20.211.119:0.822 Zum Archiv
Das Unglück in der Welt in Glück zu wandeln, ist irgendwann als Auftrag auf mich übertragen worden und darin liegt der Ursprung all meines Scheiterns begründet.
20.211.116:2.014 Zum Archiv
In den Büchnerpreisreden sind kluge Sätze aufbewahrt, die es lohnen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Lange schon spekuliere ich damit, eine Rede zu verfassen, zu einem Preis, den ich wie viele andere Preise nie erhalten werde. Und so habe ich die Idee geboren, im Homeoffice eines Unbrauchbaren vielfältigen Gebrauch von den Gedanken der Preisrednerinnen und ihren männlichen Gegenstücken sowie den Laudatoren und ihren weiblichen Gegenstücken zu machen.
Nun, nach der Lektüre zahlreicher dieser Reden gäbe es viel zu sagen, allerlei Statisches auszuwerten. Doch das sprenge hier jeden Rahmen und wäre an anderer Stelle nachzuholen. Heute will ich hier ein Zitat von einem der Ordensträger, den ich bisher nicht kannte, zum Besten geben: Wenn Literatur definierbar ist als eine Sonderform der Sprache kann man auch von Sprache allgemein das sagen was Literatur tut: sie bewahrt den Riß auf. Wobei Heißenbüttel in dem Zitat den Riss zwischen den Gebildeten und Ungebildeten anspricht.
Erweiternd könnte man sagen, dass zwischen dem Menschen und der Welt immer schon ein Riss bestand. Und die Dichter, und ihre weiblichen Gegenstücke, eben in der Lage sind, diese Risse zu erkennen. Jedoch erfassen sie diese nicht nur, sondern sind auch fähig sie zu beschreiben, sie aufzuzeichnen und aufzubewahren. In diesem Sinne ist die Literatur eben ein Archiv der Erscheinung von Rissen in der Welt, die sich manchmal zu Spalten verbreitern, wie in einem Meer aus Eis, in das wir unsere literarischen Äxte schlagen. Und die Spalten weiten sich zu Abgründen, in die wir ohne Sprache, ohne Schrift, letztlich ohne Literatur verdammt sind, hinabzustürzen.
20.211.114:0.943 Zum Archiv
Die Einsamkeit der Welt geht immer von den Eltern auf die Kinder über.
20.211.112:0.850 Zum Archiv
Ihre Mittagsjause bestand aus frischem Gemüse, Salat, Brot, Käse ein wenig Wurst, frisches Obst. Was der Mensch so braucht, um bis zur Kaffeejause durchzuhalten. Zwei Teller, Besteck, Gläser. Ein Krug Wasser. Ein letzter Blick, ob alles an seinem Ort war und dann rief er seine Frau zu Tisch.
Mahlzeit, sagte sie beim Betreten der Küche.
Mahlzeit, erwiderte er.
Das Radio lief. Die Gespräche waren belanglos.
Komm, sagte sie danach und nahm ihn bei der Hand.
20.211.109:1.851 Zum Archiv
Er nimmt den Sessel, setzt sich darauf, rückt nahe an den Tisch heran. An seinen Füßen trägt er Straßenschuhe. Schlüssel, Hut und Jacke griffbereit. Seine rechte Hand streicht über die Tischplatte, als wolle er ein Tischtuch glätten. Mit der Linken zieht er die Linien der Maserung nach.
Nur das Ticken seiner Wanduhr ist zu hören. Deutlich. Er liebt Uhren mit einem Werk, das ihm die Zeit vorhersagt. Das verleiht seinem Tag Wichtigkeit, wenn er hören kann, wie die Zeit sich an seinem Leben abarbeitet. Der Sekundenzeiger vorrückt.
Sein Blick fällt auf das Ziffernblatt. Zehn Sekunden. Fünf Sekunden. Ein letzter Atemzug. Der Gong der Uhr schlägt. Einmal. Zweimal. Er erhebt sich, geht in den Flur. Das Ticken begleitet jeden seiner Schritte. Ein Metronom der Moderne.
20.211.107:0.954 Zum Archiv
Ich sehe mich weder als Historiker noch als Germanisten, auch wenn dies die beiden Berufe sind, die ich erlernt habe, und als Lehrer übe ich diesen erlernten Beruf auch aus, denn meine Studien haben mich in die Lage versetzt, das Erlernte auch zu lehren. Meine eigentliche Profession aber war, ist und wird immer sein: Schriftsteller. Und in seltenen Momenten, wenn einer wie ich alleine ist und von den Schultern seiner geistigen Vorfahren steigt, den Riesen, den Dichtern und Denkern, den lebenden und den toten, denen er alles verdankt, fühlt er sich ihnen zugehörig, angekommen, heimisch und nennt sich selbst Poet.
Manchmal, in stillen Stunden, wenn alles schweigt und die Welt zur Ruhe kommt, beschäftigt mich die Frage, wie ich zum Schreiben gekommen bin, was mich dazu befähigt könnte, ein Riese unter Riesen zu werden. Tausenderlei Wege gibt es, um sich in die Welt der Riesen einzuschreiben. Für manche ist es einschneidendes Erlebnis, für manche ein Zufall. Bei mir war es ein Auftrag, den mir eine Lehrerin erteilte. Mein Schreiben kommt nicht aus dem Lesen, sondern aus der Notwendigkeit meine schulischen Schreibarbeiten zu kultivieren. Doch rasch erkannte ich, dass Schreiben eine Möglichkeit ist, mit der Welt in Kontakt zu treten, mich ihr und den in ihr hausenden Menschen zu erklären, mich, den Unsichtbaren, den Unbrauchbaren in der Welt sichtbar zu machen. Kaum hatte ich zu lesen begonnen, am Ende meiner Pubertät, begann ich auch zu schreiben. Lesen blieb für mich aber immer nur ein Mittel zum Zweck des Schreibens.
Lesen ist für mich ein unfassbar anstrengender Vorgang. Man muss sich in eine erlesene Welt vertiefen, um sie verstehen zu können. Zu verstehen, wie andere die Welt und ihre Erscheinungen sichtbar und fassbar machen. In diesem Sinne ist Schreiben für mich immer ein Vorgang gewesen, der sich an einen fiktiven Leser wendet, um das eigene Lesen zu umgehen. Schreiben ist also eine Tarnung, um meine Lesefaulheit legitimieren zu können. Aber im Grunde habe ich nie für mich geschrieben, sondern immer für die anderen, immer für Leser, die ich dachte, dass sie eines Tages aus dem Dunkel ins Licht treten würden und ich durch sie zu erkennen wäre.
Nun wer mich verstehen will, muss nicht nur in die Untiefen und Schrecknisse meiner Texte hinabsteigen, sondern auch den mühseligen Weg des Lesens gehen, denn kein anderer Weg führt zu mir, als über die Schrift, denn ich bin einer von denen Günther Anders einst sprach, ein Weltfremder, der sich nur durch sein Schreiben sichtbar machen kann, der in die Welt eintritt, in dem er sich in ihr einschreibt, in ihr ausschreibt. Kein anderer Eintritt in die Welt ist für einen wie mich möglich, denn das Sprechen hilft nicht, weil nur wenige das von mir Angesprochene in Erwägung ziehen.
Das Lesen bringt mich der Welt näher, hält mich ihr gegenüber aber gleichzeitig auf Distanz. Und je älter ich werde, desto weniger Zeit bleibt mir, um mich sichtbar zu machen, denn das will ich, sichtbar werden, in einer Welt aus Unsichtbaren. Warum ich im Licht stehen will und nicht im Dunkeln bleiben kann, ist eine andere Geschichte und muss zu anderen Zeiten geschrieben werden. Aber vor die Wahl gestellt, ein Buch zu lesen oder eines zu schreiben, werde ich mich immer für das Schreiben entscheiden, denn nur so kann aus mir, dem Zwerg, eines Tages doch noch ein Riese werden.
20.211.106:2.004 Zum Archiv
Seine Frau war der Ort, an dem er lebte.
Und er war die Zeit, die sie umgab.
20.211.105:1.615 Zum Archiv
In meiner Jugend fühlte ich mich allem, was den Geruch des Existentialismus vor sich hertrug, verbunden. Den französischen Autoren Camus und Sartre, auch Beauvoir, den Russen, vor allem Dostojewski, später kam dann Kafka hinzu, Beckett und als mein Lesen stärker von einem politischen Impuls getragen war, fand ich Brecht, später dann noch Haushofer und irgendwann wurde ich auf Bachmann aufmerksam gemacht. Ich will nicht verhehlen, dass ich sie nicht immer verstanden habe, aber ihre Frankfurter Vorlesungen trafen den Kern von dem, was Schreiben für mich bedeutet.
All diese Autoren und ihre Literatur haben mich gefesselt, weil sie nie das Utopische aufgegeben haben. Eine Geographie, die wie keine andere Teil der Literatur sein sollte, denn ohne einen Utopus gehen die Literatur und damit ihre Autoren und letztlich auch ihre Leser verloren, in denen von ihnen hervorgebrachten Welten. Fehlen die Orientierungspunkte, die Wegweiser auf den Pfaden des Erzählens und das lyrische Ich muss ziellos zwischen den Versen wandern und wenn dann einmal zwei von den verlorenen aufeinander treffen und ins Gespräch kommen, plappern sie mehr, als sie sprechen.
Alle, die ich gelesen habe, deren Texte tiefe Schneisen in mein Leben geschlagen haben, die mich heute noch leiten, haben auf eine Alternative verwiesen, auf ein Mögliches, Kommendes, Gewolltes und sich nicht mit dem Machbaren, Vergangenen und Gesollten aufgehalten.
20.211.104:0.802 Zum Archiv
Wir sind die Unbrauchbaren. Wir sind die Überlebenden, in einem unerklärten Krieg, den das Kapital seit Jahrhunderten im Namen der bürgerlichen Aufklärung gegen die Menschen führt.
Wir sind verschont geblieben von den Zumutungen der digitalen Feudalherren und ihren politischen Schergen, die in den Parlamenten der Welt herumlungern, weil wir uns ihrem Gebot des Kaufens und Verkaufens nicht widersetzen.
Wir eigenen uns nicht zur Ware und haben keinen Warenwert.
Wir sind nicht nur gescheitert, sondern unser Scheitern wird auch nicht als ein solches anerkannt. Uns wurde das Anrecht auf Versagen von Kindheit auf verweigert.
Wir sind nicht nur die Unbrauchbaren, sondern auch die Vergessenen. Unsere Körper treiben durch die Institutionen der Demokratie, aber unsere Gehirne dämmern der senilen Selbstvergessenheit entgegen.
Keiner ruft nach uns, also haben wir keine Berufung. Keiner stellt uns Fragen, daher haben wir keine Antworten. Keiner fordert uns auf zum Kampf, deshalb leisten wir keinen Widerstand.
Wir sind die Unbrauchbaren.
Wie sind die Überlebenden.
Wir sind die Boomer.
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