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Einander Zwei
Erzählung
Kapitel Fünf
Sie waren schon einmal durch ein Niemandsland unterwegs gewesen, aber damals waren sie an eine Grenzstation gekommen. Der Autobus heute glich einem ausrangierten Linienbus einer beliebigen Großstadt. Die Stoßdämpfer dämpften nicht mehr und durch die offenen Fenster drang die heiße, trockene und staubige Luft des Vormittags. Die Landschaft nur Einöde, kein Haus, nur steinige, holprige Wege, die von der einzigen Straße, die nach Chile führte abgingen. Auch die Grenzstation glich in Nichts derjenigen, die sie am Vortag passiert hatten. Ein Haus am Rande eines Waldes und davor zwei Männer, die in den Bus stiegen und die drei Fahrgäste kontrollierten. Paßkontrolle, mehr war es nicht und dann ging es weiter, über die gleiche staubige Straße, rollte der Bus über einen steinigen Hügel hinunter, hinaus auf die Landstraße, hinein in eine endlos scheinende Prärie. Dann verlangsamte der Bus seine Fahrt. Paul und Karla, die sich längst an die öde Gleichmäßigkeit des Landes gewöhnt hatten, ruckten in die Höhe und versuchten irgendetwas zu erkennen. Doch da war immer noch nur die Landschaft. Weit vorne, wenn ihr Blick durch die Windschutzscheibe fiel, konnten sie ein Haus an der Straße entdecken, auf das der Bus unmittelbar zusteuerte und vor dem er schließlich auch hielt. Der eine, außer Karla und Paul noch verbliebene Fahrgast verließ den Bus und ging ins Haus. Karla und Paul waren ratlos.
"Eine halbe Stunde Rast", sagte der Fahrer.
"Hier?" fragte Karla.
"Dieser Ort ist der einzige bis Calafate. Nutzen sie die Zeit für ihre Geschäfte."
Paul und Karla verließen den Bus und fanden sich in der Szenerie eines dieser absurden Western wieder, an einer Postkutschenstation, wo die Pferde getränkt wurden und die Fahrgäste in düstere, von Staub durchzogene Saloons traten, die nicht nur zum Trinken dienten, sondern gleichzeitig Waschstube, Kramladen und Arztstation waren.
Über zwei Stufen an der Eingangsseite konnte der Fahrgast den Aufenthaltsraum betreten. Spätestens jetzt war der Eintretende tatsächlich in einen Western vorgedrungen. Im Lokal standen fünf Tische mit Sesseln auf einem Holzfußboden, der Raum war groß und leer. Hinter der Theke lungerte der Wirt. Was fehlte, um das Bild perfekt zu machen, waren Staubschwaden und düstere Gestalten. Außer den zwei Fahrgästen, dem Wirt, der sich mit dem Fahrer unterhielt, war niemand anwesend. Das Lokal war penibel sauber.
Paul fühlte sich beim Betreten des Lokals seltsam berührt. Er hatte in seiner Jugend viele Western gesehen. Sie hatten ihn geprägt, in seiner Männlichkeit gestärkt, hatten ihn geformt zu dem absurden Mann, der schließlich alles mitgerissen hatte in seine Verzweiflung, was nicht so war wie er selbst.
Er trat an die Bar und bestellte eine Coke.
Paul konnte sich noch genau an die ein, zwei Kino in Wien erinnern, die immer wieder Western-Festivals veranstalteten, an seine Freunde, mit denen er jeden Abend in der ersten Reihe saß, ganz nahe an der Leinwand, so als könnten sie damit Teil der Handlung werden, ihren Helden ganz nahe kommen. Und heute war er plötzlich mitten in einen solchen Film hineingeraten, jedoch ohne einer dieser harten Männer zu sein, die er damals so gerne gewesen wäre. Heute gab es keinen Pianisten, den er erschießen konnte, wenn er einen falschen Ton von sich gab, heute würden keine Franks, Djangos oder Ringos durch die Tür treten, um einem Mundharmonikerspieler das Licht auszublasen, da gab es keinen Buckeligen, keinen Revolverhelden, keine unbesiegbaren Bösen und Guten, vor der Tür würden keine Pferde schnaubend Halt machen und die Spannung darüber, wer wohl nun durch die Tür treten würd,e ins Unermeßliche wachsen. Heute waren nur er und der Wirt in diesem Raum. Paul mußte unweigerlich an die Differenz zwischen dem, was in den Western gesagt wurde und seinem eigenen Leben denken. Überall waren sie zu finden diese Männer, die nichts weiter sein wollten als Helden, einsame Reiter für Gerechtigkeit und für das moralisch Richtige. Doch wo waren sie gewesen im wirklichen Leben? Es gab sie nicht. Es war für Paul schwer einzusehen, daß die wirklichen Männer nichts weiter waren als ängstliche Bündel an Hoffnungslosigkeit, die den Verlust ihrer Macht in Form von Schlägen an ihre Frauen und Kinder weitergaben. Paul war nie ein Mann, der mit Gewalt etwas anfangen konnte. Im Westen faszinierte ihn die Gerechtigkeit, bis er erkannte, daß diese Form der Gerechtigkeit die der Männer war. Und er hatte sich in dieser männlichen Welt wohl gefühlt, aufrecht konnte er sich selbst anblicken, er war unverletzt und gleichberechtigt, doch um welchen Preis? Der Preis war Schweigen, eine einsame Wüste, zahllose Mißverständnisse mit Frauen, die sprachen, um zu verstehen und nicht um der Gerechtigkeit willen. Der Preis war der Verlust der Möglichkeit, einen Tag erleben zu dürfen, der mehr als nur ein verlorenes Versprechen bedeuten könnte.
Vielleicht war er aber auch nur losgefahren, weil er die Sprache für eine Welt verloren hatte, die ihm Heimat gewesen war und in der er sich plötzlich nicht mehr zurecht fand, nicht mehr aufgehoben, nicht mehr männlich, unverletzt und stolz. Plötzlich waren sie wieder dagewesen die Bilder aus seiner Kindheit, diese großen Gesichter, die sich zu ihm herunterbeugten, als er in dem kleinen Geschäft einkaufen war, von seiner Großmutter ausgezeichnet, weil sie ihn alleine losgeschickt hatte, mit einem Zettel in der Hand. Noch heute sieht er sich stehen, vor dem kleinen Haus, daneben eine Tabak Trafik, das schrille Quietschen der Räder einer Verschublok, die sich nur knapp am Randstein vorbeischob, wie ein riesiges Ungeheuer, aber mit ihrer Kraft ein Symbol für die Weite und die Welt außerhalb seiner Familie. Über der Eingangstür stand in großen Buchstaben das Wort Milch geschrieben. Als Paul ins Geschäft trat, bimmelte eine kleine Glocke, Sonne schien durch die großen Fensterscheiben und warf gelbe Schatten auf den Steinboden.
In seiner Erinnerung ist es immer Sommer.
Es roch nach Brot, Käse und Gewürzen. Milch und Joghurt gab es noch in weißen und braunen Flaschen. Das Wichtigste aber waren die roten, gelben und grünen Bonbons, die er von der Milchfrau geschenkt bekam. Das Zuckerlglas stand im zweiten Regal von links. Die anwesenden Frauen, selten war ein Mann dabei, fanden ihn putzig und ließen ihm den Vortritt. Sie redeten über Menschen, die er nicht kannte, in einer Sprache, die er nicht verstand. Zum Sprechen benutzten die Frauen ihre großen Hände und Augen. Ihre Münder bewegten sich, und es fand sich kaum Raum für ein wenig Stille. Ihre Finger waren Werkzeuge, ihre Kopfbewegungen und Blicke waren aber nicht so bedrohlich wie die der Männer im Gasthaus.
Ins Wirtshaus ging Paul nachmittags Eis kaufen, wenn alle Geschäfte geschlossen waren. Die Finger der Männer waren rauh, ihre Augen stechend, ihre Worte hart und ihre Bewegungen pfeilschnelle Waffen. All das war Paul immer in Erinnerung geblieben, auf all seinen Wegen hatten ihn diese Hände, Augen und Worte begleitet, er konnte sich ihrer bedienen, so als wären es seine, bis es nicht mehr ging, bis er es satt hatte, loszubreschen, hinzustechen in das Herz der Menschen. Er konnte nicht darüber sprechen, mit niemandem, plötzlich war ihm seine Sprache verloren gegangen, es gab nichts mehr zu sagen.
Vielleicht wollte er sich mit seiner Reise auch nur beweisen, daß es diese Art von Freiheit, wie sie in Filmen propagiert wird, noch gibt. Ein Motorrad, einen Highway, einen guten Kumpel an seiner Seite, Landschaft bis unter den Horizont und ein wenig Haschis befriedigen alle Lebensbedürfnisse. Die Freiheit harter Männer, denen nichts bleibt als eine Satteldecke zum Schlafen und schwarzer, selbstgebrauter Kaffee am Morgen. Das einzige, was sie erwartet, ist die Wildnis und ein Tag harter Arbeit. Überall fand er diese Illusion von intakter Männlichkeit, die Sehnsucht eine Wildnis zu bezwingen, den Wunsch Sieger zu bleiben, über das, was einen besiegen könnte. Doch es blieb immer nur die Herrschaft über eingegrenzte Felder übrig, nach den langen Arbeitstagen. Ihr endloser Ritt über die Prärien der Welt endeten meist vor Bürotürmen, Liebesbeziehungen, Kindergärten und in langen Spaziergang an einem frühsommerlichen Abend durch einen der unzähligen Stadtparkanlagen.
Und dann war es Paul mit einem Mal klar geworden. Auch er war einer dieser Männer. Immer hatte er sich dagegen gewehrt, doch dann war er plötzlich einer von ihnen geworden. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie Frauen unter sich aufteilten und gleichzeitig Besitzansprüche auf sie erhoben, war seine geworden.
Paul wollte diesen endlosen Western in seinem Kopf außer Kraft setzen, er wollte aus seiner Vergangenheit heraustreten, um in die Gegenwart mit Karla zu gelangen.
***
Karla schloß die Tür der Toilette hinter sich und folgte dem von mittelgroßen Steinen begrenzten Weg, der in die das Haus umgebende Landschaft führte. Sie war überrascht von der Weite und Offenheit der Ebene. Bisher gab es immer irgendeinen Anhaltspunkt, einen Hügel, ein Haus, eine Baumgruppe, aber hier gab es nichts als eine langgedehnte Weite, die sich erst am Horizont im Himmel verlor. Sie beobachtete, wie ihre Ruhe zurückkehrte, eine Ruhe, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Dieses Land ließ sie Einkehr finden, eine Gelassenheit, die sie innehatte, bevor der Alltag in ihr Leben getreten war. Früher als sie sich noch als jung bezeichnet hatte, da strömte das Leben dahin, war alles von Spontaneität geprägt und dann nach Abschluß ihres Studiums kam der Alltag auf sie zu. Zuerst der Beziehungsalltag, dann der Arbeitsalltag und jedes Monat bürdete ihr das Leben einen neuen Granitblock auf, den sie ihn mühevoller Kleinarbeit mit einem Hammer in winzige Steinstücke zerschlagen mußte. Und mit der Zeit war ihr Leben in Jahrespläne eingeteilt. Ohne daß sie es wirklich bemerkt hatte, war sie plötzlich in einem Karussell gefangen, das sich von Tag zu Tag schneller drehte und durch keinen noch so verzweifelten Versuch zu stoppen war. Jeden Tag erwarteten sie neue Verpflichtungen, neue Aufgaben, neue Herausforderungen. Und erst jetzt, in dieser weiten Landschaft, wurde sie sich der Stille bewußt, die ihr so schmerzlich gefehlt hatte, die Abwesenheit von Pflicht und Schuld. Sie drehte sich zum Haus um und dachte, daß sie dieses Haus in sich verloren hatte, dieses einsame Haus, das ihr Ruhe und Frieden geben könnte. Dieses Haus wiederzufinden, war vielleicht der eigentliche Zweck ihrer Reise. Sie tat einen Schritt darauf zu und plötzlich spürte sie ein Verlangen in sich, wieder etwas Großartiges zu erleben, etwas, das nicht einem vorgegebenen Plan entsprang, einer Verpflichtung, sondern sich aus der Gelegenheit zur Tat ergab, aus der bloßen Möglichkeit des Tuns. Karla bog um die Hausecke, machte ein paar Schritte auf die Stufen zu, die zur weit geöffneten Eingangstür hinaufführten. Mit jeder Treppe, die sie erklomm, wurde die Sehnsucht stärker und als sie in das Haus trat, fühlte sie sich in einen Film eintreten, in einen Traum, in ein Klischee ihrer eigenen Phantasie. Durch ein Fenster an der linken Hauswand fiel ein schmaler Sonnenkegel direkt auf einen der Tische. Im Lichtschein tanzte der Staub und Karla begann sich in diesem erregenden Gefühl der sentimentalen Erinnerungen wohlzufühlen. Sie sah sich kurz um und erblickte Paul an der Theke. Er war in ein Gespräch mit dem Wirt vertieft und hatte ihr Eintreten offensichtlich noch nicht bemerkt. Der im Sonnenlicht stehende Tisch zog sie magisch an, als wäre er nur für sie da und wenn sie sich auf einen der Sessel setzen, ins Licht treten würde, könnte sie eine Geschichte in Gang setzen, die sie zurückbringen würde in eine Zeit, als die Romantik noch heilloses Glück versprach. In eine Zeit als sie sich ident mit sich selbst gefühlt hatte, ohne Widersprüche, ohne Zweifel, nur von dem Willen erfüllt, die Welt für sich zu erobern. Als sich Karla auf dem Sessel niederließ, drehte Paul sich nach ihr um und traf sie mit seinem Blick. Er nahm seine Cola-Flasche und kam an ihren Tisch. Karla wich nicht mehr zurück, mit einem Mal wollte sie, daß er auf sie zuging, mit einem Mal wollte sie, daß er sie Begehren sollte, daß seine Blicke mehr sein sollten, als nur bewundernd. Vielleicht war es das, was sie seit Jahren vermißt hatte, dieses Begehren, diesen Blick auf ihrem Körper, der mehr wollte als schnellen Sex am Morgen, der mehr wollte als ein schweigsames Frühstück, der mehr wollte als einen langen Abend vor dem Fernseher, aus lauter Angst vor der Einsamkeit des nächsten Tages. Paul sah sie nicht mit der Routine eines Partners an. Und als er an den Tisch trat, gab sie ihm zum ersten Mal nach, ohne Angst, ohne Vorbehalte, ohne Zweifel. Sie wollte mehr von ihm. Ein wenig mehr Geschichte mit ihm.
"Ist dir nicht gut?" fragte Paul.
"Alles in bester Ordnung. Mir geht es hervorragend", antwortete Karla.
"Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen."
"Es ist die Landschaft, die mich erstaunt."
"Dann ist es gut. Was willst du trinken?"
"Ich nehme dasselbe wie du."
"Eine Cola, bitte, Herr Wirt!" rief Paul.
"Kommt sofort", erwiderte der Wirt.
"Es ist unglaublich hier", sagte Paul.
"Ja, ein magischer Ort."
"Seit wir die Grenze überschritten haben, hat sich etwas verändert", sagte Paul.
"Es ist anders geworden."
"Ich muß die ganze Zeit an meine Jugend denken."
"Deine Jugend?"
"Ja", sagte Paul. "Wir sind immer ins Kino gegangen, um uns Western anzusehen. Und wenn wir dann nach Hause gingen, dann habe ich mich so unglaublich stark gefühlt, so als könnte ich alles erreichen, was ich nur will. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, daß das Leben gerade deshalb so schwierig ist, weil es wie ein Western organisiert ist."
"Das Leben ist nicht wie ein Western organisiert. Die Männer verhalten sich nur wie Westernhelden. Sie sind die großen einsamen Reiter, die auf der harten Erde schlafen, Entscheidungen treffen und sich Frauen nehmen, wenn sie wieder einmal Lust haben oder gerade in der Stadt sind."
"Kann sein", sagte Paul.
"Als ich da draußen in der Landschaft stand, in dieser Stille, ohne Wind, ohne Geräusche, da habe ich zum ersten Mal etwas von dieser Reise verstanden, die Menschen in manchen Kulturen antreten, um ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden. Vielleicht bin ich auf diese Reise gegangen, um auch meinen Ort zu finden. Ich hatte in meiner Jugend einen solchen Ort gehabt, aber irgendwie ist er mir verloren gegangen. Alle meine Hoffnungen, meine Träume, verschwanden in den Ritzen morgendlicher Weckrufe, langer Novemberabende, hektischer Telefonate im Büro, kurzer Sommerurlaube ... ."
"Ja?", fragte Paul.
"Ich will dich nicht mit meinem Leben langweilen!", sagte Karla.
"Für wen ist die Cola?" fragte der Wirt.
"Für mich", sagte Karla.
"Bitte schön."
"Danke."
"Du langweilst mich nicht", sagte Paul. "Warum denkst du, bin ich auf dem Weg nach Calafate?"
"Weil du die Gletscher sehen möchtest?"
"Weil ich hinter einer Geschichte her bin."
Der Fahrer gab Paul und Karla einen deutlichen Wink, daß die Fahrt weitergehe.
"Hinter einer Geschichte?"
"Lassen wir das", sagte Paul und erhob sich.
"Nein, nein, sag nur", lockte Karla und folgte ihm, bevor er in der Helligkeit des Tages verschwinden konnte.
"Ich habe schon zu viel gesagt", murmelte Paul.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel und als der Bus sich in Bewegung setzte, blieb nichts als eine staubige Spur in der Landschaft zurück.
***
Es war nur ein dumpfer Schlag gegen die Karosserie zu hören, bevor der Bus mit quietschenden Bremsen und schlingernden Bewegungen zum Stillstand kam. Irritiert und aufgeregt sprangen die Fahrgäste von ihren Sitzen, versuchten durch das Fenster einen Blick auf die Geschehnisse zu werfen. Doch da war nichts zu sehen, als ein weites Tal, begrenzt von den südlichen Ausläufern der Kordillerenkette, die gegen Norden in das andine Gebirgsmassiv überging. Das hektische, aufgebrachte und fluchende Gewirr von Stimmen drang bis in die hintersten Reihen des Busses. Paul und Karla folgten den Fahrgästen, die nach draußen strömten, um ja nichts vom Spektakel zu verpassen. Vor dem Kühler des Busses lag ein Schaf mitten auf der Straße. Der Bus selbst hatte nicht viel abbekommen, da er wie alle anderen in der Gegend mit Maschendrahtgitter ausgestattet war, damit keine Steine die Scheiben einschlagen konnten, die immer wieder von vorausfahrenden Wagen aufgewirbelt wurden.
"Es ist tot”, sagte der Fahrer und stieß mit seinem Fuß dagegen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
"Dann tragen wir‘s weg”, meinte ein Mann.
"Lassen wir es liegen. Und sehen wir zu, daß wir weiterkommen”, ergänzte ein anderer. "Wir können uns nicht um jedes Schaf in der Gegend kümmern, daß jemand vor den Kühler läuft.”
"Es ist einfach stehen geblieben”, sagte der Fahrer. "Es hat sich nicht vom Fleck gerührt.”
"Da sehen Sie her! Wenn Sie das Augenlid heben, merken Sie, daß das Schaf blind ist.”
"Sag ich doch. Nichts Besonderes. Schaffen wirs weg. Es gibt Tausende davon in diesem Land.”
"Tausende?” fragte Paul.
"Wissen Sie, es gibt einige Theorien dazu. Die Optimisten meinen, es wäre eine Augenkrankheit der chilenischen und argentinischen Schafe. Die Pessimisten gehen davon aus, daß das Ozonloch daran Schuld ist.”
"Das Ozonloch, also”, sinnierte Paul und trat an Karla heran. Er blickte über ihre Schulter ins Tal, spürte sie atmen, wie damals, als sie sich bei Hilda zum ersten Mal begegneten. Unter den Wolken war ein schwarzer, sich kreisförmig bewegender Punkt zu sehen, der näher kam und dabei immer höher stieg. Paul mußte unwillkürlich an die alpenländischen Adler denken, an ihren Flug, ihre Kraft.
"Schau, Karla, ein Kondor”, sagte Paul.
"Bist du sicher?” fragte Karla.
"Ganz sicher. Es ist typisch für die Bewegungen seines Fluges. Im Frühling, wenn die Schafe ihre Jungen kriegen, dann kommen die Kondore von den Anden herunter, um die Nachgeburten der Lämmer zu fressen. Wir haben Glück, eigentlich ist es noch zu früh für den Kondor.”
"Vielleicht ist es ja auch ein Zeichen”, sinnierte Karla. "Für die Indios ist der Kondor ein Heiliges Tier.”
Lautes Hupen riß Karla aus ihren Gedanken. Sie trat auf den Bus zu und betrachtete aus den Augenwinkeln das tote Schaf, daß nun doch zum Straßenrand geschleppt worden war. Als sie wieder auf ihrem Platz saß und der Bus langsam entlang des Berghanges ins Tal rollte, blickte sie hinunter und war zufrieden, denn sie hatte schon befürchtet, daß die Weite des Landes zu Ende gehen könnte. Diese Weite, die zu einem Teil ihrer Geborgenheit geworden war. Die letzten Stunden waren sie durch eine Hügelkette gefahren und jetzt unvermittelt tat sie sich wieder auf, die patagonische Savanne. Was fehlte, waren nur die riesigen Tierherden, Gnus, Zebras, Giraffen, die durch die karge Tundra jagten, eine Staubwolke aufwirbelnd.
***
Langsam rollte der Bus neben einem Alleebaum in Calafate aus, hielt am Randstein und öffnete die Türen. Es war keine Haltestellentafel zu sehen. Wie sooft in abgelegenen Gegenden, wußten die Menschen, wo sie zu warten hatten, wo sie erwartet wurden, wo Busse ankamen, wie sie sie zum Halten bringen konnten. Alles schien einem geheimen Plan zu folgen. Und daran erkannte man die Fremden auf den ersten Blick, daß sie Zeit benötigten, um sich im System zurechtzufinden.
Von der Hauptstraße zweigte eine Schotterstraße ab. An der Ecke stand ein Schild, das auf die Jugendherberge des Ortes aufmerksam machte. Paul und Karla folgten den Rucksackmenschen. Bereits nach fünfminütigem Marsch erreichten sie die Jugendherberge. Das Haus war niedrig, ohne Aufbau, zog sich nach hinten in die Länge, gleich einem Kirchenschiff. Es wirkte deplaziert in der Umgebung von Wellblechgaragen und verwilderten Wiesen, zwischen all dem Plunder, der in der Gegend herumlag. Das Haus war neu, das war deutlich zu erkennen. Durch die Tür betraten Paul und Karla einen hallenartigen Vorraum, der mit drei Tischen möbliert war, in der hinteren Ecke ein Philodendron, der Boden mit roten Steinplatten ausgelegt und die Wände waren aus Glas, sodaß der Raum von Licht durchdrungen war. Zwei Stufen führten zur Rezeption hoch, die auch den Kontrollpunkt markierte, an dem alle vorbei mußten, die ins Innere des Hauses, in jenen Korridor, der tiefer hineinführte, vordringen wollten. Hinter einem Schalter, der einem Kassendurchreiche glich, stand eine Frau von Mitte Vierzig, klein, stämmig, hübsches Gesicht und feuerrote Haare. Sie strahlte aus freundlichen, leuchtenden Augen, erteilte Auskünfte, verteilte Schlafgelegenheiten und machte die Ankommenden mit der Hausordnung bekannt. Sie verwies auf die Küche, die der Rezeption gegenüber lag, sehr sauber und ordentlich. Mit einer Handbewegung, die nachlässig wirken wollte, wies sie in den Korridor, erklärte, daß die rechten Türen, in Frauenzimmer und die linken in die Männerzimmer führten. Stockbetten. Selbst bis hierher hat die christliche Jugendherbergsbewegung es geschafft die Abstinenz und Askese voranzutreiben, selbst dieser Weltwinkel ist damit keine gottverlassene Gegend mehr. Am Ende des Korridors befanden sich Waschgelegenheiten, Duschen und WC-Anlage. Auch eine Waschmaschine gab es. Alles wirkte unglaublich europäisch. Vierbettzimmer als Bollwerke in feindlichem Umfeld, Bollwerke gegen die Verwahrlosung der Jugend.
***
Karla zog die Tür zu ihrem Zimmer leise ins Schloß, um ihre Mitbewohnerin nicht zu wecken. es war still im Haus geworden in den letzten Minuten. Im Korridor war niemand zu sehen. Paul ließ sich Zeit, dachte sie. Nur am Ende des Korridors, wo sich die Duschen befanden, drang das Rauschen von Wasser hervor. Die Ruhe und der Klang des rieselnden Wassers tat ihr gut. Langsam begann sie sich auf dieser Reise wirklich wohlzufühlen. Alles bekam eine eigene Innere Zeit. Sie begann sich am richtigen Ort zu fühlen, eingeschlossen in ein Schicksal, das sie von Ort zu Ort zu treiben schien. Die Verwalterin der Jugendherberge war verschwunden. An dem Schalterfenster hing ein Schild mit der Aufschrift: Komme gegen achtzehn Uhr wieder. Karla widmete sich den herumliegenden Prospekten, versuchte sich auf einer an der Wand angebrachten Karte zu orientieren und plante im Kopf ihre Exkursionen für die nächsten Tage. Karla wollte unbedingt, die sensationellen Gletscher sehen, von denen in allen Reiseführern die Rede war.
***
Paul sah Karla an der Rezeption stehen. Ihr Blick war in eine Karte vertieft. Es war still im Haus und diese Stille schien Karla einzuhüllen. Sie schien so weit weg mit ihren Gedanken und doch hätte er es gerne gesehen, wenn sie an ihn denken würde. Er wollte, daß er zu einem Teil ihrer Geschichte werden würde. Er wollte einfach wissen, was ihn an sie band, was ihn dazu bewegte ihr zu folgen. Irgendetwas zog ihn an ihr an. Und es war nicht nur ihr Körper, obwohl er sie ausnehmend attraktiv fand. Doch da gab es etwas in ihrem Auftreten, das ihn herausforderte, das ihn zu ihr hinzog. Und mit jedem Schritt dem er sich ihr näherte, wußte er weniger, was es war. Fast schien es so, als würde mit jedem Schritt, mit dem sich die räumliche Distanz zwischen ihnen verringerte, auch die Möglichkeit verschwinden, mehr über sie zu erfahren. Auch jetzt da er an sie herantrat, roch er ihr Haar, dessen Geruch sich mit ihrem Parfum vermischte, daß an all ihren Kleidungstücken haftete. Wieder trat er an sie heran und wieder wurde jede Distanz ausgelöscht, die ihm die Möglichkeit gegeben hätte, mehr über sie als Fremde zu erfahren. Kaum stand er dicht neben ihr, war sie ihm nicht mehr fremd, sondern bekannt, heimisch, nah.
"Und hast du schon etwas gefunden, was du tun könntest in dieser Gegend?” fragte er.
"Ja, da gibt es eine Menge Dinge. Aber vor allem die beiden Gletscher, Perito Moreno und Glaciar Upsala haben es mir angetan. Sie zählen zum Besten, was Patagonien zu bieten hat.”
"Und wirst du sie besuchen?”
"Natürlich, deshalb bin ich ja hergekommen. Du nicht?”
"Ich kann nicht”, sagte Paul.
"Du willst schon wieder weiter?”
"Nein, auf keinen Fall. Ich werde auf dich warten.”
"Warten, auf mich?”
”Ich habe zu wenig Geld für die Exkursionen, also werde ich auf dich warten, bis du abends heimkommst.”
"Das kommt überhaupt nicht in Frage.”
"Upsala kostet achtzig Dollar. Und die letzten Nachrichten aus Wien legen mir nahe, ein wenig sparsamer zu sein, wenn ich das nächste Monat noch überstehen möchte. Ich glaube ich muß passen.”
"Das ist schade”, bedauerte Karla.
"Ja.”
"Und was hältst du davon, wenn ich dich einlade?” fragte Karla.
"Meinst du das im Ernst?”
"Warum nicht. Geld habe ich genug. Jetzt sind wir soweit zusammen gereist. Und ich möchte auf nichts verzichten. Ich habe auf soviele Dinge in den letzten Jahren verzichten müssen. Damit muß Schluß sein.”
"Und was hat das mit mir zu tun?”
"Ich möchte dich dabei haben”, sagte Karla.
Sie war über die Unmittelbarkeit ihrer Aussage selbst überrascht. Um die kurze peinliche Pause nicht zu einem betretenen Schweigen ausufern zu lassen, nahm sie ihre Tasche durchschritt die Halle und verließ das Haus. Sie wußte selbst, daß sie sich preisgegeben hatte. Einen Schritt auf ihn zugemacht hatte, aber sie kannte sich auch gut genug, daß es jetzt kein Entkommen mehr gab.
Sie hatte sich entschieden.
Paul benötigte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, folgte ihr dann schließlich doch und gemeinsam schlenderten sie gemächlich Richtung Stadtzentrum.
Calafate unterschied sich wesentlich von den Orten entlang der argentinischen Atlantikküste. Eine Binnenstadt, entlang einer zentralen Hauptstraße angelegt, Häuser mit Vorgärten, umgeben von Landschaft ohne wesentliche Markierungspunkte. Gleich einer Insel lag sie in einem Meer aus Sand, Erde und Fels. An den Küsten gruppierten sich Häuser im Rechteck. Immer dasselbe Muster. Erst weiter außerhalb begannen die Ansiedlungen auszuufern, gleich einem Flußdelta in die Landschaft hineinzuwuchern, dort konnten sie sich endlich dem eroberten Raum widersetzen, einer Ordnung, die durch Spanier und Engländer in diese Gegend gebracht wurde. Staubige Wege schlossen sich nahtlos an asphaltierte Straßen an, wichen dynamisch vom rechtwinkeligen Prinzip der Planung ab, eroberten sich den Raum zurück, der zerstört worden war, von einer nüchternen Planwirtschaft, die alles einzwängte, eingrenzte und anordnete.
In Calafate war von alledem nichts zu bemerken. Die Stadt besaß noch den Charme der Pioniere, very british. Doch gleichzeitig waren überall die Spuren des Aufschwungs zu entdecken, der Tourismus begann sich auch hier einzunisten, vielleicht gerade hier, wo die argentinischen Behörden alles dazu taten, die Stadt auszubauen, um ihre Westflanke gegen die chilenos zu sichern. Noch immer sind Gebietsstreitigkeiten an der Tagesordnung, sogar hier, wo hinter dem letzten Haus, am Ende der asphaltierten Wege, unmittelbar, ohne Übergang das Niemandsland begann, eine weite Ebene, ohne Häuser, ohne Bodenschätze, ohne Bedeutung. Aber gerade die nur durch die Kordileeren begrenzte Weite war die stärkste Waffe der argentinischen Behörden, in ihrem immerwährenden Abwehrkampf.
Die Läden entlang der Hauptstraße waren ein lebendiges Zeichen für den aufkeimenden Wohlstand, der durch die touristische Kolonisierung in diesen Teil Argentiniens vorgedrungen war.
Karla hielt vor einem unscheinbaren, schmalen, einstöckigen Haus. Sie betrachtete die Fassade. Im ersten Stock zwei Fenster, dahinter waren Gardinen zu erkennen. Wie ihr Puppenhaus, mit dem sie als Kind lange Samstagnachmittage verbrachte, dachte Karla. Es waren wunderbare Samstagnachmittage.
"Suchst du nach etwas Bestimmten?" fragte Paul.
"Nein", antwortete Karla. "Ich finde die Dekoration einfach hübsch. Es erinnert mich an meine Kindheit."
"An deine Kindheit?"
An diesen Nachmittagen war es still in der Wohnung. Ihr Vater hatte sich zu einem Nickerchen hingelegt und ihre Mutter saß in der Küche saß und las ein Buch. Karla war dann ganz in ihre Welt eingeschlossen, mit sich allein und ihren Puppen. Dieses Haus erinnerte sie an daheim, es war ebenso klein, zierlich und adrett. Neben der Eingangstür befand sich ein Schaufenster, in dem auf bunten, kopierten Plakaten Reisen in die Umgebung angeboten wurden. Karla trat näher an die Auslage heran und studierte die Angebote.
"Ja, an mein Puppenhaus, mit den Vorhängen, der Küche, dem Schlafzimmer, dem kleinen Herd, auf dem ich für meine Puppen Essen gekocht habe. Alles war so sauber und adrett. So ganz anders als im wirklichen Leben."
"Mich erinnert es eher an Kaufhausschaufenster, der drapierte Stoff, die Schrift auf dem Glas, die Hinweise, die Angebote. Hast du dich schon für eines entschieden?"
"Meine Exkursionen standen schon in Berlin fest."
"Du überläßt wohl nichts dem Zufall?"
"Selten. Das gehört zu meinen schwierigen Eigenschaften. Darunter haben schon viele Männer gelitten. Vor allem weil ich die Tendenz habe, mich in spontane Männer zu verlieben."
"Mir ist Planung nicht so wichtig", sagte Paul.
"Na, dann bin ich wohl gefährdet."
Paul blickte Karla nach, die mit einer hastigen Wendung auf die Eingangstür zusteuerte und im Laden verschwand. Er trat an die Auslage heran und warf einen flüchtigen Blick auf die Werbeplakate. Paul fand, daß Karla recht hatte, sie sahen wirklich hübsch aus, die bunten Zettel, die auf seltsam geordnete Weise durcheinander
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Dieser Text ist das fünfte Kapitel der Erzählung Einander Zwei. Erschienen in der Edition Art Science 2009. Für alle die das Buch auch in Papierform lesen wollen, können es [hier] bestellen.
eingestellt am: 1.12.2020 | zuletzt aktualisiert am: 1.12.2020
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