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Hochgatterers wilde Wasser


Die größte Schwäche des Buches ist der Einstieg. Für mich beginnt das Buch überhaupt erst auf Seite siebzehn mit den Worten: "In der Garage war es kühl. Wahrscheinlich war es der einzige Ort in Mitteleuropa, an dem es an diesem Tag kühl war." (S.17) Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, was Hochgatterer mit den ersten zehn Seiten bewirken will, vielleicht das soziale Umfeld zeigen, in dem der Junge sich befindet, der da aufbricht, um seinen Vater zu suchen. Die Mutter, nach dem Tod des Vaters, charakterisieren, die Schwester und das Außenseitertum des Jungen. Überhaupt begriff ich erst nach einiger Zeit, dass ich es hier mit einem Jugendlichen zu tun hatte. Zu anfangs dachte ich ein Erwachsener berichtet über ein Formeleins-Wochenende im Beisein seiner Mutter. Der Vater in Pension, aus dem Leben geschieden.

Ich war wieder versucht ein Buch der Babyboomer vorzeitig aufzugeben. Die Banalität des Alltags eines Sonntagnachmittages langweilte mich. Es steckt voller Klischees und voller Details über zeithistorische Bezüge, da betreibt einer "Namedropping", um ein möglichst reales Bild von der Welt zu zeichnen, in der die Geschichte spielt. Da gibt es Damon Hill, übrigens auch ein Babyboomer, der sich mit Schumacher ein Duell liefert, den Hochgatterer als arroganten Deutschen zeichnet. Die Mutter trinkt Campari-Soda und schon wissen wir, dass wir uns in den neunziger Jahren befinden. Ein Blick in die Erscheinungsdaten des Buches bestätigt diesen Eindruck. Der Roman wurde 1997 verlegt.

Was auch relativ schnell klar wird, der Autor versteht etwas von Naturwissenschaften, denn wie schon in Robert Musils Roman ohne Eigenschaften versucht auch Hochgatterer einen Romaneinstieg über die Wettersituation. "Draußen hat es fünfunddreißig Grad im Schatten und Luftfeuchtigkeit Null. […] In der fernsten Einsamkeit des Atlantiks drehte sich angeblich ein mittleres Sturmtief. Seine äußersten Wolkenableger erreichten Neufundland und die Färöer Inseln." (S.7)

In gewisser Weise begibt sich jeder Autor, wenn er einen Text schreibt und ihn publiziert, auf eine Bühne, liefert sich der Literaturgeschichte aus und muss sich gefallen lassen, dass der Leser seine Lesegewohnheiten und Leseerfahrungen in die Lektüre einbringt. Der mündige Leser kann gar nicht anders, als alles mitzulesen, was er an deutschsprachiger Literatur in sich aufgenommen hat und meine Assoziation war Der Mann ohne Eigenschaften: "Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen." (S.9) Musil will uns nichts sagen, über den Protagonisten, sondern nur schreiben, wie es ist, 1913. Er gibt uns auch gleich ein paar wichtige Dinge mit, wie zum Beispiel die "Überschätzung der Frage, wo man sich befinde", diese "stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken musste." (Musil 9) Da wimmelt es von Informationen, die scheinbar keinem Zweck dienen, außer dem Erzählen selbst.

Bei Hochgatterer hingegen wurde ich das Gefühl nicht los, dass der Beginn nur einem Zweck dient, nämlich uns in die Zeit der Neunziger Jahre zu führen. Die Fülle an Informationen gleich zu Beginn sagt aber nicht viel über die sozialen Umstände aus, in denen der Protagonist "Jakob" lebt. Wir wissen aus der Gargenszene, dass es Sommer ist und dass wir uns in Mitteleuropa befinden. Mehr müssen wir für den Anfang der Geschichte nicht wissen. Lieber wäre mir gewesen, er hätte es bei dieser Ungewissheit belassen und hätte einfach die Jahreszahl hingeschrieben: 1995. Durch den detailgenauen Einstieg, die genaue Beschreibung der Wohnung, der Lebensumstände, der Festlegung von Ort und Zeit, nimmt der Autor dem Roman schon zu Beginn die Möglichkeit auf eine geographische und chronologische Überzeitlichkeit zu verweisen. Etwas, das der Roman für den Leser durchaus eröffnet hätte.

Bei Musil war die Einbindung wissenschaftlicher Erkenntnisse ein vollkommen neuer Ansatz in der Textproduktion. Das Wissenschaft und Literatur sich begegnen konnten, war aber nicht nur eine Erzähltechnik, sondern auch eine intellektuelle Haltung, die Wissenschaft diente sozusagen nicht nur als bloßer Erfüllungsgehilfe des Erzählvorhabens, sondern war ein selbstständiger Teil der Erzählung, ein eigener Handlungsstrang. Hochgatterer jedoch nutzt wissenschaftliche Erkenntnisse lediglich, um seine Geschichte plausibler zu machen, denn im Verlauf des Buches erklärt uns der ausgebildete Mediziner sehr genau wie Strömungen von Wasser funktionieren, welche medizinische Versorgungsmaßnahmen zu treffen sind, wenn einer bei einer Kanufahrt verunfallt. In der Geschwindigkeit, mit der die Geschichte erzählt wird, bilden diese Details auch den Rahmen, der die Geschichte zusammenhält, so dass sie nie droht, aus dem Ruder zu laufen.

Die Geschwindigkeit, mit der dieses Buch erzählt wird, das mich sehr an ein Buch von Wolfgang Herrndorf (ebenfalls ein Babyboomer – *1965) erinnert, tschick, der in einem atemberaubenden "roadbook", das wiederum auf "On the Road" von Jack Kerouac (1922-1969) verweist, die Geschichte des Maik Klingenberg erzählt, der durch die Begegnung mit dem intelligenten, völlig durchgeknallten Tschick sich endlich in seinem Leben einfindet. Auch Jakob begibt sich auf eine solche Initiations-Reise zu sich selbst. In einem fulminanten Erzählstil, der einem zwischendurch den Atem raubt. Schon bei Stefan Slupetzkys Roman Lemmings Zorn ist mir die selbe Freude am Erzählen begegnet wie bei Paulus Hochgatterers Wildwasser und die mir so völlig abgeht, weil ich ihr zutiefst misstraue, weil so manche Geschichte nur erzählt wird, weil der Autor ins Erzählen verliebt ist, ins Fabulieren, dann wird Bild an Bild gereiht, um eine Geschichte voranzutreiben, die unter anderen Umständen gar nicht entstehen und damit auch nicht am Markt erscheinen und keinen Leser finden würde.

Wieder eines der Bücher, das ich gerne gelesen habe. Dennoch blieb ich am Schluss etwas ratlos zurück, denn es gipfelt für mich in dem Satz: "Manche springen da hinunter, hat er gesagt, und sind tot, und manche springen nicht hinunter und sind auch tot." (S.126) Will mir der Autor damit sagen, dass Jakob sich vor dem lebendigen Totsein hüten soll? Ist damit die Suche nach dem Vater geglückt, wie der Buchrücken das in Aussicht stellt. Ist die Suche nach sich selbst geglückt? Hat Jakob sich überhaupt selbst gesucht? Ging es darum irgendetwas zu finden? Was ist die Motivation der Figuren? Was bringt Jakob an diesen Endpunkt, wo er sich entscheidet das Paddel des Vaters zu behalten?

Ich denke, es geht einfach um diesen Aufbruch, an diesem Sonntag als das Formel-1-Rennen zu Ende gegangen ist und seine Mutter und seine Schwester sich über die Menstruation unterhielten. Ich weiß nach der Lektüre nicht, ob die Reise schon lange geplant war, ob er sich spontan dazu entscheidet, was der Zweck der Reise ist, das Ziel. Bei Hernndorfs tschick ist das alles auch nicht klar, denn Maik gerät mehr oder weniger ungewollt in den atemberaubenden "roadtrip", aber bei ihm gipfelt das Buch in den Sätzen: "Das Wasser war lauwarm. Beim Untertauchen spürte ich, wie Mutter nach meiner Hand griff." Hier finden Mutter und Sohn zusammen, der Kreis schließt sich.

In Hochgatterers Buch schließt sich kein Kreis, das Buch endet einfach. Der Sohn gelangt aus seiner Leseerfahrung nicht zum Vater, nicht zur Mutter, nicht zur Schwester und auch nicht zu sich selbst. Das Leben geht einfach weiter. Aber vielleicht ist das ja die Botschaft des Buches. Auch wenn ein geliebter Mensch verschwindet, das Leben geht einfach weiter, auch wenn es für diesen kurzen Moment an der Brüstung zum Stillstand kommt. Sicher bin ich mir aber nicht.

Paulus Hochgatterers Stil begeistert mich, denn er beherrscht die deutsche Sprache, vor allem ihre Fähigkeiten Lebensgeschwindigkeit darzustellen. Das erreicht er mit kurzen aneinandergereihten Sätzen, in denen das Verb nicht selten fehlt: "Über mir schlug eine Welle zusammen. Eine zweite. Dann Schüttelfrost. Dann heiß. Dann Schüttelfrost." (S.93) Ich konnte das Tosen durch den Körper des Jungen lief erahnen und ich fühlte mich nicht wohl bei dem Gedanken, welche Schmerzen er wohl zu erleiden hätte. Hochgatterer schafft es, einen Sog zu erzeugen, der mich wie ein Fluss einen Wildwasserkanuten als Leser durch das Buch treibt.

Doch nicht nur in formaler Hinsicht treibt der Text den Leser an, sondern auch in der Absurdität der Ereignisse. Auch wenn ich den Einstieg etwas langweilig finde und das Buch für mich erst mit dem Aufbruch von Jakob auf Seite siebzehn beginnt, muss ich sagen, dass diese inhaltliche Langeweile doch einen Zweck erfüllt, nämlich den Leser auf diesen Wildwasserritt vorzubereiten. In dem schließlich eine Absurdität die andere jagt und schließlich im Haus einer zutiefst religiösen und verstörten Familie endet. Im Haus eines Kaplans, der als Zwillingsbruder seine Schwester überlebte, die Selbstmord beging, der mit seiner Mutter und einem verstörten, psychisch kranken Mädchen im selben Haus haust. Wir erfahren nicht, ob es sein Kind ist, ob es adoptiert wurde. Auch diese Sache bleibt wie viele andere Dinge in diesem Roman im Dunkeln.

Alles scheint monströs zu sein in diesem Roman, selbst die Mähdrescher sind nicht einfach nur grün, sondern eben enorm. (S.75) Vielleicht ist ja Hochgatterer der Meinung, dass der Gefühlslage eines Jungen, der in der Situation von Jakob ist, pubertierend, betroffen vom Vaterverlust und befallen von einer Dauergeilheit, ausgeliefert seinen extremen Gefühlslagen nur durch sprachliche, formale und inhaltliche Überhöhungen gerecht werden zu können. Doch trotz des wirklich lesenswerten Textes, hatte ich zwischendurch doch Zweifel an der Brillanz des Buches, denn es war seltsam wie genau Hochgatterer alles beim Namen nennt, wie detailversessen er beim Beschreiben der Wegstrecke ist, die Jakob zurücklegt, so als wolle er mich zwingen, die Strecke im Geiste abzufahren, damit ich immer den Ort genau festlegen könne, wo er sich gerade befindet, damit keine Ungewissheit entsteht über die Geographie in der Jakob sich bewegt.

Darüber hinaus nennt er alle Produkte, die Jakob zur Hand nimmt, kauft, denen er begegnet, bei ihrem richtigen Markennamen, so als würde er für den österreichischen Verband der Markenartikelindustrie arbeiten, die mit dem Slogan für Markenprodukte warb: "Achten Sie auf die Marke!" So als wolle Hochgatterer uns zurufen: "Ja, achten sie auf die Marke! Es ist nicht egal, welchen Energydrink Sie zu sich nehmen." Was ist der Zweck dieser Übung? Entweder will er damit die Glaubwürdigkeit seines Textes unterstreichen, wenn er statt dem Begriff "Sexmagazin" die Marke "Playboy" nennt oder er will zeigen, in welcher Fülle von Produkten wir schon in den neunziger Jahren gelebt haben, wenn wir uns durch den Alltag quälten. Jakob fährt nicht nur durch eine Navigationsoberfläche mit zielgenauen Landschaftbeschreibungen, sondern auch durch einen einzigen riesigen Supermarkt. Manchmal scheint es mir so, als wäre der ganze Hintergrund nichts weiter als eine Kulisse für die vordergründige Geschichte.

Auch Personenbeschreibungen sind rar. Ich habe mir kein Bild machen können, von den Menschen, die in diesem Buch herumirren. Will mir der Autor die Freiheit lassen, ihnen selbst Gesicht und Charakter zu geben? Will er damit die Austauschbarkeit der Personen ermöglichen. Könnte damit jeder von uns gemeint sein? Andererseits beschreibt er manche Personen dann doch, aber eher mit oberflächlichen Merkmalen, als wären es wandelnde Klischees, die da durch die unbebilderten Landschaften stapfen. Elvira ist eine "magersüchtige Blonde". (S.77) Daniela Schwetz hat die "perfekteste Brust" (S.79) und Heinz König sieht "fett und elend aus" (S.48). Auch hier eine enorme Geschwindigkeit. Und dann war da noch die Mutter, die die Pflanzen des Vaters gießt, seit dieser tot ist. Sie trinkt gern Campari-Soda, verliert wenn sie betrunken ist ihre Kritikfähigkeit und ist Kindergärtnerin. Neben der Frage, warum die Personen dem Leser nur als Oberflächen begegnen, gibt es gerade bei der Mutter diesen dramaturgischen Widerspruch, den ich bis zuletzt nicht auflösen konnte. Obwohl sie ihn für einen verantwortungslosen Selbstmörder hielt, der mit seinen Kanufahrten sich und ihren Sohn gefährdete, goss sie seine Pflanzen über den Tod hinaus, weil sie es "ihm schuldig" war. (S.8) Aber warum war sie es ihm schuldig? Was ist die Motivation für diese Schuld, was ging vor in dieser Ehe? Worin bestand denn diese Schuld? Der Text bleibt an vielen Stellen vage, die Konflikte hinter der Geschichte bleiben unsichtbar. Auch die Motivation von Jakob sich nach dem Vater auf die Suche zu machen, erschließt sich mir nicht, außer vielleicht dass ein Sohn den Vater liebt und aus diesem Grund den Ort des Geschehens aufsucht.

Am Ende der Lektüre wird mir dann schließlich klar, dass die Geschichte nur ein Mittel zum Zweck des Erzählens ist. Die zusammengestellten Bilder, die Geschwindigkeit des Erzählens, die Kürze der Geschichte, all das dient nur dazu Jakob auf diese Reise zu bringen, ihn diese äußerliche Reise machen zu lassen, denn von einer inneren Reise schreibt Hochgatterer nichts. Die Geschichte erfüllt ihren literarischen Zweck im Erzählen selbst, im Aufbau der Dramaturgie. Mehr als dieses Erzählen strebt die Geschichte nicht an.

Eine Besonderheit gibt es noch in diesem Buch, die ich nicht unerwähnt lassen möchte: Es gibt keine Anführungszeichen bei der direkten Rede. Für den Leser ist das bedeutungslos. Aber es beweist einmal mehr, dass Orthographie nicht immer etwas mit Verständigung zu tun hat, sondern mehr mit Konventionen, Regeln und Gesetzen. Normalerweise gehen wir an ein Buch auch mit einer orthographischen Erwartungshaltung heran. Ich bin froh über diesen Regelbruch, weil er beweist, was ich schon lange denke, äußere Regeln haben beim Schreiben nichts verloren, innere Notwendigkeiten schon.

Paulus Hochgatterer: Wildwasser. Roman. München: dtv 2013. 3. Auflage. 126 Seiten.
(Originalausgabe bei Zsolnay, Wien 1997.)

eingestellt am: 17.5.2017 | zuletzt aktualisiert: 21.5.2017
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