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Marie Langer
31. 8. 1910 Wien | Buenos Aires 22. 12. 1987



Mexico | Ein halbes Exil

Marie Langers Glaube an die revolutionäre Linke bzw. an eine revolutionäre Psychoanalyse, sowie ihr politisches Engagement für diese Ideen zwangen sie 1974 zum zweiten Mal, ihre Heimat zu verlassen. Sie wählte Mexico als Exilland, wo sie bereits 1939 beinahe hinverschlagen worden wäre, denn Mexico weist ebenso wie Argentinien eine lange, wenn auch nicht so intensive deutsch-österreichische Immigrationsgeschichte auf, die einen Höhepunkt mit Beginn des Spanischen Bürgerkrieges fand, als die mexicanische Regierung ihre antifaschistische Haltung durch militärische Hilfestellungen bewies. Nach der Niederlage der Republikaner/innen stellte das mexicanische Generalkonsulat in Marseille bis 1942 eines der letzten Schlupflöcher für spanische, aber auch deutsche und österreichische Flüchtlinge nach Südamerika dar, denn Gilberto Bosques, Varian Frey und die Altösterreicherin Luisa Fittko waren die Eckpunkte eines rettenden Fluchtdreiecks, die finanzielle Mittel, Reisedokumente und den Weg über den als F-Route bekannten Schmugglerpfad durch die Pyränen bereitstellten. (Kloyber 1987:38) Es ist also kein Wunder, daß das von revolutionären Traditionen geprägte Mexico 1938 als einziges Land formellen Protest beim Völkerbund gegen den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich einlegte. Diesem diplomatischen Protest folgten aber auch aktive Hilfeleistungen für emigrierende und flüchtende Österreicher/innen. Eine Folge war eine offensive Asylpraxis. Die Einwanderungspolitik der mexicanischen Regierung kam dank einer positiven Bewertung der republikanischen Regierungspolitik des sozialdemokratischen Wien der zwanziger Jahre durch einige revolutionäre mexicanische Intellektuelle zustande: unter ihnen José Vasconceles (1920-24 Minister für Bildungs- und Kulturpolitik) oder Vincente Lombardo Toledano (Präsident der Gewerkschaft CTM).

Die österreichische Exilgruppe konnte auf Grund dieser positiven Emigrationsbedingungen sehr bald eine eigenständige österreichische Organisation entwickeln, die nicht nur gegenüber der deutschen antifaschistischen Gruppe autonom blieb, sondern sich auch gegen die monarchistischen und nationalsozialistischen Verbände durchsetzen konnte, denn die ARAM (Acción Republicana Austríaco de México) war die einzige von der mexikanischen Regierung anerkannte Vereinigung österreichischer Antifaschisten, was das Auftreten der Österreicher in Mexiko sehr vereinfachte. (Kloyber 1987:55) Diese positive Stimmung gegenüber österreichischen Intellektuellen bei gleichzeitiger Systemöffnung 1970 unter dem Präsidenten Luis Echeverría machten es Marie Langer 1974 wohl auch so einfach, sich in die mexicanische Gesellschaft einzufügen und beinahe nahtlos an ihre in Argentinien begonnene Arbeit anzuknüpfen. Mit Beginn der Militärdiktaturen in Lateinamerika Anfang der siebziger Jahre wurde Mexico neuerlich zu einem Zentrum des kulturellen-antifaschistischen Exils, diesmal aber nicht des europäischen, sondern des lateinamerikanischen.

Die Exilerfahrungen Marie Langers von 1939 und 1974 unterschieden sich jedoch wesentlich von einander. Bei ihrer Ausreise aus der Tschechoslowakei stand Europa vor dem Zusammenbruch, viele der Genoss/inn/en und Freund/inn/e/n waren bereits tot oder in alle Himmelsrichtungen verstreut und die Nationalsozialist/inn/en hatten ihr jede Lebensperspektive genommen - zu bleiben hätte den Tod bedeutet. Bei ihrer Flucht aus Argentinien mußte sie ein voll intaktes Beziehungsgeflecht zurücklassen, in familiärer, beruflicher, ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht, sie fühlte sich vielleicht sogar heimischer als im Europa der dreißiger Jahre. Doch die antikommunistische Hetzpolitik der argentinischen Militärs machte sie diesmal zu einer wirklichen Exilantin: Ich wählte Mexico, sowohl aus familiären als auch aus beruflichen Gründen. In Mexico lebte schon damals eine meiner Töchter, die ganz kurz vorher Jaime del Palacio geheiratet hatte (...). Ich kannte viele mexikanische Kollegen, die vor Jahren nach Buenos Aires gekommen waren, um sich als Psychoanalytiker auszubilden, und auf der letzten Reise hatte ich viele neue Kontakte mit Teilnehmern des Zirkels geknüpft...Zu alldem kann man hinzufügen, daß ich schon beinahe nach Mexiko gekommen wäre, als wir Europa verließen, und daß ich vor ungefähr fünfzehn Jahren als Touristin in diesem Land gewesen war, das mich wie viele Ausländer fasziniert hatte. (Langer 1986:167)

Diese Faszination ging für Marie Langer sicher auch von der revolutionären Geschichte Mexicos aus. Mexico war neben Kuba, Nicaragua und Chile das einzige Land in den Amerikas, das im 20. Jahrhundert den Versuch unternahm, einem revolutionären Prozeß durch Institutionalisierung zur Permanenz zu verhelfen. So begegnete Marie Langer im Alter noch einmal dem Traum ihrer Jugend: der Revolution. Doch im Gegensatz zu ihrer Jugendzeit, wo die Revolution eher eine Hoffnung, eine Art Glaubensgrundsatz darstellte, konnte sie nun aktiv an der Arbeit in postrevolutionären Ländern teilnehmen, vorerst in Mexico und später in Nicaragua, wo sie ihre Sicht einer revolutionären Psychoanalyse in die Tat umsetzte. Das politische System in Mexico befand sich zur Zeit von Marie Langers Ankunft in einer Partizipations- und Legitimationskrise. Die Partido Revolucionario Institucional (PRI) wachte seit der Revolution (1910-1920) über die Institutionalisierung des revolutionären Potentials. Seit den sechziger Jahren schlitterte die PRI aber in eine Krise, die im Ärzt/inn/e/nstreik von 1965 und den Student/inn/enunruhen von 1968 manifest wurde und schließlich in einem Blutbad auf der Plaza de las Tres Culturas einen Höhepunkt fand. Diese Krise war Folge der zunehmenden Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von der Einheitspartei PRI, vor allem des Mittelstandes und der Jugend, die mit einer einheitlichen Massenpartei nicht mehr zurechtkamen, da sie infolge von Modernisierungserfahrungen dem Massenstatus zu entwachsen begannen.

Trotz allen sozialen, ökonomischen und institutionellen Problemen, die Mexico in die Krise brachten (die im übrigen bis heute andauert), ermöglichte dieses Land Marie Langer, ihre Arbeit fortzusetzen, die sie in Argentinien begonnen hatte, einerseits psychoanalytische Ausbildung zu betreiben und andererseits die Psychoanalyse und ihre therapeutischen Möglichkeiten (...) den nicht vermögenden Klassen zugänglich machen zu können. Vorerst galt es aber, sich in Mexico zurechtzufinden, sich mit der Situation, geflohen zu sein, vertraut zu machen. Marie Langer fühlte sich für ihr Weggehen lange Zeit schuldig, auch wenn Bleiben den sicheren Tod bedeutet hätte: Ich reiste ab, aber lange fühlte ich mich schuldig und schämte mich, daß ich nicht bis zum Ende meiner Präsidentenzeit geblieben war. Doch als eine Genossin mir das in einem Brief vorwarf, antwortete ich ihr: vielleicht bin ich vorzeitig gegangen, aber zweifellos mußte ich früher oder später gehen. Und ich hatte recht. (Langer 1986:166-168)

Marie Langer ließ sich in Mexico City nieder und nahm schließlich - nach einer gewissen Eingewöhnungszeit - ihre berufliche Tätigkeit wieder auf. Ihre rasche Eingewöhnung wurde durch drei im Land vorherrschende soziale Bedingungen erleichtert. Die erste, eher allgemein gesellschaftspolitische weiter oben bereits angesprochen, bestand in der positiven Haltung der mexicanischen Regierung gegenüber österreichischen Linksintellektuellen.

Die zweite begünstigende Bedingung lag eher im persönlichen Bereich, denn kurz vor ihrer Ausreise waren bereits ihre beiden Töchter nach Mexico-City übersiedelt. Auch die Anwesenheit von Maria und Ignacio (Nacho) Maldonado, mit denen sie nach einiger Zeit einen gemeinsamen Häuserkomplex bezog, den Maria Maldonado angekauft hatte, erleichterte ihr die Anfangszeit im Exil. Der Häuserkomplex bestand (nach einem Umbau) aus drei Gebäuden, die in U-Form angelegt waren und in deren Mitte sich ein Schwimmbecken befand. In einem Haus wohnten die Maldonados, in einem zweiten Marie Langer und das dritte diente ihr und Ignacio Maldonado als consultorio (Praxis). Marie Langer kaufte ihr Haus jedoch nicht, sondern mietete sich nur bei den Maldonados ein, da sie nichts mehr für sich haben wollte. (Kappelmacher 14/10/1992) Daß sie kein Eigentum mehr erwerben wollte, werte ich durchaus als Willen, sich nicht an Mexico zu binden, auch wenn eine Rückkehr nach Argentinien in absehbarer Zeit unmöglich gewesen wäre. Den Ort, die Atmosphäre und ihre Lebensumstände in Mexico schilderte mir Bernd Münk wie folgt: Das war wie eine Insel in einem, so hab ichs erlebt, in einem Stadtbezirk, wo rund herum der Verkehr brandete auf großen Straßen, und dann ging es so um kleine Ecken rum und dann warst du plötzlich inmitten von Häusern und großen Mauern mit einer Straße, die zweigeteilt war, mit einem Graben in der Mitte, wo sicherlich in Regenzeiten Wasser floß und einem kleinen Brückchen darüber. Es hatte dann schon etwas Verspieltes auch, diese kleine Steinbrücke über die man gehen konnte. Und als ich hinkam, saß Mimi da in der Toreinfahrt. Und man sah überhaupt nichts von den Häusern, es gab schon Häuser drumherum, aber es war die Toreinfahrt, davor dieses Mittelstück mit dem Graben und relativ grün, also etwas unwirklich in dieser Gegend, ich hatte nicht vermutet, das da zu finden. (...) Das Faszinierende war dieses riesige Tor (...), in dem Mimi saß und uns im Taxi erwartete. Es machte den Eindruck, und wir haben dann auch darüber gesprochen, das war eine Mauer und ein Tor, die die Reichen vor den Armen schützte, in der Vergangenheit und man könnte auch sagen in der Gegenwart. Mimi und Nacho wohnten also hinter diesem Tor als geschützte Reiche, ganz klar. (...)
Ich glaub, daß sie nicht so viel verdient hat, wie wir Analytiker hier verdienen, und sie hat auch sicher nicht so viel verdient wie ähnlich reputierte Analytiker in Mexico verdienen. Die gehören, wenn sie zu den Reichen gehörte, zu den Oberreichen, vermute ich mal. Aber sie hat doch so ausreichend verdient, daß sie dort leben konnte, und daß sie eine Haushälterin haben konnte, wobei das halt, glaube ich, für mich als Europäer ganz schwer einzuschätzen ist, weil ich kann mir so eine Haushälterin nicht leisten, obwohl ich glaube, daß ich mehr verdiene. Das sind halt die sozialen Verhältnisse. (...) Wo es soviel Armut gibt, sind die Leute also auch ganz billig als Haushälterin zu bekommen. Und das hat sie gehabt, und das war gut, daß sie das hatte, und sie hat das auch sehr bewußt gesehen, daß sie damit gegenüber den Menschen, die da um die Häuserblocks herum wohnten, privilegiert war. Gleichzeitig war sie in dem Sinne keine reiche Frau, wieder ja. Ich weiß nicht, ob sie sich ein teures Auto hätte leisten können, vielleicht nicht. Brauchte sie aber auch nicht. (...) Für mich war es eine kleine Insel in dieser fürchterlichen Stadt, in dieser abgasverseuchten Stadt, war es eine kleine Insel da hinten drin, und es war zwar nicht riesengroß, aber man hatte das Gefühl, es gibt hier einen kleinen Park, in dem man rumlaufen kann, in dem man sich entspannen kann, wo Sonne rein kommt, wo Luft ist. Also das hat was für mich auch Befreiendes, aus dieser Verkehrsenge rauszukommen, in diese Insel rein. Und ich stellte mir vor, hier kann man leben, hier kann man arbeiten und schreiben und nachdenken und Freunde treffen und so
. (Münk 19/5/1992)

Neben diesen privaten und umgebungsbedingten Anknüpfungspunkten half ihr bei der Eingewöhnung aber auch, daß sie ihre in Argentinien begonnene Arbeit in Salud Mental fortsetzen konnte. Dies führt mich zur dritten Bedingung, die ihr eine Anpassung und Integration in das mexicanische System erleichtert hatte, diesmal auf der beruflichen Ebene. In Mexico gab es voll intakte psychoanalytische Gruppen, deren Mitglieder teilweise von Marie Langer in Buenos Aires Ende der fünfziger Anfang der sechziger Jahre analysiert worden waren. Marie Langer profitierte sicherlich auch von der lebendigen psychoanalytischen Szene, die ihre Lehranalysand/inn/en in den siebziger Jahren in Mexico-City etabliert hatten.


Auch in Mexico waren die Ereignisse des Jahres 1968 nicht spurlos an den psychoanalytischen Organisationen vorübergegangen. Das große Interesse an der Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg steht ein wenig im Gegensatz zu der geringen Resonanz, die die freudsche Psychoanalyse vor 1945 fand. Die Beschäftigung mit der Psychoanalyse blieb auf Einzelpersonen oder intellektuelle Zirkel beschränkt, wie z.B. José Torres Orozco. Er war es, der sich im Jahre 1922 als erster Mexikaner (soweit wir wissen) mit den Schriften Sigmund Freuds befaßte. Ich nenne diese Rezeption ‚bescheiden’, da sie eigentlich keinen Widerhall in der akademischen oder kulturellen Szene Mexikos fand und eher als singuläres Phänomen betrachtet werden muß. (Parámo-Ortega 1992:27) Für die späte Rezeption der Schriften Sigmund Freuds auf breiterer Ebene führt Raúl Parámo-Ortega mehrere Gründe an: die Sprachbarriere, die Dominanz der französischen Kultur, spärliche Kontakte mit der deutschsprachigen Welt und die Widerstände der Psychiatrie. Bis auf das Argument mit den spärlichen Kontakten würde ich ihm zustimmen, wenn er sagt: Die Psychoanalyse in Mexiko ist, das muß einmal festgestellt werden, eine besondere, um nicht zu sagen merkwürdige Mischung aus der nordamerkanischen, französischen, argentinischen und englischen Psychoanalyse. (Parámo-Ortega 1992:29-30) Die mexicanische Psychoanalyse hat also im wesentlichen zwei Entstehungszweige: den nordamerikanischen und den argentinischen. Auch in der Gruppe der späteren Gründer/innen der Asociación Psicoanalítica Mexicana (APM) verlief diese Zweiteilung, denn viele Mexikaner reisten (...) in die USA; der Rest ging nach Buenos Aires, der damaligen südamerikanischen Metropole der Psychoanalyse; ab 1952 kehrten die ersten von ihnen zurück. Eine Studienreise nach Europa, nach Frankreich etwa, war damals eine absolute Ausnahme, geschweige denn nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz; wobei natürlich die schwierige Sprache eine Rolle spielte, aber auch (gerade im Fall von Deutschland) die spürbare Agonie als Folge von II. Weltkrieg und Nationalsozialismus. (Parámo-Ortega 1992:71-72) Seit dem Jahr 1952 begannen sich die Heimkehrer/innen zu organisieren und 1957 wurde die Gruppe als APM von der IPV auf dem 20. psychoanalytischen Kongreß in Paris anerkannt. Doch bereits zehn Jahre später kamen auch in Mexico Zweifel an der starren Struktur der APM auf, die sich ja an den Vorgaben der IPV orientierte. Vor allem die geringe Fähigkeit die Psychoanalyse als Instrument der Kulturkritik zu begreifen und die Vernachlässigung der Gegenübertragung nährten diese Kritik. Neben der Sociedad Psicoanalítica Mexicana (SPM), die von Fromm Schüler/inn/en geleitet wurde, war der Círculo Psicoanalítico Mexicano (CPM) für die dissidenten APM-Mitglieder interessant, da dort vor allem Psycholog/inn/en in der Überzahl waren und dessen Mitglieder der sinnvollen Tradition folgten, immer Kontakte mit anderen Disziplinen zu suchen und aufrechtzuerhalten.

Dieser kurze Exkurs in die Geschichte der mexicanischen Psychoanalyse sollte zeigen, warum sich Marie Langer, als sie 1974 nach Mexico emigrierte, nicht der APM, sondern dem CPM anschloß, wo sie Ausbildungsfunktionen übernahm. Aber aus den unterschiedlichsten Gründen hat sich Langer nicht ausschließlich beim Círculo engagiert. Ihr breites Interessenspektrum, ihre Begeisterung für das Lehren und ihr Engagement für den Feminismus brachten es mit sich, daß sie in einer Vielzahl verschiedenster Tätigkeiten an der Fakultät für Psychologie der Nationaluniversität, der UNAM in Mexico-City, engagiert war. Sie arbeitete als Analytikerin in ihrem Haus, versuchte Freund/inn/e/n und Verwandte um sich zu sammeln, wie sie es schon in Buenos Aires tat, indem sie ihr Haus zum Zentrum ihrer Arbeit und Familie machte, und hielt auch den Kontakt zu exilierten argentinischen und chilenischen Analytiker/innen aufrecht. Auch an der Universität konnte sie wieder tätig werden, denn sie wurde Professorin für Fachausbildung in klinischer Psychologie. Zusätzlich supervidierte sie unentgeltlich psychoanalytische Therapeut/inn/en in einigen Institutionen. Gleichzeitig wurde sie Ehrenmitglied des mexicanischen Tiefenpsycholog/inn/enkreises und der mexicanischen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie. Für diese vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten war sie Mexico sehr dankbar, obwohl sie sich trotz ihres zwölfjährigen Aufenthaltes nie als Mexicanerin sondern immer als Argentinierin fühlte.

Erika Danneberg Sie war sehr dankbar Mexico gegenüber, durchaus kritisch was die politische Situation betrifft, also auch die Situation in Mexico, aber dem Land sehr dankbar und hat sich auch nicht allein gefühlt, dort. Es gab ein so großes lateinamerikanisches Exil in Mexico - und gibts noch immer - und die haben sehr bald eine Gruppe (...) gegründet, in Solidarität mit allem was sich da an Kämpfen abgespielt hat in der Zeit, also nicht nur mit dem was mit den Argentiniern passiert ist, sondern auch mit den Uruguayos, den Guatemaltekos, El Salvador war damals noch nicht so brisant. (...) Natürlich Chile auch. Sie war also recht gut integriert, dort. (...)
Sie war auch eine Frau, die sich unheimlich gut, mit einer unglaublichen Vitalität integriert hat in ihrer neuen Situation. (...) Ich meine, sie hat sich nie als Mexicanerin gefühlt, sie hat sich durchaus immer als Argentinierin gefühlt
.
Raimund Bahr Aber als Österreicherin nicht mehr?!
E.D. Das war auch eine sehr zwiespältige Sache. Sie war sehr froh mit mir Deutsch reden zu können. Wir haben eigentlich nur Deutsch geredet, wenn wir zu zweit waren. Schon deswegen, weil mein Spanisch nicht so gut war wie ihr Spanisch, aber auch deswegen, weil sie gern Deutsch geredet hat. Sie hat eine Menge Kindheitsgeschichten erzählt, wenn wir zu zweit waren. Sie hat gesagt: Was ihr alles wieder einfällt, wenn ich da bin. Und wie nahe ihr Wien kommt. (...) Sie hat sehr gerne jüdische Witze erzählt und jüdische Witze gehört und gesagt: ‚Wie schön es ist, wenn du da bist, dann ist jemand da, der die Witze versteht, das verstehn sie hier doch nicht.’ Witze kann man ja nicht übersetzen. (...)
Und ich weiß, wie sehr sie sich gewünscht hat, noch einmal die Berge zu sehen - die österreichischen. Ich bin sehr froh, das sie das noch geschafft hat, in dem Sommer vor ihrem Tod, im Frühsommer, im Mai
. (Danneberg 14/1/1992)

Wieder einmal zeigte sich ihre Fähigkeit neue Situationen, die andere in ihrer Tätigkeit gehemmt hätten, produktiv zu nutzen. Vielleicht hat aber auch ihre eigene Offenheit zu der raschen Eingewöhnung und einer derart positiven Annahme durch das Exilland beigetragen. Diese Offenheit drückt sich auch in ihrer Autobiographie Von Wien bis Managua aus, die sie 1981 abschloß. Ich möchte mich kurz mit der Entstehungsgeschichte dieses Buches beschäftigen, da sie mir bezeichnend scheint für Marie Langers Einstellung zum Leben und zur Arbeit.


Anfänglich hatte sie Bedenken, eine Autobiographie zu schreiben, die ihr frühes Intimleben entblößt. (Langer 1986:21) Kein Wunder, wenn ich mir vor Augen halte, daß die orthodoxen Analytiker/innen durch das Postulat der Neutralität ihre Unsichtbarkeit und Unantastbarkeit gegenüber den Analysand/inn/en wahren wollen (auch wenn dies nicht bewußt geplant war). Jedenfalls besteht der Verdacht, daß die Preisgabe zu vieler Geheimnisse über das Leben und die Arbeit von Psychoanalytiker/inne/n auf Seiten der Analysand/inn/en unangenehme Fragen provozieren und dadurch die Analytiker/innen in Bedrängnis bzw. Argumentationsnotstand bringen könnte. Dieses ängstliche Schweigen, das nur den Psychoanalytiker/inne/n und ihren Institutionen und den darin arbeitenden psychoanalytischen Eliten dient, hat Marie Langer dankenswerter Weise gebrochen, indem sie von ihren sozialen und politischen Erlebnissen erzählte und auch nicht davor zurückschreckte, von ihren ersten sexuellen Erfahrungen und Liebesabenteuern zu berichten. Damit machte sie sich zwar angreifbar, aber gab anderen auch die Möglichkeit, die Widersprüche und Konsequenzen ihres Verhaltens besser zu erkennen und half gleichzeitig, das Dogma der Unfehlbarkeit von Ärzt/inn/e/n und Psychoanalytiker/inne/n in Frage zu stellen. Mit der Enttarnung der psychoanalytischen Göttlichkeit reduzierte sie sich selbst und damit auch ihre Arbeit in der Psychoanalyse auf jenes menschliche Maß, das einerseits ihrem Leben und andererseits der Psychoanalyse jenes geheimnisvolle Dunkel raubt, das zu Verklärung und Mythologisierung führt. Für sie persönlich dürfte ihre Autobiographie aber auch eine Art Lebensbilanz darstellen: Meine Kindheit und Jugend habe ich in Österreich, meine reifen Jahre in Argentinien verbracht, und während meines Alters lebe ich in Mexiko. Ohne daß es mir noch auffällt, denke ich in gleicher Weise auf deutsch und spanisch und füge manchmal anschauliche Ausdrücke der jeweils anderen Sprache ein. Und wie gesagt - da ich bei Beendigung dieses Buches fast 70 wurde - war es für mich an der Zeit, über mich nachzudenken. Die Arbeit an diesem Buch hatte für mich den Wert einer täglichen Selbstanalyse. Ich konnte mich von außen in einer gewissen Objektivität sehen - wenn auch durch eine etwas narzistische Brille, aber das bleibt unausweichlich, weil es der Übertragung in der Selbstanalyse entspricht. (Langer 1986:20)

Mit dieser Selbstanalyse zeigt sie einige Mythen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, verschüttet aber gleichzeitig einige ihrer Lebenslinien und verschweigt vieles aus ihrer Vergangenheit, was eine mühsame Rekonstruktionsarbeit meinerseits notwendig machte. Sie gibt wenig über ihre Kindheit und Jugend preis und, wie schon an anderer Stelle erwähnt, konstruiert sie ihr Leben nicht aus der Sicht der Jüdin Marie Langer, sondern aus der der bürgerlichen Frau, die sich aus den Zwängen ihrer Klasse löst, um sich dem Marxismus und der Revolution zuzuwenden. Doch letztlich wiederholte sie in Argentinien, zwar in abgeschwächter Form und mit anderen Inhalten, den Lebensstil ihrer Klasse mit Hauspersonal, Landhaus und relativ hohem Sozialprestige, und sie ging mit ihrem Reichtum sehr selbstverständlich um. Nirgendwo in ihrer Autobiographie fand ich eine Thematisierung des Widerspruches zwischen ihrem Lebensstil und den Zielen, die sie in psychoanalytischer und marxistischer Hinsicht verfolgte. Das Buch liest sich wie ein ungebrochener Weg in Richtung Sozialismus (als wäre er eine Einbahnstraße), den sie in politischer Hinsicht konsequent gegangen ist, jedoch werden die Widersprüche, die sich daraus ergeben, kaum thematisiert. Ich wurde beim Lesen ihrer Autobiographie das Gefühl nicht los, daß sich hier eine Siegerin präsentiert, die manchmal vergißt, auf die erlittenen Niederlagen hinzuweisen. Und von diesem Mythos einer berühmten, linken Analytikerin, einer siegreichen Revolutionärin war auch in Argentinien einiges zu spüren.

Ich denke, daß sie mit ihrer Autobiographie, die für mich eine Bereicherung in den psychoanalytischen Selbstdarstellungen ist, ein wenig zu dieser Mythenbildung beitrug. Gerade dieses Siegen-wollen macht zwar Marie Langer menschlicher, nimmt ihrer Arbeit aber den pädadgogisch-politischen Wert, weil sie damit zu einer exzeptionellen Heroin wird, deren vorbildliches Leben unnachahmlich scheint. Erst mit der Entschlüsselung des Mythos, dem Aufdecken der Widersprüche wird Marie Langers Arbeit lebendig und nutzbar gemacht. Ihre widersprüchliche und zugleich aufregende Selbstanalyse vollzog sich also (wie schon zuvor viele ihrer Lebensabschnitte) öffentlich und gemeinsam mit anderen Menschen, denn mehrere Personen waren an der Entstehung ihrer Autobiographie beteiligt: ihre beiden Töchter Verónica und Ana, Enrique Ginsberg, Jaime del Palacio und Horacio Skornik.

Gut, die Marie hat eine Kapazität gehabt, die ich immer sehr bewundert hab, weil ich es keineswegs so gut kann. Sie konnte sich gut Gruppen finden, mit denen man zusammen was machen kann, das gehört dazu, zu dem sich gut integrieren können; und hat auch durchaus verstanden zu delegieren. Nicht gut genug, wie sich nach ihrem Tod herausgestellt hat, denn wie sie nicht mehr da war als Motor, ist das equipo auseinandergefallen. Aber ich hab gesehen wie viel - auch das Memoriabuch - zustande gekommen ist, wo sie sehr vieles halt einfach erzählt hat und das hat halt wer aufgenommen, aufgeschrieben und bearbeitet. (...) Sie hat wahnsinnig viel angeregt, aber auch verstanden, andere Leute anzuregen, daß sie was mittun, weitertun. Aber offenbar nur so lange als sie da ist. Kann man auch nicht sagen, machen halt andere was anderes. (Danneberg 14/1/1992)

Diese gemeinsame Arbeit an gemeinsamen Projekten war Teil ihres Lebens. Es war für sie immer eine schmerzliche Erfahrung, wenn sie durch politische Umstände dazu gezwungen wurde, von diesen Menschen und der damit verbundenen Arbeit Abschied zu nehmen. Auch von ihrer Autobiographie konnte sie sich nur schweren Herzens trennen, doch sie tat es im richtigen Augenblick, im Jänner 1981, denn bereits im September desselben Jahres begann ihr letztes, revolutionäres Abenteuer. Doch bevor ich auf ihre Arbeit in Nicaragua näher eingehe, möchte ich mich noch mit einer Legende beschäftigen, die ich immer wieder zu hören bekam: jenes Treffen zwischen Marie Langer und Fidel Castro im Jahre 1985, bei dem Marie Langer den Staatschef Kubas überredet haben soll, die Psychoanalyse auf der Insel freizugeben. Kurz zur Vorgeschichte: Es gab, bedingt durch die europäische Emigration vor und während des Zweiten Weltkrieges, in Lateinamerika eine starke Bewegung linker Psychoanalyse. Aus dieser Bewegung entstand auch die Idee, sogenannte encuentros (Gespräche von Intellektuellen) abzuhalten. Vorbereitet wurden diese Treffen von dem argentinischen, damals im kubanischen Exil lebenden Psychoanalytiker Juan Carlos Volnovich, der dort seit zehn Jahren für eine Anerkennung der Psychoanalyse kämpfte. In der Folge entwickelte sich aus diesen Gesprächen die Idee, einen Kongreß zum Thema Marxismus und Psychoanalyse zu veranstalten, und Fidel Castro versprach den Kongreß, Über die theoretischen, ideologischen und methodologischen Fragen der Psychoanalyse in Lateinamerika, der vom 30.6.-4.7.1986 an der Universität in Havanna stattfinden sollte, zu unterstützen. (Bauleo 1988:175) Zu diesem Kongreß war auch Marie Langer eingeladen, und sie traf dort mit dem kubanischen Präsidenten Fidel Castro zusammen. Er empfing Marie Langer in einem kleinen Zimmer und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. Sie sprachen über seine Begegnung mit Freuds Werken im Gefängnis, über ihren Lebenslauf, dessen Stationen Fidel Castro bekannt waren. Er war sehr erfreut, die berühmte, argentinische Psychoanalytikerin endlich kennenzulernen. Schließlich brachte der ebenfalls anwesende Juan Carlos Volnovich das Gespräch auf ihre Kochkünste, was Fidel Castro sehr überraschte und Marie Langer etwas verärgerte, da sie über Politik sprechen wollte, Fidel Castro nun aber immer wieder auf die Herstellung von Apfelstrudel zu sprechen kam. (Volnovich 9/11/1992) Letztlich konnte Marie Langer Fidel Castro von der Nützlichkeit der Psychoanalyse überzeugen, und daß sie durchaus eine revolutionäre Seite haben kann und nicht nur Ausdruck einer bürgerlichen Ideologie ist.

Nach dem Gespräch fuhren Marie Langer und Juan Carlos Volnovich im offiziellen Präsidentenwagen ins Hotel zurück, was großes Aufsehen verursachte. Am nächsten Morgen rief Marie Langer Juan Carlos Volnovich an, um ihn zu fragen, ob ihr gestriges Treffen auch nicht nur ein Traum gewesen sei. (Volnovich 9/11/1992) Diese Darstellung von Juan Carlos Volnovich zeigt die Bedeutung, die dieses Treffen für Marie Langer gehabt haben muß, denn sie traf auf einen der großen Heroen der sozialistischen Bewegung, eine Legende, einen echten Revolutionär, einen, der den von ihr in ihrer Jugend verehrten russischen Revolutionärinnen verwandt war. Auf ihre Verantwortung für die Veränderung in Fidel Castros Meinung gegenüber der Psychoanalyse angesprochen, antwortete Marie Langer ihrer Freundin Erika Danneberg, daß die zehnjährige Vorarbeit von Juan Carlos Volnovich verantwortlich sei für diesen positiven Wandel. Trotz dieser Bescheidenheit dürfte aber auch ihr Gespräch mit Fidel Castro nicht unwesentlich gewesen sein, da sie den Ruf einer verläßlichen Marxistin in Lateinamerika genoß. Und dieser Ruf ermöglichte ihr auch eine kostenlose Behandlung ihrer bereits auftretenden Krebssymptome mit Interferon, das ihr auf Anweisung von Fidel Castro zugute kam. Und sie konnte sich dadurch beim Wiederaufbau Nicaraguas, nach dem Ende der siegreichen sandinistischen Revolution, noch einmal auf die richtige Seite der Geschichte (...) stellen. (Langer 1986:9)


Die Geschichte der nicaraguanischen Revolution ist ebenso lang wie blutig. Der Kampf richtete sich gegen den Somozismus, also die Diktatur der Familie Somoza, die mit der Machtergreifung von Anastasio Somoza I García begann. Nach der Ermordung Augusto Cesar Sandinos (1934) und der Niederschlagung seiner Revolution war es für die Somozas und ihre Anhänger/innen ein leichtes, mit Hilfe von polizeistaatlichen Methoden und mit Billigung bzw. aktiver Unterstützung der USA das Land unter ihre Kontrolle zu bringen und diese auch bis Mitte der siebziger Jahre beizubehalten. Über die Rolle der USA sagt Marie Langer: Nicaragua liegt mir sehr am Herzen, es liegt uns allen in Lateinamerika, in der Dritten Welt am Herzen. Denn das Verbrechen, um dessentwillen Ronald Reagan das kleine Nicaragua so hartnäckig verfolgt, besteht in dem bisher erfolgreichen Versuch, aus dem Neokolonialismus auszubrechen und in Freiheit über die eigenen Rohstoffe und Kapazitäten zu verfügen. Die Menschen in Nicaragua maßen sich an, ‚Herren ihrer eigenen Geschichte und Architekten ihrer Befreiung‘ zu sein, wie es in der sandinistischen Hymne heißt. Wenn es ihnen gelingt, auf diesem Vorhaben zu bestehen und es fortzusetzen, werden sie Reagan zufolge ein gefährliches Beispiel für unseren ganzen Kontinent abgeben. (Langer 1986:16)

1960 kam es zur Neugründung einer Widerstandsbewegung, die sich auf marxistisch-leninistische Traditionen und Sandinos antiimperialistischen Kampf berief, mit dem Namen Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN). Ihre mangelnde Verankerung in der Bevölkerung und ihre internen ideologischen Differenzen machten Erfolge aber nur in bescheidenem Ausmaß möglich. Bis 1976 blieb der Konflikt auf der Ebene eines Guerillakrieges, und erst durch die Spaltung der FSLN in drei Untergruppen, in die Guerra Popular Prolongada (GPP), die Tendencia Proletaria, beide in der marxistisch-leninistischen Tradition stehend und in die Terceristas, wurde dieser Kampf auch in den Städten stärker verankert. Vor allem Daniel und Humberto Ortega sowie Victor Tirado sollten die entscheidende Kraft innerhalb der Terceristas werden, deren politische Zielsetzung (...) sich weit mehr an den historischen, wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten Nicaraguas zu orintieren als an marxistischen Theorien. Sie traten für eine Kooperation mit dem oppositionellen Bürgertum ein und wollten Somoza durch einen gemeinsamen Aufstand aller Bevölkerungsteile stürzen. Die Terzisten lehnten die Sozialismusvorstellungen der beiden anderen Tendenzen ab und waren auch bereit, mit den USA zusammenzuarbeiten. (Dietrich 1986:132)

Die Terceristas machten aus einem Guerillakrieg der Bergvölker eine breite Volksbewegung und führten gemeinsam mit anderen Gruppen eine Entscheidung und den Sturz des Somoza Regimes herbei. Doch dieser blutige Bürgerkrieg dauerte noch zwei Jahre. Am 16.Juni 1979 wird schließlich die Junta de Gobierno de Reconstrucción Nacional (JGRN) gegründet, die den künftigen Wiederaufbau leiten sollte und in der die Terceristas ebenso vertreten waren wie Konservative (z.B. Violeta Chamorro) und Unternehmer/innen. Die Erfolge der FSLN zwangen Somoza zur Flucht nach Florida, und die JGRN zog am 19.Juli in Managua ein.

Der Wiederaufbau des Landes, an dem sich seit 1981 auch Marie Langer beteiligte, gestaltete sich schwierig und war ein langdauernder Prozeß, der bis heute, nach der Abwahl der Sandinist/inn/en, noch nicht (und wohl auch nie) beendet ist (werden wird). Die Diktatur Somozas hatte ein vollkommen ausgeblutetes und desolates Land zurückgelassen. Verstärkt wurden die Zerstörungen der Diktatur durch ein Erdbeben 1972, das weite Teile des Landes verwüstet hatte. Dem Statistical Yearbook for Latin America 1978 zufolge und nach Angaben der United Nations Economic Comission for Latin America, Juni 1979, beträgt die Lebenserwartung 52,9 Jahre. Pro 1.540 Einwohner gab es einen Arzt, auf tausend Einwohner kamen 2,2 Krankenhausbetten, ein Prozent des Bruttoinlandproduktes wurde für das Gesundheitswesen, 2,3 Prozent für das Erziehungswesen ausgegeben. 42,5 Prozent der Bewohner sind Analphabeten, 47,9 Prozent der Beschäftigten haben keine Schulbildung. In den ländlichen Gebieten haben 11 Prozent der Bevölkerung Zugang zu Trinkwasser, sechs bis sieben Prozent haben Strom. 31 Prozent der städtischen Bevölkerung haben Kanalisation, 70 Prozent der Kinder leiden an Krankheiten infolge von Unterernährung. (Gauger 1980:13)

Dementsprechend vielseitig mußten die Reformen sein, die nach der Revolution durchgeführten wurden. Dazu zählten die Bodenreform, eine Neustrukturierung des Gesundheits- und Sozialwesens, das während der Diktatur praktisch nicht existierte, und eine umfassende Alphabetisierungskampagne. Die Umsetzung all dieser Reformen war nur möglich durch Beteiligung internationaler Hilfsorganisationen an diversen Projekten sowie durch Mitarbeit freiwilliger Helfer/innen aus dem Ausland (vor allem Europa), die in Arbeitsbrigaden aktiv waren, z.B. in der Kaffeeernte oder dem Gesundheitsdienst. Auch in Mexico wurde ein solches Projektteam aus Ärzt/inn/e/n und Analytiker/innen unter der Leitung von Sylvia Bermann gebildet, die von Nicaragua eingeladen worden war, ihre Erfahrungen im CDI und der CTSM an der medizinischen Fakultät von León umzusetzen: Nun wäre aber eine einzelne Person, ein einzelner Lehrer allein, niemals imstande gewesen, derart vielfältige Kenntnisse und Techniken aufzubringen. Aber wir sind keine Einzelpersonen, wir sind ein Team mit dem etwas umständlichen Namen ‚Eqipo de Salud Mental Internacionalista Mexico-Nicaragua’ - ‚Arbeitsgemeinschaft der Internationalisten für Salud Mental Mexiko-Nikaragua’. Wir sind zwölf Fachkräfte, Psychologen und Ärzte, alle mit psychoanalytischer Ausbildung. Wir sind Argentinier und Mexikaner, einer von uns ist Chilene. (Langer 1986:14)

Und dieses Team wurde von Sylvia Bermann, Marie Langer und Ignacio (Nacho) Maldonado koordiniert. Durch die Vielzahl der verschiedenen Analytiker/innen und Therapeut/inn/en konnte die Gruppe in vielen Fachbereichen tätig werden. Bei ihrer Arbeit in Nicaragua - auch schon in Mexico - ging Marie Langer von den Bedürfnissen und realen Gegebenheiten der Menschen aus - die klassische Couch hatte in Nicaragua keine Chance.

Raimund Bahr Was mich im Zusammenhang mit Marie Langers Arbeitsweise interessiert hätte - ich weiß nicht, ob Sie etwas darüber wissen - über das setting, d.h. wie sie gearbeitet hat. Ich meine, hat sie die Leute noch auf die Couch gelegt?
Erika Danneberg Nein. In Nicaragua ganz sicher nicht, und auch nicht in Mexico; in den letzten Jahren hat sie sicher überwiegend sitzende Therapien gemacht. Gegenüber. Und auch im timing sehr variabel. Sie hat auch ganz kurze Sachen gemacht, sehr gezielte und sehr kurzfristige, und wirklich versucht, mit dem was sie psychoanalytisch kann und weiß, Interventionsformen zu finden, die unter völlig anderen kulturellen Bedingungen brauchbar sind. Ich mein, in Nicaragua kann man keine Menschen auf die Couch legen, das geht nicht. (...) Weitgehend richtete sie sich nach dem Patienten und der vorhandenen realen Situation.
Die G‘schicht mit den Guatemaltekos-Flüchtlingen kennen Sie wahrscheinlich. (...) Ihre erste Begegnung in Mexico, mit lateinamerikanischen Flüchtlingen, ich glaub, es waren damals Guatemaltekos, die ja endlos lange schon ihren Guerillakrieg haben, und da ist also eine Kontakfrau, eine compañera, zur Marie kommen, oder zur Sylvia Bermann, die damals auch in Mexico war und hat gesagt: ‚Wir sind illegal über die Grenze gekommen und viele Leute in sehr schlechter Verfassung und könnt‘s ihr uns helfen?’
Und Marie hat gesagt: ‚Wir werden schaun was wir machen können, wieviel Zeit gebt ihr uns denn, Monate, Wochen?’ Worauf die gesagt hat: ‚Tage, wir wollen alle wieder zurück.’ (...)
Na ja, dann kannst sagen, kann man nichts machen, ich bin eine Analytikerin, oder du kannst sagen, ich werd probieren, was ich machen kann, mit dem was ich weiß
. (Danneberg 14/1/1992)

Neben der ärztlichen und analytischen Praxis, Lehre und Theorie und der Ausbildung der zukünftigen nicarguanischen Ärzt/inn/en mußten aber auch alle notwendigen Arbeitsutensilien besorgt werden, wie z.B. Bleistifte, Papier und Bücher, da es an allem fehlte.

Einen weiteren wichtigen Aspekt der Arbeit Marie Langers - und des gesamten Teams - stellte die Fortsetzung der Betreuung von Sandinist/inn/en dar, die bereits in Mexico (Guatemaltkeos) begonnen hatte, und die sich auf die therapeutische Behandlung von psychischen Folgen durch Folter und Krieg bezog. (Migsch/Rainer 1985:104) Und in diesem Prozeß nahm vor allem die Gruppentherapie eine bevorzugte Stellung ein: Im allgemeinen treten wir für die Gruppentherapie ein, obgleich wir manchmal auch Einzeltherapien empfehlen. Aber wir haben nie daran gezweifelt, daß für Nicaragua, ein Land auf dem Wege der Veränderung, auf dem Weg zum Sozialismus, die Gruppe das angemessene Medium darstellt. Andererseits stehen wir heute kurz davor, von der Gruppentherapie zur Primärprävention und zu Gemeindepsychiatrie (psiquiatria comunitaria) überzugehen. (Langer 1986:15)

Die ärztliche, psychoanalytische Aufgabe war nur einer der Gründe, warum Marie Langer, damals bereits 71-jährig, zu diesem nicaraguanischen Abenteuer aufbrach. Ein anderer zutiefst persönlicher und politischer Grund war die Möglichkeit, sich - als nunmehr eingefleischte Lateinamerikanerin - für eine Sache einzusetzen, die einen neuen Weg zeigen konnte, so daß DER MENSCH wieder zum unverrückbaren Brennpunkt politischer Arbeit wird. (Dietrich 1986:283) Dietrich formuliert hier die Idee des Sandinismus, es könnte sich dabei aber durchaus auch um einen Leitsatz für Marie Langers Leben handeln. Wieder einmal stellte sich Marie Langer auf die Seite des Internationalismus, wie schon in Spanien, nur eben nicht an der Front, sondern in der Etappe nach Ende des Bürgerkrieges gegen Somoza, der schon bald gegen die von den USA unterstützten Contras wiederaufgenommen werden mußte. Vielleicht repräsentierte Nicaragua für Marie Langer aber auch jenes Gefühl, das sie in Spanien schon einmal erlebt hatte, einen Aufbruch in eine neue Zeit (die heute zu Ende geht), in einen gelebten Internationalismus, wo der Frau eine starke politische Position zukommt, und der ihr die Möglichkeit bot, all ihre Vorstellungen, die sie von Psychoanalyse, Feminismus und Marxismus hatte, in einem groß angelegten Projekt, in einem revolutionären Land umzusetzen. Darüber hinaus bot Nicaragua die einmalige Chance, sich im hohen Alter noch einmal für den Traum ihrer Jugend einzusetzen: die Revolution: Schau, es ist gar nicht schön, alt zu werden. Aber es ist unvermeidlich. (...) Es ist nicht schön, den körperlichen Verfall zu sehen. Man kann nicht sehr gut vorausrechnen. Ich weigere mich auch sehr, in das zu verfallen, was sonst alte Leute tun, nämlich nur in der Vergangenheit zu leben. (...) In Nicaragua bin ich absolut zeitlos. Und es ist so, als hätten wir den Spanischen Krieg nicht verloren, und ich wäre in Spanien im Wiederaufbau. Irgendwie ist das vielleicht so wie bei den Sterbas, da kann ich meine Jugend wiederfinden. Irgendwie schnappt dann etwas ein, sogar körperlich. Da hat ein Genosse von mir ein Foto gemacht in Nicaragua. Ich hab nicht einmal gewußt, daß er mich fotografiert. Ich hab einen Strohhut auf, als wir bei der Landverteilung sind, wegen der Sonne. Ich steh zufällig unter einem Plakat von Sandino. Ich schau da so triumphal und jung aus auf dem Bild... . Also: Wenn du was findest, was dir dafür steht, dann geht das Alter weg. (...) - du mußt etwas finden, was weitergeht. Aber es muß weitergehen... . (Langer 1986:279-281)

Marie Langer konnte das psychische Alter vertreiben, denn Nicaragua gab ihr die Möglichkeit, mit der Geschichte zu leben, in ihr eingeschlossen zu bleiben, etwas zur Zukunft beigetragen zu haben. Diesen Beitrag hat sie bis zu ihrem Tod geleistet, denn in den letzten beiden Jahren, als sie bereits von ihrer Krebserkrankung wußte, reiste sie dennoch jedes Jahr nach Europa, um für das Nicaraguaprojekt von Salud Mental zu werben.


Ihre Erkrankung führte schliesslich doch noch zu einer späten Rückkehr nach Argentinien, die sie lange hinausgezögert hatte, denn trotz der Demokratisierung (1984), der Wahl Alfonsins zum Präsidenten und den Prozessen gegen die Machthaber der Videla-Diktatur traute sie dem Frieden nicht. Seit 1985 hat sie immer wieder mit einer Rückkehr spekuliert, aber dann schien ihr die Lage doch zu unsicher, und sie blieb in Mexico (Danneberg 4/9/1991), denn letztlich war zuviel passiert, um verzeihen zu können. (Valk 19/5/1992)
Aus dem Exil heimzukehren ist immer schwierig, immer mit Ängsten verbunden und im Falle Marie Langers war es vielleicht die Angst, sich nicht mehr im selben Maße für das Nicaraguaprojekt einsetzen zu können, wie ihr dies von Mexico aus möglich gewesen ist. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, daß sie erst im Sommer 1987 nach Buenos Aires zurückkehrte, als an eine Weiterarbeit ohnehin nicht mehr zu denken war, und der Tod bereits vor der Tür stand.

Erika Danneberg Ja, sie hat Krebs gehabt. Am Schluß wars ein Tumor im Hirn.
Raimund Bahr Hat sie sehr gelitten am Schluß?
E.D. Eine Freundin, die den Sohn kennt, den Tomás, hat gesagt, sie hat am Schluß kaum Luft gekriegt, sie war ganz blau im Gesicht, aber das muß wirklich in den allerletzten Tagen gewesen sein. Ich glaube, daß sie sie sonst gut rübergebracht haben. (Danneberg 14/1/1992)

In der Stadt, die ihr zur zweiten Heimat geworden war, ist sie im Kreis ihrer vier Kinder ruhig gestorben. (Parin 1988:14)

Noch einmal hatte Marie Langer ihr Haus in der Calle Juncal zum Zentrum ihrer Familie gemacht. Dort starb sie am 22. Dezember 1987.
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[Zitierte Literatur] | [Abkürzungsverzeichnis]

eingestellt: 18.7.2020 | zuletzt aktualisiert: 18.7.2020
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