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Gedanke | digitale Moral
Warum noch Bücher schreiben, habe ich mich heute gefragt. Ich muss zugeben, die Frage war beeinflusst von zwei Interviews, die in der Spiegel-Ausgabe dieser Woche abgedruckt waren. Eines mit dem überschätztesten österreichischen Schriftsteller unserer Zeit Daniel Kehlmann, der nun offensichtlich auf Grund der Ereignisse in der österreichischen Innenpolitik zu einem politischen Schriftsteller geworden ist. Das zweite Interview mit Jonathan Franzen, dem hochgelobten und vielbesprochenen amerikanischen Romancier, beschäftigte sich mit den digitalen Monopolisten und ihrer Bösartigkeit.
Vielleicht sollte ich keine Bücher mehr schreiben, die keiner liest. Vielleicht sollte ich öfter Bücher lesen und diese kommentieren. Doch in einer Zeit, da die Menschen in einer Flut von digital-medialen Kommentaren ersticken, ist es mindestens so schwierig mit geschriebenen Worten eine Öffentlichkeit, jenseits der durch Medienkonzerne veröffentlichten Meinung, zu erreichen. Einem Mann ist dies letzte Woche gelungen, einem Youtuber mit Namen Rezo, der, glaubt man der veröffentlichten Meinung, im Alleingang der CDU einen Schaden zugefügt hat, wie es kein Skandal gekonnt hätte. Allerdings nicht mit geschriebenem Wort, sondern eben mit einem Video.
In Österreich müssen wir Politikern eine Falle stellen, um politische Amokläufer loszuwerden, in Deutschland reicht ein Youtube-Video, zumindest für ein paar Tage, bis das nächste Video erscheint. Franzen hingegen hat eine Liste der fünf bösartigsten Konzerne erstellt. Auf Platz fünf liegt Google, der Konzern, dem Youtube gehört und der damit ermöglicht hat, dass der Youtuber Rezo sein Video verbreiten konnte. Also der fünftböseste Konzern hat ermöglicht, der CDU bei der Europawahl erheblichen politischen Schaden zuzufügen. Ist das nun gut oder böse? Oder ist nicht die Frage falsch gestellt. Ist es tatsächlich möglich, technologischen Entwicklungen moralisch zu kommen?
Was ich zusehnds beobachte und was mich tatsächlich beunruhigt, ist die Moralität, mit der wir auf die technologischen Instrumente reagieren, die wir selbst entwickelt haben. Natürlich nicht wir, ich schon gar nicht, ich bin ja ein digitaler Analphabet, sondern Techniker, die wir abwertend Nerds nennen. Aber ist Moral die richtige Kategorie für das digitale Zeitalter. Sollten wir uns nicht auch in der digitalen Welt an Kant halten, an die Vernunft? Uns fragen: Ist eine Handlung vernünftig oder unvernünftig?
Gut, zurück zum Anfang. Warum noch Bücher schreiben, in einer Welt, in der ein Youtuber namens Rezo mit einem einzigen Video eine der größten Volksparteien Europas über Nacht derartig in Bedrängnis bringen kann.
Ich denke, es ist wichtig zu schreiben, das Feld nicht den Videointellektuellen zu überlassen, denn Videos sind flüchtig, sind kurze Momentaufnahmen, sind abhängig von den Medien, in denen sie erscheinen. Verschwindet Youtube, verschwindet Rezo. Kant bleibt dann immer noch. Bücher haben, sofern sie auf Papier gedruckt sind, einen entscheidenden Vorteil, wir können jedes Wort, das darin enthalten ist, analysieren. Uns damit auseinandersetzen, es zerlegen, in ihren Satzkontexten versuchen zu begreifen. Um das Gleiche wie mit Kant zu tun, nämlich eine Analyse des Gesagten zu vollziehen, müsste ich das Video von Rezo verschriftlichen, um es seiner Flüchtigkeit und Geschwindigkeit zu entreißen.
Es geht nicht darum, zu fragen, was ist gut und was ist böse an der digitalen Welt. Es geht auch nicht darum zu fragen, ist die CDU und das was sie tut gut oder böse. Ist der Klimawandel ein Verbrechen an der Menschheit? Es ist die Aufgabe von uns allen, zu fragen: Ist es vernünftig, die Temperatur auf unserem Planeten in die Höhe zu treiben? Wem nutzt diese Strategie, wem schadet sie? Rezo stellt keine Fragen, er gibt Antworten und am Ende steht eine große Bitte: nicht CDU, nicht SPD, nicht CSU und schon gar nicht die AfD zu wählen. Was bitte sollen wir denn dann wählen? Die Grünen? Was wäre mit einer Partei gewonnen, die in ihrem Programm die Rettung der Natur als oberstes Gebot festgeschrieben hat, wo wir doch heute wissen, der Mensch ist ein Kulturwesen und hat seine lange und erbärmliche Existenz hindurch nichts weiter versucht, als sich aus der Gefahr und Unsicherheit und Unfreiheit seiner natürlichen Bedingungen durch Zivilisierung und kulturelle Vernunft zu befreien?
Was also ist Rezos Frage an die Welt? Fragt Rezo danach, ob es vernünftig ist, das Parteiensystem zu zerstören? Fragt er, ob es vernünftig ist die Grünen zu wählen oder die Linken? Fragt er, ob die representative Demokratie vernünftig ist? Nein, das tut er nicht. Er appelliert am Ende an die Herzen der Eltern und Großeltern. Er appelliert nicht an die Vernunft, sondern an die Emotion.
Jonathan Franzen hat auch einen Wunsch: Er möchte dass Amazon in zwölf miteinander konkurrierende Unternehmen zerschlagen werden soll. Damit wäre, meint er, das Problem gelöst. Abgesehen davon, dass die zwölf eine heilige Zahl ist, ist das auch eine typisch amerikanische Antwort auf eine zuvor erhobene moralische Position. Wir lösen ein durch den freien, kapitalistischen Markt verursachtes Problem, mit dem freien Markt. Aber stellt er denn eine Frage an die Welt? Fragt denn Franzen, ob es vernünftig ist, Amazon zu zerschlagen und in einen gnadenlosen Wettbewerb zu hetzen? Fragt er, ob wir nicht doch eher den Konsumkapitalismus und seien Mehrwertstrategie in Frage stellen sollten. Fragt er, ob es vernünftig ist ein digitales Versandsystem zu nutzen, um die von uns produzierten Waren, die wir nicht benötigen, aber kaufen, um den globalen Markt zu unser aller Nutzen am Leben zu halten, durch die Welt zu schicken.
Die Intellektuellen unserer Zeit sind getrieben von der Moral ihrer Urgroßväter. Sie sind durch die Mühlen der -ismen gegangen und stehen nun als die moralischen Führer unserer Zeit am selbstgezimmerten Abgrund, mit einem Bauchladen, aus dem sie eine Antwort nach der anderen herausfischen, um sie der medialen Öffentlichkeit vor die Füße zu werfen. Und diese stürzt sich auf Grund ihrer intellektuellen Impotenz darauf, als wäre es pures Gold. Doch bei näherem Hinsehen, ist es nichts weiter als wertloses Metall, aus den geistigen Schmieden der Moralisten, die aus dem 20. Jahrhundert übriggeblieben sind.
Ich habe schon lange keine Antworten mehr und meine gelegentliche moralische Empörung ist nichts weiter als ein historischer Reflex auf meine marxistisch-lutherische Eziehung in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrtausends. Geblieben aber ist mir ein Hunger nach Fragen, die uns erheben aus dem Morast der digital-medialen Empörungskultur und uns als denkende Wesen zusammenführen, um Wege zu finden, die wir gemeinsam gehen können.
Nicht weil wir überleben wollen, sondern weil wir leben wollen, bis zum bitteren Ende, unserer menschlichen Existenz, in Würde und mit Anstand. Um mit Kant zu sprechen, so als wäre jede unserer Handlungen, Grundlage eines allgemein gültigen Gesetzes. Gültig für jedermann/jederfrau zu jeder Zeit an jedem Ort. Die Einlösung eines großen Versprechens aus dem neunzehnten Jahrhundert, das dem globalen Markt eine globale und unverbrüchliche Solidarität aller mit jedem und jeder in Aussicht stellte.
Wir sollten also die Frage stellen: Sind unsere Handlungen vernünftig in Bezug auf dieses Versprechen einer solidarischen und gerechten Welt für alle, jederzeit, allüberall?
eingestellt am: 28.5.2019 | zuletzt aktualisiert: 28.5.2019
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