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Niemals Vergessen ...!
Raimund Bahr fragt | Erika Danneberg antwortet | 30.4.2002 | Hattinger Berg (bei Innsbruck)


Raimund Bahr
Vielleicht beginnen wir mit Innsbruck. Erzähl mir ein wenig, was Innsbruck, der Berg für dich bedeutet?

Erika Danneberg
Jetzt, seit ich endgültig alt geworden bin, ist der Berg die Möglichkeit, mich in der Landschaft zu bewegen. Das Haus liegt in einem Dorf von zwanzig Häusern, die verstreut entlang einer Straße stehen, die sich eben entlang der Bergflanke hinzieht, bis sie ziemlich steil hinunter geht ins Tal, mit dem Auto befahrbar. Dieses Stück ebene Straße, durch die Wiesen, durch die Felder, mit ein paar Kühen auf der Weide, das ist etwas, das ich noch gehen kann. Und es ist halt ein großer Unterschied, ob du irgendwo mit dem Auto durchfährst oder ob du gehst und weißt, bis zu dem und dem Bankerl geht sichs noch aus. Dort kann ich mich dann hinsetzen, eine Zigarette rauchen und hinüber auf die andere Seite vom Inn schauen. Das ist die eine Seite. Und die andere ist, daß ich in diesem Haus ein Zimmer hab, in dem ein paar Bücher von mir herumstehn, ein spanisches Wörterbuch, Schreibpapier herumliegt und ein Schreibtisch und eine Schreibmaschine stehn. Es ist also nicht nur ein Platz, wo ich gehen kann, sondern auch ein Platz, wo ich diese angenehme Mischung hab: allein sein können und mit Menschen sein können, die ich mag, und wo ich gut arbeiten kann.

Weil du die Natur angesprochen hast. Welches Verhältnis hast du zur Natur, über dein Leben gesehen. Hat sich das verändert?
Freilich hat es sich verändert. Zwei Perioden fallen mir ein, wo Natur wahnsinnig wichtig war. Kindheit lassen wir einmal weg. Kindheit war ein Dorf in Niederrösterreich, das Dorf der Sommerferien, wo ich jedes Haus gekannt habe und die Leute und die Dachböden, auf denen man sich verstecken konnte. Aber das ist noch nicht die Frage von Natur.

Wie hat das Dorf geheißen?
Tulbing. Sehr wichtig war sie im Krieg, wo Natur erreichbar war für mich, per Fahrrad – damals. Donau abwärts. Da war Hainburg, da war ein bißchen Burgenland und die Donau und die Donau und die Donau.

Wasser sozusagen.
Ja, ich bin gern geschwommen. Im Meer habe ich aber nicht mehr gebadet. In Nicaragua dann, wo der Herbert Brunner gerufen hat: „I wü zum pacifico! I wü zum pacifico!” Also der pacifico und auf der anderen Seite der atlantico waren mir um einige Schuhnummern zu groß. In den Kriegszeiten und mit Fahrrad war das ein Stück Freiheit, ein Stück Entkommen, Sonne, Wasser, in dem ich schwimmen kann. Das war es im Krieg.
Und ein zweites Stück Natur, das sehr wichtig geworden ist, war südliches Niederrösterreich, kleiner Semmering, ein Dorf namens Nöstach, das die Kinderheimat meines damaligen, langjährigen Gefährten war. Das Dorf war verbunden mit seiner Geschichte. Das Dorf war über Jahre hinweg an vielen Wochenenden in nahezu jeder Jahreszeit ein sehr wichtiger Bestandteil unserer Beziehung und meines Ihn-Verstehens. Das kenn ich im Schnee und das kenn ich in der Sonne. Eigentlich sind meine Landschaften immer verbunden mit Menschen, die damit zu tun haben.

Und wie war dann deine Naturerfahrung in Nicaragua, weil das ja ganz andere Form von Natur ist?
Du, das ist eine ganz andere Form von Natur, aber die Naturerfahrung dort, die war enorm. Sie wirkte sehr bedrohlich. Ich erinnere mich an eine Geschichte, wo ich mich im Bananendschungel verirrt habe, das war in Palma Africana, da haben die Nicas begonnen eine Pflanzung anzulegen. Sie wollten eine Plantage für afrikanische Palmen auf die Beine stellen, um die Ölknappheit beim Speiseöl unter der Blockade damals auszugleichen. Wir waren die zweite österreichische Brigade auf diesem Bauplatz in Palma Africana. Wir waren in Zeltbaracken untergebracht. In einer wir, in der anderen die nicaraguanischen Bauarbeiter. An unserer Unterkunft entlang lief ein Graben, manchmal Wasser drinnen, manchmal keines, über den konnten wir rüber, und dann hat es sich geöffnet zum eigentlichen Bauplatz, auf dem wir gearbeitet haben. Ich war ja damals auch keine Jugendliche mehr, ich war schon über sechzig und hab sehr gschwind bemerkt, daß ich drei Arbeitsperioden am Tag nicht durchhalte. Das wurde auch respektiert, auch daß ich mich dazwischen immer wieder ausstrecken und schonen mußte. Ich bin über den Graben drüber auf die andere Seite, ein Stück weit in den Wald hinein. Der Wald hat sich sehr schnell verwandelt, in einen mir überhaupt nicht mehr überschaubaren Bananendschungel. Plötzlich habe ich nicht mehr gewußt, wie ich zurückkommen soll. Es war dann gar nicht schwierig, denn ich war ja nur eine viertel Stunde unterwegs gewesen. Dennoch: Das war unglaublich bedrohlich, vor allem nirgendwo raussehen zu können. Rundherum war es grün. Gefallene Baumstämme, Lianen und kein Weg mehr. Ich glaube, ich habe mich nie mehr wieder in Nicaragua so bedroht gefühlt wie beim ersten Mal im Dschungel. Das Gegenbild dazu ist eine unglaubliche Vertrautheit auf einer Fahrt von Managua an die Costa, zum Atlantik hinaus. Wir haben dort Leute besucht. Wird sind zwischen den Bäumen durch und plötzlich öffnete sich die Landschaft mit einem großen Horizont. Ich sage zu dem compañero neben mir: „Schau, da schaut’s aus wie auf der Fahrt zum Kleinen Semmering“. In diesem Wechsel von Bedrohlichkeit und Vertrautheit von Fremdem, mit einer ungeheuren Liebe zu dem, was sich da öffnet, ist das Verhältnis zu sehen.

Dann stell ich dir jetzt die Frage, mit der ich ursprünglich anfangen wollte. Wie bist du eigentlich zum Schreiben gekommen? Wann hast du den ersten Impuls verspürt?
Das war ganz früh, in der Mittelschule schon. Schaurige Gedichte an eine geliebte Lehrerin und dann den Krieg begleitend. Meine ersten Gedichte sind aus dem Krieg. Gegen Ende des Krieges, mit Beginn des sogenannten Friedens, habe ich mich als Schriftstellerin verstanden. Das geht lebensgeschichtlich durch die Generationen. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine Schriftstellerin. Sie hat zu mir gesagt, wenn ich ihr was von meinen Sachen vorgelesen habe: „Ja, das ist gut, mein Kind, aus dir kann was werden.“ Aus mir hätte auch was werden können, aber ich habe ja immer Geld verdienen müssen. Das, was sie geschrieben hat, waren gut recherchierte Kitschromane. Da gab es einen Verlag in Deutschland: Freyer hat der geheißen, der eine Serie herausgegeben hat: „Frauen der Liebe“. Die Frauen der Liebe waren Broschürenromane, auf dem Cover jeweils ein Bild von der Frau, um die es ging. Meine Großmutter hat auch gut recherchierte historische Romane geschrieben., die dann „Die große Liebe der Sybille“ hießen, ein Roman aus den großen Türkenkriegen. Damit hat sie weitgehend die Familie, drei Kinder und ihren frühpensionierten Mann, meinen geliebten Großvater, durchgebracht.

Wie haben die geheißen?
Hottner.

Und die Großmutter hat wie geheißen?
Die Großmutter hat ihren Mädchennamen als Schriftstellernamen verwendet: Anna Grefe.

Gib es da noch irgendwelche Sachen? Habt ihr was aufgehoben? Ist das verschwunden?
Die sind in den Kriegsverläufen verschwunden. Aber ich seh sie noch sehr deutlich vor mir.

Die sind immer in diesem Verlag erschienen, oder auch woanders?
Das ist in diesem Freyerverlag erschienen. Also die Großmutter hat geschrieben und mir prophezeit, daß aus mir was werden könnte, und ich habe geschrieben den ganzen Krieg über. Und ich habe mich, als der Krieg aus war, durchaus als junge Schriftstellerin verstanden. Ich bin damit auch hineingekommen in diesen ganzen, mir damals noch kaum durchschaubaren Literaturzirkus mit den Rivalitäten Weigel-Hakel und all dem Mist.

Wenn das Schreiben eine Kontinuität hatte in deinem Leben, so wie du das darstellst, was bedeutet dann Schreiben für dich? Was verbindest du damit?
Eigentlich immer so etwas wie dokumentieren. Es soll nichts verloren sein, was auch immer dieses Es dann sein mag. Das ist nicht nur Ich. Es hat was mit dem Spruch nach dem Krieg zu tun, das war auch meiner: „Niemals vergessen!“ Das waren wichtige Sachen, auch wenn ich es damals noch nicht ganz verstanden habe. Es war dann auch ein guter Weg Psychoanalytikerin zu werden: ausgraben.

Aber wenn man sich deine Bücher durchliest oder deine Gedichte, abgesehen von ein paar wenigen Gedichten, dein Ich, was immer man darunter verstehen mag, kommt dabei nur selten vor. Es ist alles autobiographisch, was du schreibst, aber es ist nicht in dieser klassischen literarischen Tradition. Es hat schon dieses Dokumentieren. Aber wieso kommst du da drinnen eigentlich nicht vor? Das ist auch der Grund, warum ich jetzt diese Interviews mit dir mache, weil ich dich in deiner Literatur nicht wirklich finde. In „Wie leistet man Widerstand“ kommt zwar viel von dir vor, aber du bist trotzdem nicht greifbar als Person. Du dokumentierst eher die anderen, habe ich den Eindruck. Ist das ein falscher Eindruck, den ich gewonnen habe?
Ich bin ganz zufrieden damit, daß du den Eindruck hast. So wichtig bin ich nicht. Aber da ist etwas, was ich weiß, was ich erlebt hab, wo ich was sagen kann dazu. Und das soll nicht untergehen.

Also in deinen Augen sind die anderen wichtiger als du selbst?
Nicht die anderen wichtiger als ich. Das, was geschieht, wo wir mitwirken, wie wir uns verhalten, das ist wichtig.

Würdest du dann sagen, daß das Schreiben eher mit deiner analytischen als mit deiner politischen Seite zu tun hat?
Das ist eine schwierige Geschichte. Fakt ist, daß ich mit der Analyse und meiner späteren Ausbildung zur Analytikerin lange Zeit gemeint habe, ich hätte zu schreiben aufgehört. Schreiben sei eine Jugendgeschichte gewesen. Junge Schriftstellerin - das hätte ich zehn Jahre mit dem Hermann Hakel gelebt, das hätte gereicht, und jetzt war ich eben eine Analytikerin. Daß ich nie wirklich aufgehört habe zu schreiben, habe ich erst sehr spät entdeckt. Es gibt Massen und Massen von Texten. Das waren damals keine Gedichte oder Geschichten, sondern Träume, die ich aufgeschrieben habe. Viele, viele Träume. Notizen hat es dann geheißen.

Das heißt, du hast dich bis zu deinem ersten Buch nach dem Krieg mit Notizen und Träume schreibend fortbewegt. Also für dich ist schreiben das Dokumentieren von Erlebnissen, damit sie nicht verloren gehen.
Ja, so kann man das sagen.

Deswegen ist publizieren für dich auch wichtig?
Ja.

Weil, es gibt ja auch Leute, die sagen, okay ich will es nur aufschreiben, aber ich muß es nicht publizieren.
Es soll dasein.

Und wenn man dich heute fragen würde, was hast du für einen Beruf ausgeübt?
Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, oder umgekehrt.

Aber die beiden sind deine Berufsidentitäten. Dann würde ich gern mit einer privateren Frage, auch wenn die vorhergehenden schon privat waren, weitermachen. Was bedeuten Männer für dich? Dein Verhältnis zu Männern. Denn die kommen zwar auch in „Wie leistet man Widerstand“ vor, aber das ist alles ebenso dokumentierend. Was haben Männer in deinem Leben für eine Bedeutung? Vielleicht kann man das nach Familienmännern der Herkunftsfamilie und die Beziehungsmännern trennen.
Die waren wahnsinnig wichtig von Anfang an. Wichtigste Person war mein Großvater. Der pensionierte von der Schriftstellergroßmutter, ihr Ehemann. Der mir Geschichten erzählt, Geschichten vorgelesen hat, wie ich dann schon größer war. Der die gesamte Ramperstorffergasse, wo wir gewohnt haben, mit sämtlichen Märchen belegt hat, die haben sich alle dort abgespielt. Der Vater war eher eine unglückliche Liebe. Er war so wenig anwesend, hat aber sehr Einfluß genommen auf mein Leben, obwohl er so wenig anwesend war. Einfluß genommen insofern, als daß er durchgesetzt hat, daß ich als ein im Jänner geborenes Kind ein Jahr früher in die Schule kommen konnte, also nach dem Kalender und nicht nach dem wirklichen Alter. Da sie mich ursprünglich nicht genommen haben, hat er mich ein Jahr lang zu Hause im Lesen und Schreiben unterrichtet, und ich bin dann mit einer Aufnahmeprüfung in die zweite Klasse Volksschule eingestiegen. Er hat gemeint, er rettet mir damit ein Jahr und hat überhaupt nicht gemerkt, was das für ein Streß für mich bedeutet hat, ich war immer die Kleinste, die Jüngste und die Magerste in der Klasse, das hat sich bis in die achte Klasse, bis zur Matura durchgezogen.

Aber so abwesend kann er dann nicht gewesen sein?
Nein, da war er sehr präsent, im Wissenvermitteln, sehr geduldig, sehr konsequent.

Was war dein Vater von Beruf?
Journalist. Wirtschaftsjournalist.

Und die Liebhaber?
Die Liebhaber. Der Liebhaber, lieb gehabte. Heute würde das wahrscheinlich unter Mißbrauch laufen. Der jüngere Bruder meiner Mutter, der ein Buchhändler war, ein wenig vergammelt, mit wenig Erfolg bei erwachsenen Frauen, der die Verliebtheit der jungen Nichte ganz gerne angenommen hat. Ich würde heute nicht sagen, daß es Mißbrauch war. Das war ein Ausprobieren, ein Herumgespiele mit viel Angst. Damals war ich fünfzehn oder sechzehn. Er hatte einen Freund, etwas älter als er, auch ein vergammeltes Genie, mein privater Englischlehrer. In der Schule hab ich Französisch gehabt und Englisch hab ich beim Robert gelernt. Im Sommer 1938 hat sich eine recht intensive Liebesgeschichte daraus entwickelt. Er war zwanzig Jahre älter als ich. Eine Liebesgeschichte, über die wir später sehr gelacht haben. Über die Spiele, die wir Jahre zuvor auf Englisch gespielt haben. Ich habe auf der Stehleiter im kleinen Vorzimmer unserer winzigen Zimmer-Küche-Kabinettwohnung eine Verfolgungsgeschichte inszeniert, und Robert mußte mich retten. Aber das war eben nicht Robert, sondern der Mayor Hayworth aus einem Groschenroman. Hayworth rettet die Blume der Prärie, war unser Spruch. Und etliche Jahre später, nachdem sich das zu einer Liebesgeschichte entwickelt hatte, haben wir darüber sehr gelacht. Aber auch das war noch nichts Wirkliches. Er hat sich gefürchtet, und ich war sehr neugierig. Das hat sich hingezogen und hat dann nach meiner Rückkehr aus dem Arbeitsdienst aufgehört. Es gibt noch in den Arbeitsdienst lange, lange Liebesbriefe von ihm, die er in Schulhefte geschrieben hat. Ich wurde immer gefragt, ob ich Rollenbücher geschickt bekomme. Die gibt es noch. Und gleichzeitig, aber mit dieser Robertgeschichte und den langen Briefen in den Arbeitsdienst, gab es da eine Frauengeschichte, eine Schulkollegin, von der ich so die ersten Grundzüge meiner politischen Antinazibildung bezogen habe. Die Antinazibildung war vorbereitet nicht von der Linken her, sondern von den Resten des fin de siecle und décadace, die ich noch von dem Freundespaar Robert-Kurt mitbekommen habe. Ich habe Oscar Wilde gelesen. Und so bin ich als ein sehr dekadentes junges Mädchen in den Arbeitsdienst gegangen, habe dann gesehen, was da passiert, und jetzt kommen der Krieg und die Briefe von der Irmingard, der Schulfreundin, und die Gespräche mit ihr. Und ich zurück als junge Linke, die nicht genau wußte, was das eigentlich ist, aber dem armen Robert gesagt hat, daß er mir als bürgerlicher Intellektueller nicht folgen wird können.

Würdest du sagen, daß deine Beziehungen zu den Männern gelungene Beziehungen waren, trotz der Geschichten, die in deiner Autobiographie vorkommen? Die vermitteln den Eindruck, daß du positive, gelungene Beziehungen zu deinen Männern gehabt hast.
Ja, eigentlich schon. Ich meine, sie haben nicht ewig gehalten, aber fad war es auch nie. Es ist eigentlich keiner, von dem ich heute sagen tät, den hätte ich mir sparen können. Ich meine, Hermann Hakel hätte nicht zehn Jahre dauern müssen, aber das war nicht anders möglich. Heute sage ich, es war eindeutig eine Wiedergutmachungsehe.

Wiedergutmachung wofür?
Für das, was wir Nichtjuden den Juden angetan haben, an ihnen geschehen haben lassen, nicht verhindert haben. Und da haben all die Geschichten aus dem Krieg, mit Leute verstecken, nichts genutzt, gegen dieses tiefe Gefühl mitschuldig zu sein.

eingestellt am: 6.1.2019 | zuletzt aktualisiert: 6.1.2019
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