20.210.130:1.638 Zum Archiv
Irgendwann hat man sich die Welt zurechtgezimmert, haust in ihr wie in einer schäbigen Baracke. Und zieht ein Sturm ins Land, rüttelt er an ihrem Dachgebälk und Türverschluss. Pfeift durch alle Ritzen und man hofft und betet, er möge doch das eigne Haus verschonen, sich um die Häuser der anderen, der moralisch Zweifelhaften kümmern.
Und legt sich der Sturm nach seinem Tobssuchtsanfall hin und schläft seinen Rausch zwischen Bergen und Tälern aus, bettet seinen Kopf ins feuchte Moos der Wälder, dann tritt man aus dem Haus unter den von Wolken frisch befreiten Himmel und denkt, so schlecht ist die eigne Wohnstatt nicht und verlebt sich darin noch weiter Jahr und Tag. Die Glücklichen unter uns bleiben verschont, doch wer von uns hat das Glück denn schon gepachtet?
20.210.127:0.903 Zum Archiv
In mir wohnt eine unbändige Sehnsucht nach dem Sommer, dem Licht, dem Schilf, durch das eine leichte Brise weht, nach einem blauen Himmel, der so hell ist, dass seine Glut beinahe alles zu verschlingen droht, was lebendig ist und doch ausreichend Wollust übrig lässt, für einen nie enden wollenden Genuss.
Ohne das satte Grün und den Gesang und dem Wispern in den Wipfeln an lauen Abenden im August wäre ich längst aus dieser Welt geschieden. Ich wäre noch nicht tot, denn für ein frühes Lebensende fehlte mir von jeher ausreichend Mut, aber lebendig dürfte mich dennoch niemand nennen.
Der Sommer ist das Utopische in mir, der Winter das Dsytopische, das in mir die Verzweiflung nährt und selbst der Schnee, der alles zudeckt, was mich beschwert, hat alle Fröhlichkeit und Heiterkeit der frühen Kindertage längst verloren, das Lachen und Toben, das sich Abends durch vielfältige Spuren zeigte, wenn wir alle längst geborgen in unseren Betten lagen und der Nacht entgegenfieberten.
20.201.225:1.453 Zum Archiv
Es ist nicht das Winterwetterwehen, das einem die Seele beschwert, sondern was sich unter der Last des Schnees verbirgt, wenn ein Frühling droht, auf Wiesen letzte Geheimnisse zu entflammen; wenn an einem Sturmtag der ungeheuerliche Schmerz der langen Nächte hörbar wird; wenn alles Verrottete und Verweste sichtbar zu Tage tritt und die Haut der Unersättlichen bedeckt, wie ein sanfter Sommerwind, der sich auf das Land wirft, es betört, besteigt und das Fruchtlose in Frücht wandelt, von denen wir zehren, während eines Winterwetterwehens.
20.210.120:1.751 Zum Archiv
Ein Zitat von Goethe von 1828, das auf den ersten Blick verlockend zeitgemäß erscheint: Man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.
Doch da regt sich sogleich Widerspruch in mir gegen das erste Universalgenie deutscher Sprache, denn das mit der Wahrheit ist nicht so einfach, wie Goethe sich das damals gedacht hatte. Die Wahrheit ist ja kein rares Gut in unserer Welt, sondern die bloße Übereinstimmung des Denken eines Menschen mit dem Denken anderer und diese Alltäglichkeit wäre ja nicht der Rede wert, wenn sie nicht immer herhalten müsste, wenn es um einen ideologischen Edkampf geht. Es gibt eben persönliche wahrheiten genauso wie es kollektive gibt. Darum halte ich mich nicht an die Wahrheit, sondern an das Wissen, an das Erkennen und die daraus resultierende Erkenntnis.
Das Problem mit der Wahrheit ist, dass eine so wahr ist wie jede andere. Es gibt immer jemand, der eine Wahrheit für wahrer hält. Schon allein der Komperativ des Adjektivs enthüllt die Absurdität von Wahrheit und Wirklichkeit, denn als absolute Begriffe sind sie eigentlich nicht steigerbar und dennoch hantieren wir mit ihrer Steigerung, denn es gibt scheinbar Wahrheiten in dieser Welt die wahrer sidn als andere. Und manchmal in Momenten gesitiger Umnachtung erscheint selbst mir die Realität wirklicher als die Wirklichkeit.
Und weil es nicht die eine Wahrheit geben kann, ist ihr Gegenbegriff ja auch nicht der Irrtum, denn er ist eine gutgemeinte Fehlinterpretation der Welt und ihrer Erscheinungen. Nein, der Gegenbegriff zur Wahrheit ist die Lüge, denn sie ist eine bewusste Irreführung, eine Verdrehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, um den eigene Wahrheitsanspruch in der Welt zu stützen.
Die Krux an der goetheschen Aussage ist, dass sie vorgibt, es gäbe so etwas wie das Wahre und das Gute und das Schöne in Absolutum. Dies war meines Erachtens einer der zentralen Irrtümer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, das mit der Behauptung einer absolut gültigen philosophisch begründbaren Wahrheit akademische Fächer etabliert wurden, die wir heute Geisteswissenschaften nennen. Und obwohl wir als aufgeklärte Bürger*innen wissen, dass Wahrheit nicht immer mit Geisteskraft zu tun hat, führen wir sie dennoch gerne ins Feld, wenn ideologische Endsiege errungen werden müssen.
20.210.114:0.917 Zum Archiv
Es war ein Tag im Frühling, als er begann, seine Wege abzuschreiten. Jeden Tag zur gleichen Stunde. Was ihm begegenete als Mensch, veränderte täglich sein Antlitz. Was ihm begegnete als Landschaft, glich sich zu jeder Stunde. Die Häuser und Gehöfte gaben nichts preis, was nicht für Publikum bestimmt war. Jedoch an einem sonnigen Frühsommertag, der Regen prasselte auf seinen Hut, enthüllte sich ein Haus in besonderer Weise. Eines das hügelabwärts lag, dem er sich immer von Norden her näherte. Das erste, was aus dem diffusen Licht hervortrat, war eine Holzhütte, von der Straße einsehbar, am entferntesten Punkt des Anwesens. Darin ein Schatten. Er nahm ihn zur Kenntnis und ging seines Weges.
Tags darauf erblickte er den Kirschbaum, der sich durch die leuchtenden Früchte vom Hintergrund abhob. Am dritten Tag nahm er das Haus wahr, das an der Holzhütte und dem Kirschbaum hing. Und so ging es weiter. Tag für Tag entdeckte er ein Stück von allem. Und irgendwann, am Rande zu den ersten Sommertagen, schälte sich aus dem Schatten, der durch den Garten des Anwesens streunte, eine Frau ungewissen Alters. Doch in diesen ersten lauen Sommertagen blieb er auf seinem Pfad und die Frau hing an ihrem Garten. Das erste Mal, dass sich sein Gehen und ihr Dasein kreuzten, fand in einer Tropennacht statt, in der sein Körper erhitzt vom Schlaf nach Erleichterung trachtete und sich in seinen Träumen die Frau von ihrem Garten löste, Sprache, Alter und Wesen annnahm und ihre Unlesbarkeit verlor.
Bereits am nächsten Tag verspürte der Mann eine naturwidrige Leichtigkeit, als er auf das Anwesen zuströmte. Er wagte einen Blick in seine Geräumigkeit und ließ sich dennoch nicht verleiten, inne zu halten, zu rufen, zu fragen sich dem Traum, der sich in ihm aufgetan hatte, hinzugeben. So verging die Zeit und der Sommer ohne ein Wort, ohne eine Geste und es blieb ihm nur eine unbändige Zuversicht, die ihn in den Herbst trug, in die Stunden, da die Föhnstürme übers Land zogen und die noch nicht ausgereiften Früchte von den Buchen und Eichen zerrten.
Und an einem dieser letzten, warmen Tage, bevor der Winter ins Land einzog, stand der Krischbaum ohne Laub, die Holzhütte war verschlossen und das Anwesen leer. Tag für Tag hoffte er, die Frau sei nur erkrankt und würde alsbald ihr Tagwerk wieder aufnehmen. Doch von Spaziergang zu Spaziergang wurde das Licht der Tage diffuser, der Garten blieb verwaist. Die Welt zog sich in die Gehöfte zurück, die Wiesen leerten sich und die Tiere wurden im Stall geborgen.
Eines Tages, der Nebel fiel wie ein düsteres Vorzeichen aus dem Himmel und breitete sich über die Landschaft wie ein dunkler Schleier, hatte der Mann zu seinem gewohnten Strom der Beständigkeit zurückgefunden. Er war längst vorbei am Garten, in dem vermutlich noch ein Kirschbaum stand und aus dem ein Wispern wie ein Echo dem Mann hinterherlief, an ihm vorbei und vorauseilte und in weiter Ferne verklang.
Der Mann hielt einer Erinneung nachspürend inne, lauschte und wandte sich um, mehr noch, kehrte um, nahm ein Stück des Weges in die Richtung, aus der er gekommen war. Das Wispern schwoll zu einem Flüstern an. Das Flüstern kam zur Sprache. Und mit jedem Abschnitt des Weges, den er in umgekehrter Richtung zurücklegte, verwandelte sich die Sprache in einen Körper, aus dem eine Frau hervortrat, die am Zaun des Anwesens lehnte, in dem ein Krischbaum stand und eine Holzhütte zu erahnen war.
Die Frau fragte ihn: Sind sie der Spaziergänger?
Kann sein, antwortete der Mann.
Meine Schwester sprach viel von Ihnen in ihren letzten Tagen.
Und so erfuhr der Mann, dass die Hüterin des Anwesens, des Gartens und des Kirschbaumes ihn ebenso gesehen hatte, wie er sie und ebenso gezögert hatte, ihn anzusprechen, wie er gezögert hatte, sie anzusprechen. Und er wurde an jedem Tag der folgenden Tage in ihr Leben eingeführt als wär es ein Bericht, der in tausend Nächten zu erzählen wäre. Jeden Tag verweilte er länger am Gartenzaun und selbst während der kältesten Winterstürme erwartete die Schwester ihn, in der sich eine Frau mit Geschichte abzeichnete. Und so kam es, dass Frühling wurde und das Leben ihn ergriff und er die Witterung der Kirschblüten in sich aufnahm.
20.210.112:0.818 Zum Archiv
Das neue Jahr ist in die Tage gekommen, hat sich schon nach wenigen Stunden eingelebt und ausgeatmet, als wäre es so alt wie die Zeit selbst. Irrt durch die Ereignisse der Welt, sucht das Niedagewesene, das Mögliche, das Unerreichte und findet sich dort ein, wo es in den Stunden vor der Wende schon zu stehen kam.
Der Neuigkeiten gibt es zahllose, da werden Gebäude mit Symbolcharakter erstürmt, von in Tierhaut gehüllten Menschen, bewaffnet mit dem, was Horvath so trefflich als Bedingung genannt hat, um sich unendlich und unsterblich fühlen zu können: der Dummheit. Und als sich die Rauchschwanden verzogen hatten, kehrten wir alle wieder zu dem Sterben zurück, das uns vor Jahrestagen noch unmöglich schien, dem alltäglich Sterben, zu lebendigen Toten in weißen Laken, die bäuchlings hinsiechen und dann in Särgen heimlich und verstohlen abtransportiert werden, verscharrt in geweihter und ungeweihter Erde und schon am nächsten Tag kräht kein Hahn mehr nach ihnen, weil immer nachgestorben wird und bei Sonneaufgang die nächsten Leichensäcke die Seuchenhallen verlassen.
Alles hat sich geändert, wie eh und je, und doch ist alles beim Alten geblieben. Selbst wir sind noch die gleichen wie in jenen Stunden, da wir gute Vorsätze fassten, um sie Augenblicke danach über Bord zu werfen, um zuzusehen, wie sie auf die offene See des Schicksals hinaustrieben, wo sie sich am Horizont der Zeit verflüchtigten.
20.210.111:1.728 Zum Archiv
Alles Bisherige war nur Auftakt, Vorspiel und Brücke, die es nun zu überschreiten gilt, von einem Leben zum anderen, vom Begehren zum Lieben, vom Schatten des Möglichen ins Licht des Erhofften. Es ist Zeit den Mann ohne Eigenschaften wiederzuerwecken, ihm Würde und Anstand zurückzugeben, in diesen so unwirtlichen Zeiten, von denen wir alle nur das Boshafteste und Schrecklichste erwarten.
20.210.110:0.712 Zum Archiv
Es ist Zeit, sagen sie. Und ich stimme zu, vorbehaltlos. Es ist Zeit, ein literarisches Experiment zu wagen. Eines, wie es Franz K. so meisterlich beherrschte. Einen Menschen in die Welt werfen, wovon Sartre so trefflich sprach, wenn er von der Existenz des Individuums schrieb. Einen Menschen in die Mitte der Welt setzen, in ein Aufwachen, in eine Manege, ihn anlanden lassen an unsicherem Gestade und sehen, wohin die Zeit ihn treibt, durch eine Nacht, ein Schneetreiben, eine Finsternis. Beobachten, ob es ihm glingt, anzukommen; ob er scheitert, oder eingeht in das, was wir gemeinhin Leben nennen.
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