20.231.230:0.829 Zum Archiv
Der Schlüssel, um Handeln im Deutschen adäquat ausdrücken zu können, ist das Modalverb nicht das Vollverb. Ein Verb wie gehen zeigt ja nur an, dass ein Mensch geht und dass dies im Grunde seine Natur sei, denn es ist seine Möglichkeit von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Natürlich könnte er auch ein Fahrzeug benutzen, dann würde er eben fahren oder er würde, wäre er ein moderner, eiliger Mensch, fliegen. Die Tätigkeit des Gehens selbst bedeutet ja nur, dass ein Mensch einen Fuß vor den anderen setzt. Und dieses Gehen unterscheidet sich von anderen Tätigkeiten wie dem Laufen durch die körperlichen Bewegungsabläufe. Es ist dem Verb also ein handlungsorientierter Sachverhalt eingeschrieben, der sich wissenschaftlich beschreiben lässt, der sozusagen physikalisch-mathematisch begründet werden kann. Wenn wir also den Begriff gehen in der Kommunikation nutzen, ist zu allererst eine Handlung gemeint, die sich unabhängig von ihrer zweifachen Modalität vollzieht. Die erste besteht in seiner näheren Bestimmung durch das Adjektiv Der Mensch geht schnell. Die zweite besteht in der näheren Bestimmung der Handlungsmotivation durch das Modalverb Der Mensch muss schnell gehen.
Was will ich damit sagen. Die Handlung selbst ist bedeutungslos, denn wir handeln immer, wie Günther Anders einmal so treffend feststellte. Es ist nicht die Handlung selbst, die wir befragen müssen, sondern ihre Modalität ist das, was aus einer alltäglichen Handlung eine politische, soziale, kommunikatve macht. Das mag für den Einzelnen völlig belanglos sein, wenn er seine tagtäglichen sich routiniert wiederholenden Handlungen vollzieht. Jedoch in der Begegnung mit anderen kommt der Modalität einer Handlung eine besondere Bedeutung zu, denn sie bestimmt nicht nur die Art und Weise wie eine Handlung ausgeführt wird, sondern auch die auslösende soziale Position, in der der Sprecher sich befindet. Durch das Modalverb wird der soziale, der gesellschaftliche, der politische Kontext sichtbar.
Ob das Gehen einem inneren Auftrag entspricht Der Mensch will|muss gehen oder er einen von außen gesetzten Auftrag erfüllt Der Mensch soll|darf gehen ist eben im Handlunsgkontext etwas völlig anderes. Und das wäre ja eben völlig belanglos, wenn die Menschen die Modalverben nicht manchmal willkürlich nutzen würden. Da der Mensch sich ja meist nicht sprachlich festlegen will, um sich eine verbale Hintertür offen zu halten, damit es am Ende sagen kann, so war das ja nicht gemeint, lässt er das Modalverb einfach weg und sagt Ich gehe. Und der andere antwortet Ok. Der eine meint aber Ich muss gehen, weil ich dich verlassen will, um ein neues, für mich besseres leben beginnen will, der andere hört Ich gehe, weil ich einkaufen gehen muss, damit am Wochende genug Nahrung zu Hause ist.
20.231.228:1.219 Zum Archiv
Mir wird oft vorgeworfen, ich sei überheblich, wenn es um die Sprache geht, besserwisserisch, klugscheisserisch. Ja, das mag sein. Aber da Sprache mir wichtig ist, wie ich schon des öfteren festgehalten habe, kann ich nicht anders, als das unpräzise Sprechen aufzuspüren, aufzudecken, um es umgehend zurückzuweisen. Sprechen und Schreiben sind für mich ja nicht nur Selbstzweck, Beruf oder Berufung, sondern es ist Sein, Dasein, Existenzberechtigung und Lebenssinn. In der Sprache bin ich heimisch. Aus ihr kann ich mich nicht zurückziehen, auch nicht für kurze Momente, denn es würde bedeuten, für Augenblicke aus mir auszureisen, dann fiele ich für diesen kurzen Moment ins Bodenlose. Und deshalb kann ich auch nicht verstehen, warum andere der Sprache so wenig Bedeutung zumessen, wo doch die innere Welt, der Zusammenhalt zwischen den Menschen aus nichts weiter als Grammatik besteht.
Das ist der einzige Grund, warum ich über Sprache nachdenke, ihren Aufbau, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen, weil ich immer schon zu den anderen gestrebt habe. Mir geht es nicht um korrektes Sprechen im Sinne der schulmeisterlichen Richtigkeit, sondern um das exakte und präzise Ausdrücken dessen, was ist und sein soll. Kein herumlavieren, kein unpräzises Herantasten an die Wirklichkeit, denn Sätze sagen immer etwas über den Zustand der Welt aus und über das in ihr sein Leben fristende Individuum.
Und in diesem Sinne dienen meine Überlegungen zum Sprechen, Schreiben und zur Sprache der Verortung meiner Selbst in der Welt, denn Sprechen kann die Welt verändern, in dem wir freundlich und mit Bedacht sprechen, geduldig nachfragen, wenn wir etwas nicht verstehen, um Missverstandenes in Verständnis zu verwandeln. Um eine solche Form der Sprache ringe ich täglich, auch wenn ich täglich darin versage. Aber es nicht zu tun, hiesse das utopische Potential von Sprache zu leugnen und mich selbst zu verraten und letztlich auch die, die um mich sind.
20.231.217:0.920 Zum Archiv
Seit frühester Kindheit ist meine Welt mit Sprechen ausgefüllt. Meine Eltern sprachen den lieben langen Tag und ich habe die Vorstellung, dass ihr Mundwerk auch nachts nicht stillstand. Keine Minute Stille. Sie ließen sich auch vom Sprechen anderer nicht abhalten. Sprachen manchmal gleichzeitig. Parallel. Durcheinander. Gewaltige Stimmen, die sich wie in einem Kanon übereinander legten, aber dennoch unterschiedliche Inhalte sprachen. So lernte ich früh darauf zu achten, wer was sprach, um herauszufinden, wann ich gemeint sein könnte und warum. Naturgemäß kam ich daher nicht viel zu Wort und mein Zugang zur Welt war einer des Zuhörens. Konsequenterweise begann ich erst mit dem dritten Lebensjahr zu sprechen. Um nicht zu verhungern und andere Grundbedürfnisse zu decken, entwickelte ich eine Zeichensprache, mit der ich mit den Menschen meiner unmittelbaren sozialen Umgebung kommunizierte. Und sie erfüllte ihre Zwecke, bis zu dem Tag, an dem ich den Kindergarten eintrat, der zu meiner Zeit noch mehr einer Aufbewahrungsstätte als einer früherzieherischen, pädagogischen Einrichtung ähnelte. Ich lernte fortan die Welt kennen, wie sie wirklich war, nicht wie sie mir zu Hause erschien. Und von da an musste ich sprechen und das Wort kam in meine Welt als fremde Sprache, als Weltvermittlungswerkzeug. Ich eignete mir das fremde Sprechen an, so gut es ging, aber die Missverständnisse zwischen mir und der Welt vergrößerten sich im gleichen Ausmaß wie mein Wortschatz zunahm: exponentiell. So verharrte ich drei lange Jahre im Zustand des entfremdeten Sprechens. Bis ich in die Schule eintrat.
Sechsjährig trat die Welt, und was in ihr an Grausamkeiten existiert, mit voller Wucht in mein Leben: mit Demütigungen, Verlusten, Todesahnungen. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, verwandelte sich das Sprechen, das fremde Wort in Schrift. Seit diesen frühen Tagen ist meine Leben auf einem Berg von Buchstaben gebaut. Langsam wie ich nun mal immer schon war, lernte ich nach dem Sprechen auch das Schreiben. Ein mühseliges Herantasten an ein Zeichensystem, in dem das einzelne Zeichen keinen Sinn ergab, sondern nur in ihrer Kombination ein Universum an Bedeutung eröffneten. Ein M sah ja letztlich nur aus wie ein Gebirge mit zwei Gipfeln und ein A stellte ein Zelt dar in dem man hausen konnte und das B ist ja nicht umsonst im Wort Busen und Brüste entahlten, denn legt man das B flach, ergibt sich daraus ein Gebirge aus Muskeln und Fettgewebe. Aber in der Kombination ergeben eben zwei M und zwei A ein Mama. Und von da an konnte ich nicht nur Mama sagen, sondern auch schreiben. Und damit veränderte sich meine Welt nachhaltiger, als ich je gedacht hätte.
Und wenn man mir damals, mir dem widerwillig Schreibenden erklärt hätte, ich würde eines Tages Lehrer für Deutsch und Schriftsteller werden, hätte das in meinen Ohren, und in den Ohren aller rund um mich, geklungen, als hätte man von mir gesagt, ich wolle Astronaut werden und zum Mond oder gar zum Mars fliegen, denn nur mit einer beinahe an Todesverachtung grenzenden Anstrengung erlernte ich die Schrift, mit Hilfe von vielen Stunden nachsitzen und wahrscheinlich auch ausreichend Drohgebärden durch mein familiäres und pädagogisches Umfeld. Als Schüler war ich sicherlich keine Offenbarung für meine Deutschlehrerinnen. (Es waren durchgehend Frauen. Kein Deutschlehrer in Sicht. Meine Sprache wurde von Kindheit an von Frauen geprägt. Eine andere Geschichte für einen anderen Tag.) Doch durch die Schule erlernte ich jenes Werkzeug, das mich heute in die Lage versetzt, nicht nur über die Welt zu sprechen, sondern auch darüber zu schreiben. Die Erkenntnis, dass die Welt aus Zeichen besteht und diese Zeichen nicht nur Wörter, sondern auch Schrift und damit Sprache ermöglichen, kam später, viel später.
20.231.216:1.622 Zum Archiv
Er liegt unter den Birken. Krieg, denkt er.
Den Splitter, der durch seinen Körper wandert, spürt er deutlich. Die Blätter rauschen, flirren im Sommerwind.
Es ist immer Krieg, denkt er. Selbst in friedlichen Zeiten ist Krieg. Irgendwo. Irgendwann.
Ein Splitter, eine zerfetzte Hüfte und dennoch lebt er. Wie durch ein Wunder hat er sich in den heutigen Tag gerettet. Und in der Stille dieses Sommerabends, inmitten des frischgeschnittenen, nach Wärme duftenden Grün spürt er, wie der Splitter sich einen Weg zu seinem Herzen bahnt.
Er weiß, dass er nur noch Stunden hat, bis der Krieg ihn doch noch zur Strecke gebracht haben wird. Ein Krieg, den er nicht gewollt hat, in den er eingerückt ist, weil es nicht zu tun, den sicheren Tod bedeutet hätte. Das Hadern hat ein Ende. Ruhe kehrt ein in ihn. Kein Lärm mehr in seinem Kopf.
Kein Donnern.
Kein Dröhnen.
Kein Schrei.
Nach dieser Stille sehnt er sich. Der himmelblaue Hintergrund dunkelt am Blättergrün nach. Er kann die Landstraße riechen, den Staub schmecken, die Explosionen hören. Die Dämmerung bricht herein. Über den Bergen. Gegen das Tal.
Abfallend.
Eilig.
Rötlich.
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