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Ins Herz getroffen


In ein Herz, das mir Tag um Tag den Dienst erweist, am Leben zu bleiben, mir morgens erlaubt mein Bett, meine Familie zu verlassen, um in die Dunkelheit aufzubrechen, um einen Arbeitsplatz zu erreichen, der in einer Welt liegt, aus der ich geboren bin, die mich groß gezogen hat. Ich fahre jeden Tag durch ein dämmriges Morgenlicht, durch ein mir fremd gebliebenes Land, das ich kenne wie meine Westentasche, aber an manchen Tagen nicht mehr erkennen kann, als ein Land, in dem ich mich geborgen, aufgehoben und erwünscht fühle.

Was ist denn das für ein Land, durch das ich jeden Tag reise, um mein Brot zu verdienen, das manche von uns Vaterland nennen?
Was ist denn das für eine Welt, die ich Tag für Tag durchquere, um meinen Dienst zu tun, die manche von uns Heimat nennen?
Es ist mein kaltes Land, wie ich es schon vor Jahren nannte.

Doch nun, nach Jahren der geduldigen Tarnung und Täuschung, haben einige Menschen in diesem Land die letzten losen Hüllen eines Anstands fallen gelassen, den sie bisher wie einen abgenutzten Mantel trugen, um sich uns zu zeigen, als wären sie aus unserem Holz geschnitzt, als wären sie an unseren Tischen gesessen und hätten das gleiche Brot mit uns geteilt.

Ich höre manche von uns schon sagen, wenn ich gewusst hätte, was ein abgelegter Mantel zu bedeuten hat, hätte ich doch nicht mitgemacht, wäre ich doch aufgestanden, nicht nur um zur Arbeit zu fahren, um meinen Dienst zu tun, sondern wäre ich aufgestanden, um mein Recht als Bürger auf gerecht verteilten Lohn einzufordern.

Nun, wer Ohren hat zu hören und wer Augen hat zu lesen, kann das laute Getöse der hereinbrechenden Flut an bisher unerhörten Reden und demütigenden Schriften nicht mehr länger ignorieren.

Niemand wird später sagen können, er habe nichts gewusst, so wie unsere Großväter und Väter schon einmal versucht haben, den Faschismus nachträglich zu leugnen, der aus ihrer Mitte hervorgekrochen war und sich wie ein unseliger Schwarzer Tod übers Land gelegt hat, als eine Plage von Hemdenträgern, die in Uniform und schweren Stiefeln das Land mit Elend und Not überzogen hatten, immer mit einem aufrechten Gang, der nur den Gerechten zusteht.

Heute tragen unsere politischen Führer keine Uniformen mehr, keine Stiefel, keine Gewehre. Sie tragen Krawatten und feine Anzüge, blankpolierte Schuhe, sie essen wie wir in Lokalen um die Ecke, sie geben sich leutselig und freundlich. Sie sagen, sie seien aus der Mitte des Volkes geboren.

Lassen wir uns nicht täuschen von den Wölfen im Schafspelz, den falschen Versprechungen auf die guten Zeiten, die auf uns zukommen werden, wenn wir nur fleißig arbeiten, das Land vom Abschaum befreien und die, die nicht mit uns sind, auf ihre Plätze verweisen, die weit weg von unserer Mitte liegen, im Abseits, im Dunkel.

Niemand soll sagen, dass er nicht gewusst habe, was kommen werde, wenn unsere politischen Führer ihre schäbigen Mäntel ablegen und uns ohne Scham davon berichten, was sie mit uns, die wir täglich aufstehen, um unser Leben zu fristen, vorhaben:

"Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen."
Sebastian Kurz, Bundeskanzler der österreichischen Republik, 2019.

Als einer, der jeden Tag morgens aufsteht, um arbeiten zu gehen, sich bei heftigstem Schneegestöber mit seinem Auto durch die finstersten Wintermorgen quält, immer am Rande eines unverschuldeten Todes entlang, weil auch andere morgens aufstehen, sich hinauswagen in das, was wir unumgänglich nennen, zu arbeiten, ein Einkommen zu sichern, die ebenso unschuldig am Rande des Todes entlang spazieren, in stetiger Angst vor Rasern leben, vor gestressten LKW-Fahrern, die einen in einen frühzeitigen und ungewollten Tod reißen könnten, immer die Augen auf die magischen Rücklichter gerichtet, kaum mehr sehend, als das dichte Schneetreiben vor der Windschutzscheibe, immer die Angst im Nacken, in der nächsten Kurve die Beherrschung zu verlieren und in einem Graben zu landen oder von einem Unbeherrschten in den Graben gedrängt zu werden, als solch einer, der jeden Tag aufsteht, kann ich nur sagen, ich bin empört über diesen Satz des Kanzlers dieser Republik.

Ich bin ins Herz getroffen von einem Menschen, der nichts Menschenverachtenderes sagen könnte, als zu behaupten, dass wer morgens nicht mehr die Kraft hat, um aufzustehen, nichts weiter sei als ein Mensch, der nicht mehr bereit ist zu leisten, dass einer, der dreißig Jahre sich zu Tode geschunden hat, für eine Firma, die ihn am Ende wie ein ausgepresste Zitrone entsorgt hat, ein Verräter sein soll an der Solidargesellschaft, dass einer, der über die höchsten Berge, dieser Erde gestiegen ist, um vor Hunger, Not und Krieg zu flüchten, nichts anderes im Sinn hat, als sich hinterhältig unseren Reichtum anzueignen, den wir, die wir jeden Tag aufstehen, im Schweiße unseres Angesichts erwirtschaftet haben.

Als jemand, der jeden Tag aufsteht, seinen Dienst versieht, egal bei welchem Wetter, zu welcher Jahreszeit und egal unter welchen persönlichen Opfern körperlicher und seelischer Natur, sage ich, dass ich empört bin über diesen Kanzler, der bisher nichts weiter geleistet hat, als zu reden und den Sozialstaat, der uns von unseren Vätern und Großvätern vererbt wurde, in Verruf zu bringen. Ein Kanzler, der aus dem Schoß der Kleinbürger hervorgekrochen ist, von denen schon Ödön von Horvath gesagt hat, dass sie nichts weiter als Gewalt und Not hervorbringen. Ein Kanzler, aus dem nichts geworden ist, seit er aus seiner unseligen Pubertät ausgestoßen worden war, als ein Berufspolitiker, dessen Beruf nicht darin besteht, morgens aufzustehen, um solidarisch für uns, die Leistunsgwilligen und Leistungsbereiten einzutreten, sondern aufsteht für das Großkapital in dessen Sold er steht, die ihn dafür bezahlen, uns glaubhaft zu versichern, dass er unser Retter sei und nicht unser Untergang.

Ich stehe jeden Tag in dem Bewusstsein auf, dass ich um die Früchte meiner Arbeit betrogen werde, nicht von den Arbeitslosen, nicht von den Ausländern, nicht von denen, die am Rande der Existenz dahinvegetieren, sondern von denen, die uns sagen, arbeitet fleißig, dann bringt ihr es zu etwas, von denen, die uns täglich anlügen, von denen, die uns regieren.

Sie sind die eigentlichen Verräter an der Aufklärung, an dem, was sie Volk nennen, an unseren wohlerworbenen Rechten.

Schon vor Jahrzehnten haben das einige erkannt und es ausgesprochen. Sie sagten: "Arbeit schändet."
Ich sage heute, dreißig Jahre später: "Lohnarbeit schändet."

Ich bin einer, der aufsteht, jeden Tag, zu jeder Stunde, zu jeder Gelegenheit.
Nichts kann mich daran hindern.

Die Frage, die ich mir jeden Tag stelle, ist ja nicht, ob ich aufstehen soll, sondern wofür.

Dank des Kanzlers dieser Republik weiß ich nun, dass ich morgen und übermorgen und danach jeden weiteren Morgen als nützlicher Idiot aufstehen werde. Ich kann es nicht mehr leugnen. Jeden Tag werde ich nun mit der Gewissheit aufstehen, dass ich vom Kanzler dieser Republik instrumentalisiert werde, er mich benutzt, um die Gesellschaft in die guten, leistunsgwilligen, teilhabeberechtigen Arbeiter/Arbeiterinnen und die sozialschmarotzenden Arbeitslosen, Ausländer/Ausländerinnen und Leistungsverweigerer/innen zu spalten.

Doch ich hoffe, dass es mir eines Tages gelingen wird, für etwas aufzustehen, das über diesen Zweck eines politischen Instruments hinaus den Menschen dienlich sein kann.

Ich hoffe eines Tages einer zu sein, der aufsteht, jeden Tag, zu jeder Stunde.


eingestellt am: 13.1.2019 | zuletzt aktualisiert: 13.1.2019
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