder, seine Zeichen, seine Geschichten montiert, immer in der Hoffnung ein Stück Welt in ihrem Kern zu treffen, eine Gültigkeit herzustellen, die all den Aufwand der Schriftsetzung lohnt. Immer wieder auch passiert mir das, wovon Peter Weiss berichtet, wenn er schreibt: Doch manchmal wenn er [der Schreibende] sich darauf besinnt, was er eigentlich vorhat, wollen ihm die Wörter entgleiten, und er muß sich jedes Wort einzeln heraufsuchen und erobern, um es einzugliedern in seine Sprache. Die Sprache scheint ihm als etwas Unmögliches, das nur aus Trotz gegen diese Unmöglichkeit entstehen kann. Unter jedem Wort, das er in seiner Schrift festzuhalten vermag, liegen die Anfangsgründe des Wortes, es liegt ein Stammeln und Lallen in jedem Wort, und tiefer darunter noch sind unartikulierte Geräusche herauszuhören, ein Zungenschlagen, ein Lippenklappern, und in der Machtlosigkeit ist der Schrei und dann nur noch die Stille. [Peter Weiss. Rapporte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S.170.]

Diese Stille empfinde ich mit zunehmendem Schreibalter immer beengender. Die Stille schnürt mir manchmal die Kehle zu, wenn die Welt mich besonders eindringlich fordert, mich auffordert und auf alles das hinweist, was ungeschrieben daliegt; wenn die Welt brach liegt in den Furchen der unbeackerten Böden, die aufgerissen sind, von Handwerk der Maulwürfe und Feldmäuse. Ich ersticke an meinem eigenen Schrei, der mir im Halse stecken bleibt. Mein Stammeln, das sich aus der Kehle würgt, lässt Menschen oft ratlos zurück und nur so ist zu erklären, warum ich nach all den Jahren nun begonnen habe über Literatur zu schreiben, nämlich: Um mir selbst noch einen Rest von Gültigkeit in der Welt zu verschaffen.

Dabei geht es mir nicht um die Frage: Warum schreibe ich? Die scheint mir einfach zu beantworten. Meine Archive sind voll mit Rechtfertigungen und Sehnsüchten, mit Aufarbeitungen meiner eigenen Geschichte. Tausende Seiten lagern in meinen Archiven als archäologische Befunde für die Sinnhaftigkeit meines Schreibens. Ich habe nie in Zweifel gezogen, dass Schreiben Sinn macht und manchmal ist der Gedanke verführerisch, dass ich überhaupt nie etwas anderes getan habe, als zu schreiben. Schon bevor ich die ersten Worte hinkritzelte, beinahe vierzig Jahre ist es her, habe ich im Kopf geschrieben, in zahllosen Stunden meines Alleinseins, in dem ich mich heraus gedacht habe aus dieser Welt, die mich umgibt und immer schon ängstigte, mit ihrer Gewalt, ihrer Herrschaft, ihren Missverständnissen, ihrer Lustlosigkeit, ihrer Ungerechtigkeit und all den unerfreulichen Begleiterscheinungen, die ein Leben mit sich bringen kann.

Was mich so zornig macht, ist was Menschen anderen Menschen antun. Was mich mit Wut erfüllt, ist, was ich anderen Menschen in der Lage bin, an Schrecknissen zuzufügen. Und so ist das, was Bertolt Brechts Utopie ausmacht, der Kern dessen, was mich in dieser Welt oft zu zerreißen droht: Euer einstiger Befehl | Gut zu sein und doch zu leben | Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich | Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern | Und zu mir konnte ich nicht zugleich. | Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer. | Ach, eure Welt ist schwierig! Zu viel Not, zu viel Verzweiflung! [Bertolt Brecht. Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. S.130.]

Der einstige Befehl, der mir erteilt wurde: sei gut, ehrsam und rechtschaffen, ließ sich nicht halten in der Welt, die mich umgab. Und aus der Not habe ich eine Tugend gemacht. Dort, wo mein moralisches Ich in der Welt versagte, habe ich es aufgeschrieben. Das befreit mich nicht von meiner puritanisch-marxistischen Kindheitsschuld, doch es hilft mir den Riss, der durch mich hindurchgeht, seit ich denken kann, zu kitten – provisorisch; hoffend, dass die Wunde nicht eitrig wird, sich der Schmerz nicht nach Innen ausbreitet, bevor der Tod mich aus der Welt reißt.

Und schon wieder habe ich den Text durchbrochen. Habe getan, was getan werden muss, um den Leser bei der Stange zu halten. Die Technik der Verfremdung ist das, was wir gelernt haben, um den Text im Fluss zu halten und den Leser nicht entkommen zu lassen. Er darf sich nicht einlullen lassen, von dem, was klingt, wenn es klingt. Er darf sich nicht hingeben allein dem Klang der Worte, dem Fluss des Geschehens. Der Leser sollte auf der Hut sein, wenn ein Autor ihn aufs Glatteis führt, ihn einlullt mit den schönen Künsten. Was ich versuche, ist, Distanz zu mir selbst zu halten. Herausgerissen aus dem Fluss der Schreibzeit, setze ich noch einmal nach und hole mir den Leser ganz nah heran und bitte ihn nicht nachzugeben, mir auf der Spur zu bleiben, mich zu entlarven und den Text als das zu nehmen, was er ist, eine Abweichung, eine absichtsvolle Sicht der Welt, die dem Leser aufgeschwatzt werden soll, die ihn entmündigen und vereinnahmen will, zum Zweck der eigenen Gültigkeit und Dauer.

Mit meinem Schreiben habe ich immer versucht Kommunikation mit der Welt herzustellen, die oft genug verschwiegen, stumm und taub neben mir existierte und mich doch ständig mit ihren hysterischen Alltäglichkeiten belästigte und Stellungnahmen von mir für mein Denken und Handeln einforderte. Und immer wieder fragte ich mich, wie sollte ich reagieren auf diese Welt, die immer mehr in ihre Bestandteile zerbarst. Und dann fiel mir dieser Satz von Robert Musil in die Hände: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? [Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt 1987/2011, S.254.]

Ja, was tun, wenn einer wie ich, sich nicht entscheiden kann. Wie reagiert einer, wie ich, auf die Welt, in der er gefangen ist, zwischen dem, was wir als Literatur bezeichnen und dem, was sich Wissenschaft nennt? Eine Möglichkeit wäre, auf die Politik auszuweichen, doch das ist keine dauerhafte Lösung. Ich habe es versucht.

Vielleicht könnte es aber auch Sinn machen, genau das von Robert Musil beschworene Dazwischen aufzuspüren und zu benennen. Robert Musil scheint ja mit seinem Mann ohne Eigenschaften durchaus einen Text hergestellt zu haben, der darauf eine Antwort gibt. Der Mann ohne Eigenschaften ist ein Werk, das wie kein zweites wissenschaftliche Erkenntnisse literarisiert und damit Literatur verwissenschaftlicht. Kunst und Wissenschaft fließen ineinander. Doch das, was dazwischen liegt, ist ja mehr als nur die Symbiose zweier Arbeitsweisen, das, was dazwischen liegt, ist der Kern von Literatur: die Utopie, der Gesellschaftsentwurf, das, was ein Autor über den Menschen und seine von ihm gestalteten Weltverhältnisse sagen möchte. Vielleicht im besten Sinne des Wortes das Politische.

Einen Text herstellen. Wie leicht sich dieser Satz hinschreibt. Und schon wieder habe ich ein Stück Text hergestellt. Aber allein, um diesen Satz zu formulieren, bedarf es zahlreicher Vorüberlegungen. Was meint einer, wie ich, der Texte produziert, wenn er schreibt: einen Text herstellen. Sind damit bloß die aneinandergereihten Zeichen gemeint, die Symbole, wie wir Buchstaben nennen, die eigentlich nur repräsentative Abstraktionen sind, die erst durch ihre Verkettung und den Kontext, der sie umgibt, nämlich unser Wissen, über ihre Bedeutung, Inhalt, Aussagen, Meinungen generieren.

Und schon wieder drei Worte die ich eigentlich erklären müsste, bevor ich weiterschreibe: Aussage, Meinung, Inhalt. Ich bin schon viel zu weit vorgestoßen im Text, ohne seine Voraussetzungen geklärt zu haben, denn ein Text ist zuallererst ein Bild. Ein Satzbild. Ein Schriftbild. Für einen Analphabeten bedeutet ein Text gar nichts. Selbst einer, der des Schreibens in deutscher Sprache mächtig ist, würde spätestens bei den chinesischen Schriftzeichen versagen. Sie würden ihm, dem Alphabeten nichts weiter sein als wunderbare gezeichnete und gepinselte Striche auf Papier. Schon der Begriff des Analphabeten ist problematisch. Der neue Grimm meint: ein des lesens und schreibens unkundiger. [Der neue Grimm, S.740.]

Nun ist einer wie ich, der Lesen und Schreiben in deutscher Sprache beherrscht kein Analphabet, doch kaum habe ich die Grenze zur Schrift überschritten, scheint es mir so, als würde der mit Mühe aus dem Urschlamm seiner Sprache hervorgekrochene Alphabetisierte wieder zum Analphabeten. Es ist oft schwierig, das Alphabet zu begreifen, sich in ihm einzunisten und mehr als nur ein Gestammel aus ihm herauszudestillieren.

[ Schön wie sich hier das Wort beten einschreibt. Wir sind eine Gesellschaft, die das Wort vergöttert. Nichts wird so verehrt und hochgeschätzt wie das Wort. Selbst das dümmste rhethorische Vergehen wird noch als anbetungswürdig verehrt. ]


Nachdem wir aus dem muttersprachlichen Analphabetismus herausgetreten sind, werden wir zu Schreibern. Zuallererst sind wir aber Sprecher, brabbelnde kleine Wesen, die nichts anderes wollen, als ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Kein noch so kleiner Laut ist ihnen zu wenig, um ihn zu nutzen, um ein (Bruch)Stück von sich selbst in die Welt, zur Welt zu bringen. Später werden wir zu Lesern. Wenn wir eintreten in das, was wir Bildung nennen, werden wir zu Schreibern. Kaum jemand schreibt, bevor er liest. Langsam und allmählich eignen wir uns die Buchstaben an. Nicht in der Schule, schon zuvor, wie es Peter Weiss so hervorragend formulierte, als er davon schrieb, wie der Mensch sich die Buchstaben zusammenkratzt, um sich im Namen schließlich selbst zu erkennen: Das Kind, das lernt, daß Wörter sich auch schreiben lassen, daß zu Schrift verwandelte Wörter nicht verfliegen und vergessen werden, sucht sich die ersten kenntlichen Buchstaben zusammen, um damit seinen Namen abzubilden. es kratzt den Namen mangelhaft in Schieferplatten, die es auf einem Hof findet, es malt den Namen mit Kreide an die Häuserwände, und sagt stolz zu diesen Merkmalen: das bin ich. Es hinterläßt Spuren, und was Spuren hinterläsßt, ist vorhanden. [Peter Weiss. Rapporte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S.171.]

Damit will ich es gut sein lassen und mich nach all diesen Überlegungen dem zuwenden, was Spuren hinterlassen hat, der Literatur meiner Epoche, dem Schreiben, dem Denken, dem Suchen nach Orientierung in einer mir immer orientierungsloser erscheinenden Zeit. Mich dem Zufall hingeben. Der Gelegenheit.

eingestellt: 16.6.2017 | zuletzt aktualisiert: 16.6.2017
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