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Die Angst vor dem Verzicht
Überlegungen zum Jahrhundert der Völlerei



§1

Ein Gespenst geht um in Europa. Die Bürger suchen Schutz vor den Predigern der ökologischen Apokalypse bei den Vorbetern des Faschismus. Das Gespenst ist die geisterhafte Angst vor dem Verzicht. Vor dem Konsumverzicht. Als wäre Verzicht eine Zumutung. Überall in den Entwicklugsländern verzichten die Menschen wie selbstvertsändlich auf Konsumgüter, die den Menschen in der ersten Welt, in den sogenannten aufgeklärten und entwickelten Demokratien, im Überfluss zur Verfügung stehen. Wobei einschränkend zu sagen wäre, dass in diesen Ländern der Überfluss auch nicht allen zur Verfügung steht, aber zumindest einer breiten und ausdifferenzierten Mittelschicht, die die Mehrheit der Bevölkerung stellt.

Warum ist nun die Angst vor dem Verzicht im politischen Diskurs so präsent oder besser gesagt, warum ist die Warnung vor dem drohenden Verzicht in den Mittelpunkt vor allem eines liberalen, aufgeklärten Bürgertums getreten. Als wäre es ein Makel, Verzicht zu üben. Dabei hat die Einübung des Verzichts im aufgeklärten, christlichen Europa eine lange Tradition. Denken wir nur an die Mönchskultur, in der Askese eine bedeutende Rolle spielt. Auch die Kultur des Fastens ist eine Form des bewussten und gewollten, willentlich herbeigeführten Verzichts.

Wenn es sich jedoch um die apokalyptische Vorstellung einer "Welt ohne Mensch" handelt, dann ist Verzicht plötzlich etwas seltsam Irritierendes für die Bürgerschaft, die aus der Aufklärung hervorgegangen ist. Da fragt dann keiner mehr, ob Verzicht verünftig wäre. Da wird dann plötzlich danach gefragt, ob wir mit einer Kultur des Verzichts nicht die Grundfesten unserer ökonomischen Prinzipien, also des Kapitalismus, in Frage stellen und damit unsere erfolgreiche und über die letzten drei Jahrhunderte bewährte Lebensweise, die uns allen Fortschritt und Glückseeligkeit brachte und weiterhin verspricht.

Doch bei näherer Betrachtung wird doch klar, dass gerade diese Wirtschaftsform uns genau in das Dilemma gebracht hat, in dem wir derzeit stecken. Konsumverzicht führt unweigerlich zu Problemen im globalen Wirtschaftskreislauf. Die weitere Dynamisierung der durch technologische und mediale Möglichkeiten hervorgerufene Konsum allerdings könnte auch zu einer Klimaerwärmung führen, die uns letztlich die menschliche Existenz kosten könnte.

Was ist die Reaktion der meisten Menschen auf dieses Dilemma. Panik. Weltuntergangsstimmung. Angst. Doch Angst ist keine gute Ratgeberin in Zeiten von gesellschaftlichen Transformationsprozessen.


§2

Dass wir uns in einem solchen Transformationsprozess befinden, wird wohl kaum jemand bezweifeln, denn mittlerweile sind wir geübt darin, sie zu erkennen und zu bennenen, wenn sie uns begegnen.

Wir kennen sie aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als wir von einer Argrargesellschaft in eine Industriegesellschaft stürzten und mit diesem Sturz auch das Primat, das Vorrecht der Götter über die Menschen zu herrschen, verloren ging. Und an diesem Übergang standen Kant, Marx, Nietzsche und Kafka. Die aufgeklärten Bildungsbürger, die jedes Jahr aus den Gymnasien strömen, kennen und lieben ihre Schriften, weil sie uns erklären, was war und warum heute alles so ist, wie es ist.

Wir kennen sie aus dem 20. Jahrhundert, als wir aus einer analogen in eine digitale Welt stürzten und mit diesem Sturz auch das Primat, das Vorrecht des Menschen über seine Maschinen zu herrschen, verloren ging. Und an diesem Übergang standen Anders, Foucault, Luhman, Lem und wie sie alle heißen mögen. Mit deren Namen wir uns brüsten und kaum noch jemand kennt den Wortlaut ihrer Schriften, die uns erklären könnten, warum wir der Vernunft mehr trauen sollten als der Moral, den besonnen Denkern mehr zutrauen sollten als den panikstiftenden Rebellen und Politikern, die zuallerst handeln wollen und dann denken, die der Moral den Vorzug vor der Vernunft geben.


§3

Wir sollten uns in Frage der ökologischen Apokalypse aber an die Vernunft halten. Die Moral hilft uns gerade in apokalyptischen Zeiten nicht weiter, da sie keine Fragen stellt, sondern Antworten auf nicht gestellte Fragen findet. Doch eine Gesellschaft, die nicht mehr sucht, sondern findet, ist verdammt dazu den Rattenfängern zu folgen. In diesem Falle jenen von rechts und von links. Und die gefährlichsten davon sind jene, die die einfachsten Antworten auf nicht gestellte Fragen finden.

Brecht soll einmal geschrieben haben, zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. Das konnte man gelten lassen, in einer Zeit, als Menschen nicht genug zu fressen hatten, um den Tag zu überstehen. Die Moral der Politik war damals wie heute nichts weiter als der Versuch, die wahren Herrschaftsverhältnisse zu maskieren. Heute wäre zu schreiben: Zuerst kommt die Vernunft, dann die Moral.

Und um mit Anders, dem Günther, zu schreiben: Wir müssen die Konsesuenz der Konsequenz der Konsequenz unserer Handlungen abschätzen. Die kantsche Vernunft alleine ist zu wenig. Wir müssen uns überlegen, welche technologische und mediale Entwicklung wir betreiben wollen und welche Konsequenzen dieser Entwicklungen wir bereit sind, auf uns zu nehmen.

Was bedeutet es denn für unsere Zivilisation, wenn wir alle Veganer werden oder alle auf unsere Autos verzichten, unsere Handys, unsere Laptops oder unsere wöchentlichen Serien, die wir durch Streaming-Dienste konsumieren.


§4

Die Gesellschaft ist in einem neuerlichen Transformationsprozess begriffen. Und er geht einher mit dem Verlust des Primates, des Vorrechtes der Natur über die Kultur zu herrschen. Wir müssen anerkennen, dass es keine Rückkehr in eine intakte Umwelt gibt. Wir müssen anerkennen, dass mit der neolithischen Revolution, in der der Mensch vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer wurde, das Primat der Natur über den Menschen verloren gegangen ist. Diese Tatsache leugnen wir mit einer Vehemenz, die schon an Wahnsinn grenzt.

Wir können nicht zurück in die Natur. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Und wir sollten den Mut aufbringen, unseren Planeten in eine Kulturlandschaft zu verwandeln, auf dem Naturschutzzonen, die wir vernünftigerweise einrichten müssen, lediglich der Sauerstoffproduktion dienen. Die Natur um ihrer Selbstwillen zu schützen, ist eine moralische und religiöse Frage, keine der Vernunft.

Die Natur dient dem Menschen und wir sollten sie uns untertan machen. Doch wie jedes Herrschaftsverhältnis zwischen Herr und Knecht in einer gesellschaftlichen Katastrophe enden muss, wird auch die Herrschaft des Menschen über die Natur in einer Apokalypse enden, wenn wir nicht zu einem demokratischen Ausgleich zwischen den drei zentralen gesellschaftlichen Bereiche unserer Zeit gelangen: Ökologie, Anthropologie, Technologie. Natur, Mensch und Kybernetik.

eingestellt am: 29.12.2019 | zuletzt aktualisiert: 29.12.2019
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