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Texte als Diskursgrundlage
Eine Reflexion



Was in der Popkultur zum Alltag gehört, das Wiederentdecken von Liedern und das Bearbeiten und Interpretieren und Neugestalten, hat sich in der Literatur noch nicht als Arbeitsweise durchgesetzt. Der Text des Autors scheint auf seltsame Weise heilig zu sein, vielleicht ist dies ja auch einem augeprägten Hang zum Urheberrecht geschuldet und dem Glauben an die Einzigartigkeit und der intellektuellen Genialität des dichterischen Individuums.
Mit meinem Freund Armin Anders gemeinsam sind immer wieder Text entstanden, die wir in einem regen Austausch bearbeitet und erarbeitet haben. Eine fruchtbare Sache für meine intellektuelle und literarische Entwicklung. Den Text als Material begreifen, ihn weiterentwickeln, sich ihm nähern und ihm neue Formen und Inhalte, manchmal auch eine neue Gestalt entlocken.
In einer Arbeit am Textmaterial und den Erläuterungen, die sich daraus ergeben, entsteht das, was mich an Literatur im Grunde als einziges immer interessiert hat, ein Dialog mit Menschen und der Welt.


Im folgenden ein Beispiel, wie ein Text sich weiterentwickeln kann, wenn andere an ihm arbeiten, wenn andere ihn interpretieren. Mein urspünglicher Text hatte folgende Gestalt und Form:


Ein früher Morgen. Sachtes Schilf unter freiem Himmel. Stille über dem See und das Licht federleicht wie ein einsames Wollen nahe am Vergehen. Im Kiesbett reiben sich die Steinchen aneinander wund und ihr Schmerz zerknirscht den Tag. Ein Maitag mit bunten Girlanden und hellen Zöpfen tanzt am Marktplatz. Ein Lachen tost durch die Kirchenglocken und eine Heiterkeit verbreitet sich auf allen Feldern. Ein Versprechen. Eine Vorahnung. Wellen räuspern sich, rufen die Unschuldigen an die Ufer. Waldlichtungen träumen von ersten Sommertagen und süßen Früchten an ihren kühlen Rändern. Der erste Tag eines letzten Sommers ist angebrochen. Ein guter. Ein williger. Ein herbeigesehnter. In seinen Ritzen keimt verstreute Lebenslust. Im felsigen Urgrund seiner Sehnsucht wächst ein grüner Pelz, wuchert, gedeiht, sucht Halt. Modrige Planken strecken sich der Sonne entgegen, wollen getrocknet sein, machen sich bereit für die Hungrigen, die Entseelten. Doch noch ist der Sommer frisch. Ohne Scham. Ohne Sünde. Ohne Schande. Er vergeht sich rasch an den unvorhersehbaren Möglichkeiten und kaum sind seine ersten losen Stunden ausgelebt, trifft der Abend aus den Bergen ein. Wirft sich über den Tag. Hüllt ihn ein. Nimmt ihn mit. Bettet ihn in seine dunklen Arme. Spaziert mit ihm auf dämmrigen Pfaden in die Nacht. Wiegt ihn heim. Schwelgt in Erinnerungen. Wintertau tropft aus den Wipfeln und benetzt seine Seligkeit. Leises Raunen singt einen traumhaften Schlaf herbei.


In weiterer Folge erreichte mich am 13.7.2020 folgendes Email von Armin Anders:


Lieber Raimund,
nachdem deinen BLOG gelesen habe, bin ich lange an einem TEXT geblieben .... wohl vor allem, weil ich darin (sozusagen) eine eigen(sinnig)e "LYRIK" entdeckte ...
Anbei nun mein (kaum von deiner Fassung abweichender!) Text-Vorschlag für (d)ein GEDICHT (Sechs Strophen in Sechs-Zeilern), das es wert ist zu deinem OUEVRE zu gehören und ebenso veröffentlicht zu werden ..... denn darin ist etwas unbedingt "Gelungenes" (ohne das ich es genau benennen könnte!) ... DOC anbei!
In Freundschaft
Armin


Der Text der sich im Anhang des Mails befand, lautet wie folgt:


TRAUMHAFTER SCHLAF

Sachtes Schilf unter freiem Himmel
Stille über dem See und das Licht
federleicht wie ein einsames Wollen
nahe am Vergehen. Im Kiesbett reiben
sich die Steinchen aneinander wund und
ihr aller Schmerz zerknirscht den Tag.

Ein Maitag mit buntesten Girlanden und
hellsten Zöpfen tanzt am Marktplatz. Ein Lachen
tost durch die Kirchenglocken und eine Heiterkeit
verbreitet sich auf allen Feldern. (Ein Versprechen.
Eine Vorahnung.
) Wellen rufen räuspernd
alle die Unschuldigen an die Ufer.

Waldlichtungen träumen von ersten Sommertagen
(und süßen Früchten an ihren kühlen Rändern.)
Der erste Tag eines letzten Sommers ist
angebrochen. (Ein guter. Ein williger.
Ein herbeigesehnter
.) In seinen Ritzen
keimt verstreute Lebenslust.

Im felsigen Urgrund seiner Sehnsucht
wächst ein grüner Pelz (wuchert, gedeiht, sucht Halt).
Modrige Planken strecken sich der Sonne entgegen
wollen allseits getrocknet sein, machen sich bereit
für die Hungrigen, die Entseelten. Doch noch ist
der Sommer frisch. (Ohne Scham. Ohne Sünde.

Und ohne Schande
.) Er vergeht sich rasch
an den unvorhersehbaren Möglichkeiten und
kaum sind seine ersten losen Stunden ausgelebt
trifft der Abend aus den Bergen ein. Wirft sich
über den Tag. (Hüllt ihn ein. Nimmt ihn mit.)
Bettet ihn in seine dunklen Arme

Spaziert mit ihm auf dämmrigen Pfaden
hinein in die Nacht. (Wiegt ihn heim.
Schwelgt in Erinnerungen
.) Wintertau
tropfet aus den Wipfeln und benetzet
Seligkeit und leises Raunen singet
traumhaften Schlaf herbei.


Mein spontane und rasche Antwort vom 13.7.2020 auf Armin Anders Mail versuchte zu erklären, worin das Gelungene und eigensinnig Lyrische des Textes bestand.


lieber armin…
ich habe schon lange gedacht dass der text umgearbeitet werden müsste zu einem gedicht… denn diese kurzen texte tragen poesie in sich… was du ansprichst... sie tragen eine lyrik in sich… ich wollte mich jedoch nie daran heranwagen weil sie eben als prosa entstanden sind… nun bin ich froh dass du das für mich erledigt hast…
ich werde es in mein werk mit aufnehmen und werde deine urheberschaft nicht verschweigen… in letzter zeit existiere ich episch auch wenn manches davon lyrisch ist in all seiner epik… das was an diesem text gelungen ist… das treibt mich schon lange um… es ist die vision eines lebens das in aller ruhe seiner wege geht… die natur die dieses leben begleitet… hinüber geleitet… letztlich… in seiner ruhe ein ausweg… am ende…
ich denke der text trägt etwas gelungenes in sich weil er eben der ausdruck meiner sprache ist die sich nun im alter bahn bricht… wie von selbst… ohne mein zutun gelingen plötzlich sprache und inhalt in einer form die mich immer wieder überrascht… wobei die äußere gestalt… lyrik oder epik… nicht mehr von bedeutung zu sein scheint… es gelingt weil himmel und erde… innen und außen… im einklang mit sich selbst sind… weil die aufgeregtheit der welt aus mir gewichen ist… wie ein böser alptraum… nicht dass die welt mich nicht mehr trifft... mich nicht mehr beschäftigt… sie ist lebendiger als je zuvor… aber vielleicht nehme ich mich selbst nicht mehr so wichtig wie früher…
eines jedoch ist ganz gewiss: ich habe endlich meine sprache gefunden… das merke ich deutlich bei meinen journaleinträgen… natürlich kann man an details immer feilen… aber am ende zählt dass ich sagen kann was ich will und auch verstanden werde…
in freundschaft
raimund


Und dann bearbeitete ich das Gedicht von Neuem und gab ihm jene Gestalt und Form, die Gedichte bei mir seit ein paar Jahren haben, ohne Punkt und Komma. So entstand schließlich jene Version die im Band Poeterey eines Unbrauchbaren erscheinen wird.


sachtes schilf unter freiem himmel
stille über dem see und das licht
federleicht wie ein einsames wollen
nahe am vergehen im kiesbett reiben
sich die steinchen aneinander wund und
ihr aller schmerz zerknirscht den tag

ein maitag mit buntesten girlanden und
hellsten zöpfen tanzt am marktplatz ein lachen
tost durch die kirchenglocken und eine heiterkeit
verbreitet sich auf allen feldern ein versprechen
eine vorahnung
wellen rufen räuspernd
alle unschuldigen an die ufer

waldlichtungen träumen von ersten sommertagen
und süßen früchten an ihren kühlen rändern
der erste tag eines letzten sommers ist
angebrochen ein guter ein williger
ein herbeigesehnter
in seinen ritzen
keimt verstreute lebenslust

im felsigen urgrund seiner sehnsucht
wächst ein grüner pelz wuchert gedeiht sucht halt
modrige planken strecken sich der sonne entgegen
wollen allseits getrocknet sein machen sich bereit
für die hungrigen die entseelten doch noch ist
der sommer frisch ohne scham ohne sünde

und ohne schand
er vergeht sich rasch
an den unvorhersehbaren möglichkeiten und
kaum sind seine ersten losen stunden ausgelebt
trifft der abend aus den bergen ein wirft sich
über den tag hüllt ihn ein nimmt ihn mit
bettet ihn in seine dunklen arme

spaziert mit ihm auf dämmrigen pfaden
hinein in die nacht wiegt ihn heim
schwelgt in erinnerungen
wintertau
tropfet aus den wipfeln und benetzet
seligkeit und leises raunen singet
traumhaften schlaf herbei


Und dann arbeitete es in mir und ich versuchte über das Geschriebene nachzudenken und es folgte ein Journaleintrag, der reflektierte, warum ich seit Jahren auf Orthographie verzichte. In meiner Lyrik ebenso wie in meinen privaten Korrespondenzen.


Ich [verzichte] in meiner Lyrik auf Punkt und Komma, auf die Groß- und Kleinschreibung. Erstens: Ich habe keine Begabung für die Orthographie. Zweitens: Orthographie ist eine Zumutung für meinen poetischen Rhythmus. Drittens: Jeder/jede soll beim Lesen die Möglichkeit haben seinen/ihren Rhythmus für ein Gedicht zu finden. Kein äußeres Korsett soll ihn/sie hindern, zum Inhalt vorzudringen, der sich aus der Abfolge der Hebungen und Senkungen ergibt. Die Aussetzung der Orthographie setzt den äußeren Takt der Welt außer Kraft. Nur so kann sich enthüllen, was sich von mir in der Welt spiegelt.


Doch auch damit war noch kein Schlusspunkt gesetzt. Der letzte Akkord fehlte noch, vielleicht auch als Fortsetzung des Diskurses mit mir selbst. Die Gestalt für das Gedicht zu finden, das meinem Rhythmus entspricht. Also setzte ich mich hin und suchte die Versform, die sich aus dem Gleichklang meiner Sprache formen würde, wenn ich die Absatzmarken setzen könnte, wie ich wollte.


ein früher morgen
sachtes schilf
freier himmel
stilles licht
der see federleicht
wie ein einsames wollen
nahe am vergehen
im kiesbett der ufer
reiben sich die steinchen
aneinander wund und ihr schmerz
zerknirscht den tag

ein maitag mit bunten girlanden
und hellen zöpfen tanzt am marktplatz
ein lachen tost durch die kirchenglocken
und eine heiterkeit
verbreitet sich auf allen feldern

ein versprechen
eine vorahnung.


wellen räuspern sich
rufen unschuldige an die ufer
waldlichtungen träumen von ersten sommertagen
und süßen früchten
an ihren kühlen rändern

der erste tag
eines letzten sommers
bricht an

ein guter
ein williger
ein herbeigesehnter


in seinen ritzen
keimt verstreute lebenslust
im felsigen urgrund seiner sehnsucht
wuchert ein grüner pelz

gedeiht
sucht halt


modrige planken
strecken sich der sonne entgegen
wollen getrocknet sein
machen sich bereit
für die hungrigen
die entseelten

noch ist der sommer frisch

ohne scham
ohne sünde
ohne schande


er vergeht sich rasch
an den unvorhersehbaren möglichkeiten
und kaum sind seine ersten losen stunden ausgelebt
trifft der abend aus den bergen ein
wirft sich über den tag

hüllt ihn ein
nimmt ihn mit


bettet ihn in seine dunklen arme
spaziert mit ihm
auf dämmrigen pfaden in die nacht

wiegt ihn heim
schwelgt in erinnerungen


wintertau tropft
aus den wipfeln und benetzt
seine seligkeit
leises raunen singt
einen traumhaften schlaf
herbei


Warum meine Lyrik so einfach ist in ihrem Inhalt, liegt wohl darin begründet, dass sie in ihrer Form den Satzgliedern folgt, die Syntax gibt den Rhythmus vor. Darin spieglet sich die unausrottbare soziale Herkunft meiner Sprache, die nichts mehr sehnt als die Unsicherheit der Welt auf sicheren Boden zu bringen und in ihrer Einfachheit die Erscheinungen der Welt zu enthüllen. Klar, literarischer ist die Form von Armin Anders. Dafür habe ich ihn immer bewundert, für dieses brechtsche Auge, denn diesen Blick für die Ästhetik eines lyrischen Textes vermisse ich schmerzlich in mir, da ich immer der Syntax der Sprache mehr verpflichtet war als ihrer Poesie.

eingestellt am: 13.7.2020 | zuletzt aktualisiert am: 13.7.2020
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