20.211.231:2.158 Zum Archiv

Zu Beginn seiner Spaziergänge waren seine Schritte unregelmäßig, doch ihre Beständigkeit, ihre Gleichförmigkeit nahm von Tag zu Tag zu, nahmen die Gerstalt an, die er ihnen aufzwang und es kam der Tag, an dem sie ihre ideale Länge und ihre festgelegte Zahl erreicht hatten, die er von nun an bei jeder seiner Promenaden zählen und damit die Entfernung zu seinem Wohnhaus abschätzen konnte. Abweichungen von diesem Idealmaß gab es nur noch an besonderen Tagen, die dann Zeugnis über sein psychisches und physisches Ungleichgewicht ablegten. Dies galt über alle Wetterlagen, alle saisonalen Schwankungsbreiten, Jahreszeiten, Wochentage und Festtagsriten hinweg. Irgendwann hatte sich die Schlagzahl seines Lebens in seinen täglichen Fußweg eingeschrieben.

Viertausenddreihundertdreiundachtzig Schritte waren es von seinem Haus zur Anhöhe, vorbei an der Gedenkkapelle, an den Höfen, die wie Perlen an einer Kette aufgefädelt in der Senke am Rand zum Abhang standen, dann musste er nur noch den Bauernhof queren, um zu seiner Wohnstatt zurückzukehren. Viertausenddreihunderdreiundachtzig Schritte.

Irgendwann synchronisierte sich diese Zahl mit der verstrichenen Zeit, die er benötigte, um seinen Weg zurückzulegen. Viertausenddreihundertdreiundachtzig Sekunden. Und irgendwann konnte er auch seine Gedanken mit der Zeit und der Distanz synchronisieren, mit den Worten, die ihm in den Sinn kamen, konnte Sätze dem Rhythmus der Zahl - und der Zeit - folgen lassen.

Vor Viertausenddreihundertdreiundachtzig Tagen hatte er begonnen, den Anstieg zur Anhöhe in Angriff zu nehmen. Anfangs war er zu unterschiedlichen Tageszeiten aufgebrochen, an Wochenenden - morgens, unter der Woche - abends, später dann, als es sein Arbeitsprozess zuließ - nachmittags. Egal ob es regnete oder schneite. Stürmte oder Hitzewellen über das Land fegten. Er ging seinen Weg. Manche nannten es stur. Für ihn war es die Ruhe, die aus der Konsequenz des Gehens entstand. Eine Art Meditation. In den Viertausenddreihundertdreiundachtzig Schritten, Sekunden und Worten war es ihm von nun an möglich, die Beständigkeit der Tage zu ergründen.


20.211.230:0.730 Zum Archiv

Es gibt Menschen, die sagen, ich könne nicht trauern, weil ich zu manchen Menschen, die mir etwas bedeuten müssten, keine Beziehung entwickeln konnte. Mag sein. Doch ich antworte: Wie könnte ich trauern, um den einen, aber nicht um die andere. Wie könnte ich trauern, um die eine, die in der Nähe gestorben ist, wenn ich gegenüber dem anderen, den in der Ferne Verstorbenen, gleichgültig bleibe.

Wie sollte ich also trauern, wenn jede Sekunde meine Empathie für alle Toten gefragt wäre. Wie soll ich trauern, wenn ich um die Nahen trauere und die Entfernten verleugne, denn auf diese Weise würde das Sterben der Nahen erhöht und das der Entfernten erniedrigt. Wir können ja nur trauern, weil wir eine Wahl treffen. Doch wenn es um die Trauer geht, möchte ich nicht wählen müssen. Deshalb habe ich mich für das Erinnern und gegen die Trauer entschieden.


20.211.229:1.826 Zum Archiv

Meine stoische Geduld bei Begräbnissen hat ihren Ursprung in meinem unbeugsamen Widerstand gegen die Sinnlosigkeit der Existenz.


20.211.227:0.908 Zum Archiv

Mein Zugang zur Welt ist politisch. Er ist geprägt von Vernunft, die ich mit Leidenschaft verteidige. Ich handle oft impulsiv, um in der Welt bestehen zu können, doch wenn ich sie betrachte, mich in ihr verorte, mit ihr kommuniziere, sie analysiere, meinen Kompass an ihr ausrichte, um durch die Untiefen der Existenz zu manövrieren, hat mich immer der homo politicus in mir gesteuert.

Manche sagen deshalb über mich, ich hätte ein emotionales Defizit. Ich wäre unfähig mit anderen mitzuleiden. Das mag sein. Aber das Mitleid ändert nichts an den gesellschaftlichen Bedingungen, die das Leid hervorgebracht hat, es zementiert die herrschenden Verhältnisse. Geteiltes Leid ist ja nicht halbes Leid, sondern doppeltes Leid. Was hat der Leidende von meinem Mitleid? Kann er sich dadurch Brot kaufen? Verschwinden dadurch sein Peiniger? Endet durch mein mitleiden der Bombenhagel, der täglich auf ihn niedregeht?

Die Zeit für die Trauer wird gekommen sein, wenn wir in der Lage sind, um alle zu trauern, die durch die herrschenden Verhältnisse tagtäglich umkommen. Die Zeit zur Trauer wird gekommen sein, wenn die Losung Büchners in die Tat umgesetzt wird, wenn in den Hütten Friede herrscht und wir den Krieg in die Paläste getragen haben.


20.211.219:1.305 Zum Archiv

Wie sagt der Rittermeister in Ödön von Horvaths Drama Geschichten aus dem Wienerwald: Wieder ein Jahr - bis zwanzig gehts im Schritt, bis vierzig im Trab, und nach vierzig im Galopp - (Stille.). Besser kann man es gar nicht auf den Punkt bringen. Vor allem diese Stille, denn alles, was danach kommt, ist Schweigen.

Seit meinen Vierzigern laufe ich im Galopp und auf diesem wilden Ritt hat sich meine Haut gegerbt, doch wetterfest ist sie dadurch nicht geworden. In meiner Rüstung zeigen sich erste Risse und in den Stiefeln hat sich schweres Wasser angesammelt. Mein Rücken ist krumm vom Auf und Ab durch die Täler und über die Berge und an manchen Tagen fühle ich mich wie ein alternder Revolverheld auf seinem letzten Ritt, nein, nicht in den Sonnenuntergang, das wäre ja zu tröstlich, sondern zum ultimativen Showdown.

Wie lange dieser Galopp noch gehen kann, ist schwer zu sagen, denn zu Horvaths Zeit konnte ein Rittmeister im besten Falle mit einer Lebenserwartung von fünfundsiebzig Jahren rechnen, im Schnitt lag sie bei sechzig Jahren. Heute könnte er als beamteter Rittmeister durchaus auf fünfundachtzig Jahre bringen. Heute galoppiert so ein Leben beinahe ein Vierteljahrhundert länger als vor hundert Jahren. Und wenn man diesen Ritt einigermaßen unbeschadet übersteht, kann man von Glück reden.

Bisher bin ich von groben Blessuren verschont geblieben. Äußerlich merkt man den ewigen Galopp nur bei genauerem Hinsehen. Doch innerlich hat das stetige Galoppieren seine Narben hinterlasssen, ist vieles in Unordnung geraten und manches ist zerrüttet, zerbrochen und unheilbar zerborsten.

Nach Horvath schreiten und traben wir heute die eine Hälfte des Lebens und galoppieren die andere. Das kann nicht ohne Folgen für den Einzelnen bleiben, und wenn es für den Einzelnen Folgen hat, wird auch das Gemeinwohl unweigerlich Schaden nehmen. Der stetige Galopp zeigt sich heute an allen Ecken und Enden unseres Gemeinwesens. Die Zerrüttung der menschlichen Beziehungen, das Zerbrechen des gesellschaftlichen Zutrauens in die eigene Wirkmächtigkeit und das Zerbersten allen vernünftigen Denkens schreitet voran mit jedem Jahr, in dem das Pferd des Lebens weiter durch die Mühsal der Ebenen galoppiert.


20.211.217:1.550 Zum Archiv

Wenn einer stirbt, dann ist es Zeit Abschied, zu nehmen, sagen die Menschen. Doch in welcher Form wir dies tun, bestimmen wir selten selbst. Trauer wird angeordnet, ist rituialisiert, eine eingeübte Tätigkeit, von der wir von Kindesbeinen an hören und sehen und lesen, wie man es richtig macht. Selbst das Trauern an sich, ist vorgeschrieben, wird erwartet, wir eingefordert. Wer sich widersetzt, wird als emotionslos, unempathisch, seltsam, ja sogar als unsolidarisch gebrandmarkt. Diese kollektive Vorstellung von der Art und Weise wie zu trauern ist, führt dazu, dass selbst jene Menschen, die von den Bildern der Schrecknisse in der Welt normalerweise vollkommen unberührt bleiben, von der Trauer um ein Individuum hinweggespült werden. Dabei gäbe es soviel, um das es sich zu trauern lohnen würde und doch sind viele von uns vor allem dann ergriffen, wenn einer von uns geht, der uns nahe stand.

Doch wäre es nicht angemessener, das Leben zu feiern, anstatt auf Friedhöfen herumzulungern. Was hat wohl Kafka geschrieben im Angesichts des Todes seiner Mutter? Ich weiß es nicht. Was Camus zum Tod einer Mutter schrieb, ist überliefert, in seinem Buch Der Fremde, der mit folgenden Worten beginnt: Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Und im zweiten Absatz steht der Satz: Nach der Beerdigung aber wird alles seine Richtigkeit haben und einen offiziellen Anstrich bekommen.

Damit ist zweierlei gesagt. Erstens: Tag und der Ort des Todes sind für die Trauer bedeutungslos, denn wir alle sind morituri, also Todegweihte, küftig Verstorbene von Anbeginn. Nur Zeitpunkt und Ort sind uns noch nicht bekannt. Ausgelöst wird die Trauer ja eben erst durch die Bekanntgabe von Ort und Zeit des Ablebens. Solange gelebt wird, wird nicht getrauert, da denkt man sich, ist ja noch da, der Mensch. Niemand antizipiert den Trauerfall, deshalb trifft der Tod die Menschen immer unerwartet. Eine seltsame Lebensweise, wo das offensichtliche erst zur Kenntnis genommen wird, wenn es sich in der Welt materialisiert. Und das ist das zweite, das Camus uns mitteilt: Erst durch die offizielle Bekanntgabe, durch das Beerdigen, unter die Erde bringen, Verscharren, erhält das Gestorbensein seine Weihe, seine Richtigkeit, seine Bedeutung.

Seltsam wäre ja, wenn einer schon vor dem Sterben, mitten im Leben zu einem hinginge und ihm auf die Schulter klopfen würde, wie er die Blume auf den Sarg wirft, und unter Tränen sagte: Du warst ein wundervoller Mensch, einer dem ich nachtrauere, bis in alle Ewigkeit, dir, als einem der einst gestorben sein wird. Nimm meine Anteilnahme und lass uns trauern, über den Verlust, den du eines Tages für mich darstellen wirst. Ein Mensch, der solcherlei Ansinnen erhebt, würde ebenso seltsam erscheinen, wie einer der am Grab eines Verstorbenen nicht trauert, sondern singt und jubiliert.

Camus hat die Absurdität der Existenz auf vielerlei Weise beschrieben, die Sinnlosigkeit der Existenz aber in einer kurzen Phrase am Ende seines Fremden auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass er angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum erstenmal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt wurde.

Wie recht er hatte. Die Welt steht uns gleichgültig gegenüber und vielleicht ist unsere Trauer angesichts des Todes der Anderen, nichts weiter als die Trauer darüber, dass wir selbst sterblich sind. Wir trauern durch die anderen um uns selbst, als würde dadurch unser Leben an Bedeutung gewinnen. Doch das tut es nicht.

Trauer, sagen die Menschen, ist notwendig, um Abschied nehmen zu können. Vielleicht ist Trauer tatsächlich eine Anerkennung der Liebe zum Anderen, aber vielleicht ist sie aber auch nur Ausdruck dieser einfachen Tatsache, dass mit dem Tod eines Menschen, auch sein Leben aus unserem Leben verschwindet. Vielleicht bin ich nicht zur Trauer fähig, weil ich nicht um den Verlust eines Menschen trauern kann, sondern immer den Gewinn hinter diesem Verlust sehe, dass mich die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt und damit der Existenz jedesmal wärmt, wie ein Lagerfeuer in dunkelster Nacht, oder wie eine Hoffnung, dass uns irgendwann die Gnade beschieden ist, aus diesem Leben austreten zu dürfen, denn Sterben bedeutet nicht nur den Verlust des Lebens, sondern auch den Verlust von schlechten Nachrichten, schlechten Angewohnheiten und zahllosen Fehlentscheidungen.

Das mag egoistisch klingen, den Tod eines anderen für mich selbst zu nutzen, um mich an der Hoffnung und dem Trost, die sich für mich daraus ergebn, zu wärmen. Doch ist das egoistischer, als zu trauern und zu klagen, um sich selbst von dem Verstorbenen ein Stück weit zu lösen, ihn loszulassen, der Erde zu übergeben? Erde zu Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Um danach weiterzuleben. Festzuschmausen. Heimzukehren. Und dem Tagwerk nachzugehen, wie man es tat, als der Verstorbene noch unter uns weilte.

Wenn einer stirbt, sollten wir nicht trauern, wir sollten all unsere Zärtlichkeit aufwenden, um die zu trösten, die uns wichtig sind. Wir sollten all unsere Solidarität und verbliebene Kraft für diejenigen aufwenden, die noch am Leben sind. Für diejenigen, die täglich weiterhin gedemütigt, geschlagen, vernichtet werden, an Leib und Seele. Wir sollten all unsere zärtliche Gleichgültigkeit denen zu Teil werden lassen, die echolos durch die Welt streunen, um ihnen ein Echo zu sein und nicht der erkalteten Asche und dem faulenden Fleisch der Dahingeschiedenen, so nahe sie uns auch immer gestanden haben mögen, denn zuletzt zählt nicht welches Echo wir den Toten hinterherwerfen, sondern welches wir den Lebenden zu gewähren bereit sind.


20.211.210:1.148 Zum Archiv

Irgendwann hauchte ihr Fernsehgerät sein Leben aus. Darauf folgten eingehende Diskussionen, ob ein neues Fenster zur Welt erworben werden sollte. Stundenlanges streunen durch Fachmärkte war die Folge, um das richtige Gerät zu finden. Aber keines drängte sich ihnen auf. Eines war zu teuer, ein anderes zu groß, ein weiteres zu klein. Irgendwann war die Suche wichtiger geworden, als das Gerät selbst und so beließen sie es dabei und lebten vortan ohne Monitor, ohne modernes Lagerfeuer.

Mit dem Verlust des Fernsehens verließen aber auch andere Geräte, die an diesem hingen, wie die Trauben an der Rebe, ihren gemeinsamen Haushalt. Der freiwerdende Raum wurde mit Pflanzen gefüllt und an der Wand hing nun ein Bild von Turner. William. Sonnenuntergang über einem See. Keine flimmernde Bewegung, wie auf einem Monitor, kein bloßes Abbild der Wirklichkeit wie bei einer Photographie, sondern ein Bild, das Realität vollkommen neu hervorbringt, ein Licht, welches das unabsehbare Sehnen und Wollen eines Menschen stillt.

Und im Lichte dieses Sonnenuntergangs spielten sie ein Wortspiel, Buchstaben, die aneinandergereiht wurden. Ein Spiel, bei dem aus einzelnen Zeichen ein Spinnennetz an Bedeutungen wuchs. Im Hintergrund nur das Ticken der Uhr. Zwischendurch ein Oh! oder ein Das ist aber interessant. Mehr bedurfte es nicht an diesen Abenden. Und wenn eine von beiden ermüdete, erhob sie sich mit dem Worten: Es ist Zeit, lass uns zu Bett gehen.

Und der andere folgte der einen.


20.211.204:1.550 Zum Archiv

Durch das Denken versichert sich der Mensch seiner Existenz.
Durch das Lesen entdeckt er die anderen.
Durch das Schreiben findet er zu sich selbst.


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