20.201.130:0.553 Zum Archiv
Laubbläser, Rasenmäher und Hochdruckreiniger sind die Waffen des Widerstands der kleinbürgerlichen Saubermänner, in ihren mittleren Jahren, gegen die Stille und Stagnation, die sich in ihrem Leben ausbreitet, wie der frühe Tod ausgezehrter Arbeitstiere.
20.201.129:0.715 Zum Archiv
Heute stieg mir unvermittelt ein Geruch aus Kindertagen in die Nase. Landleben, das war für mich Kärnten. Ein Bauernhof. Ferien. Urlaub im Juli. Es ist nicht der modrig, muffige Geruch von Rindermist, sondern dieser leicht süßliche Geruch aus Heu und Stall, der an der Kleidung haftet wie Parfum.
Mit voller Wucht trafen mich die Bilder eines flirrenden Hochsommers, eines Blumengartens am Wegrand, beinahe wie ein Auarell von Hesse, nur ohne das Flair des Schweizer Tessins. Die erste schwärmerische Liebe für ein junges Mädchen, früher hätte man gesagt, Magd. Heidelbeeren und Himbeeren und Brombeeren in den umliegenden Wäldern und am Wegrand Walderdbeeren, die nach Leben duften und einen Geschmack entfalten wie keine andere Frucht bis zu diesen Tagen.
Es ist eine Freiheit und ein Freisein dürfen in der Natur, die anders war, als jene, die sich ausbreitete, dort, wo einst mein zu Hause gewesen ist. Sie war unmittelbarer, wilder als die Freiheit in den Wienerwäldern. Sie war das, was ich meine erste Heimat nennen will.
20.201.125:0.820 Zum Archiv
Sie fragte: Gehen wir?
Er antwortete: Nein
Sie fragte: Bleiben wir?
Er sagte: Nein
Sie fragte: Was bleibt uns dann noch zu tun?
Er antwortete: Hoffen.
20.201.124:1.010 Zum Archiv
Die späte Liebe zu meiner Frau verhinderte, dass ich mich in eine Figur verwandelte, die Horvaths Kleinbürgern ebenbürtig gewesen wäre.
20.201.123:1.614 Zum Archiv
Das Gegenteil von Beständigkeit ist ja nicht Veränderung, denn die Welt wandelt sich immer, jeden Tag, bei jedem Erwachen, mit jeder Geste, denn kein Moment, und möge er sich noch so sehr nach einer Widerholung anfühlen, gleicht dem anderen. Beständigkeit ist nichts weiter als die Variation des immer Gleichen, darin liegt nicht nur ihr Sinn, sondern auch ihre Kraft.
20.201.122:0.941 Zum Archiv
Ein Sonntag. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Schuhgeklapper hallt von den Wänden der steinernen Wendeltreppe wieder. In der Gasse vor dem Haus die Fröhlichkeit der Flaneure. Gleißendes Sonnenlicht empfängt sie und der Klang der Kirchenglocken streicht unruhig durch die Häuserschluchten auf der Suche nach säumigen Gläubigen. Mit hastigen Schritten treibt sie die verlorene Zeit vor sich her. Eine Häuserecke. Eine zweite. Ein Platz. Weit, offen, belebt.
Ein Schuss. Neben ihr stürtzt ein Mann. Ein zweiter Schuss kracht in das Verklingen der Glocken. Zum Greifen nahe knickt ein Mann ein, blickt nach oben, sein Blick bricht. Dem Brunnen benachbart sitzt eine Frau im Cafe. Es ist ihre Frau, die ihr zuwinkt, sich leicht nach Vorne neigt, Halt sucht und fällt.
Sie selbst löst sich aus dem Schatten der Häuserwand und läuft los. Unwillkürlich. Impulsiv. Sie spürt den Einschlag in ihrer Brust. Bleibt stehen. Den Blick auf ihre Frau gerichtet. Blut rauscht durch ihre Ohren. Sie erinnert sich. An das Meer. Warmen Sand unter ihren Füßen und einen weichen Kuss samtiger Lippen.
Und im Innehalten bricht ihr Herz in den heraufziehenden Sturm.
20.201.121:0.912 Zum Archiv
Seit ich denken kann, interessiere ich mich für Geschichte. Und selbst mein oberflächliches Interesse für Literatur geht auf meine tiefreichende Sehnsucht nach einem Verständnis für das Gewesene zurück. Warum mich die Vergangenheit schon als Jugendlicher faszinierte, mich letztlich dazu brachte, in Geschichte zu maturieren, lag darin begründet, dass ich lernen wollte, welche Mechanismen in unserer Gegenwart wirken und wie man eine Zukunft bauen kann, die dem modernen Menschen angemessen ist. Letztlich gilt immer noch der Spruch des spanischen Philosophen George Santayana: Wer seine Geschichte nicht kennt, ist gezwungen sie zu wiederholen.
Ich würde den Spruch abwandeln und sagen: Wer seine Geschichte nicht kennt, muss in ihren Abgründen zugrunde gehen. Eine Befreiung aus den Fesseln der Vergangenheit, kann ja nur dann möglich sein, wenn man sein Leben nicht als schicksalhafte Abfolge von Unvermeidlichkeiten betrachtet, sondern als die Abfolge gesellschaftlicher Entwicklungen, die wir mit jedem Tag, an dem wir uns in ihr Aufhalten mitgestalten.
Darum ist es auch notwendig sich einerseits mit der eigenen, individuellen Geschichte zu beschäftigen, um die Fesseln der Kindheit und Jugend ein wenig zu lockern, denn eine Befreiung aus den Traditionen und Mechanismen der eigenen Familie ist eine Fantasie de neunzehnten Jahrhunderts, die Freud auf die Spitze getrieben hat. Andererseits ist es unerlässlich sich mit der Entwicklung der Menschheit bis zu heutigen Tage auseinanderzusetzen, um uns aus der schicksalshaften Naturordnung, der Barberei der Gottesgesellschaften, den Irrungen der Religionszivilisationen zu befreien, um letztlich nicht in den technologischen Allmachtsphantasien der neuen Halbgötter zugrunde zu gehen.
20.201.120:1.030 Zum Archiv
Aufgrund der von uns einzuübenden Sprachkorrektheit, zu der uns Medien und Wissenschaft seit geraumer Zeit aufrufen, vergessen wir, dass auch die Geschichte sich in Sprache vollzieht, ihr innerstes Wesen grammatisch ist. Politisch korrektes Sprechen jedoch, wenn es die Historie in ihrem Sein in Mitleidenschaft zieht, verhindert die Möglichkeit, den Rassisten über seine Sprache und seine Traditionen zu entlarven.
Eine Sprachpolizei, die Sexismen und Rassismen aus historischen Dokumenten tilgen will, macht sich mitschuldig an der Weitertradierung von Vorurteilen und ihren Wirkungsweisen in der Gesellschaft. Ahistorische Diskussionen über gegenwärtige Zustände führen immer in neue Faschismen.
20.201.119:0.745 Zum Archiv
In Tagen wie diesen bin ich froh kein Journalist zu sein, mich nicht zur Tagespolitik äußern, den Zusammenbruch der Aufklärung und den Kollaps des bürgerlichen Individuums nicht kommentieren zu müssen.
Was ich lese, sind die hilflosen Versuche den Zivilisationsbruch, der sich vor unser alle Augen vollzieht, zu fassen, zu begreifen und mit unaussprechlichem Gestammel zu beschreiben. Ohne das, was ist, beim Namen zu nennen, schreibt die Tagespresse den Untergang des Abendlandes herbei oder bringt Heilsbotschaften unter die Menschen.
Was in Tagen wie diesen aber Not tut, sind Analysen der historischen Entwicklungen, nicht hysterische und emotionale Reaktionen, keine Stammtischparolen. Journalismus hat, wenn er sich selbst ernst nimmt, die Aufgabe nicht nur zu kommentieren, was er sieht, sondern vor allem das zu analysieren, was sich hinter dem Offensichtlichen verbirgt. In die dunkeln Zonen der gesellschaftlichen Abgründe vorzustoßen, auch auf die Gefahr hin, dabei in die eigene hässliche Fratze zu blicken, eine vierte Macht, die längst nicht mehr die Aufklärung im Blick hat, sondern die Interessen derer, von denen sie bezaht wird.
20.201.117:1.550 Zum Archiv
Der menschliche Körper ist wie eine wiederaufladbare Batterie. Bei der Geburt hat sie hunderprozent Ladekapazität. Der Ladevorgang dauert Stunden, aber die Leistunsgfähigkeit des Akkus ist danach beinahe unbegrenzt. Unabhängig von seinem Ladegerät kann der Körper in dieser Zeit durch die Welt vagabundieren, kraftstrotzend nach den Menschen greifen und sich das Leben aneignen. Der Energievorrat, der sich durch den Ladevorgang aufbaut, scheint unerschöpflich. Ein paar Stunden Schlaf reichen vollkommen aus. Ein gutes Gespräch, guter Sex, eine Projektidee laden den Akku unmittelbar, immediately, inmediatamente.
Doch dann, mit den Jahren, wird die Batterie nicht mehr vollständig geladen, immer häufiger müssen die Ladevorgänge vorgenommen werden. Die Gespräche gehen in Smalltalk über, der Sex verliert an Bedeutung, die Arbeit ist mehr Wiederholung als Neubeginn. Unebwusst beginnt man den Akku nicht mehr vollständig zu entladen, energetische Notgroschen zur Seite zu legen für besondere Momente, die manchmal doch noch eintreten, unvemittelt, überraschend, für die Highlights, die Höhepunkte. Niemand will in solchen Augenblicken, in der Mitte seines Lebens kraftlos erscheinen.
Doch das beschädigt den Akku, seine Ladekapazität nimmt ab und der darauffolgende Ladevorgang gelingt nicht mehr vollständig. Und so nimmt der Akku in seiner Leistungsfähigkeit ab. Bildet kaum noch Reserven aus. Bis er immer schlechter lädt. Eine Ladung reicht dann gerade einmal für ein paar Wochen, später für Tage, irgendwann nur mehr für Stunden und am Ende fühlt es sich an, als hätte der Ladevorgang nicht mehr stattgefunden, die Restenergie wird noch angezeigt, steht zur Verfügung, aber sie ist nicht ausreichend, um den Tag zu überstehen. Und am Ende blinkt am Ladegerät nur noch ein Licht, der Körper verwandelt sich in eine Nullinie, keine Spannung mehr, keine Energie. Game over.
20.201.116:0.751 Zum Archiv
In Zeiten der Pandemie zeigen sich die gesellschaftlichen Defizite unserer Demokratie in erschreckender Weise, aber auch und vor allem im Schulsystem. Wir erkennen das, was seit Generationen Schriftsteller*innen als Erfahrung in ihren Romanen aufgeschrieben haben, nun als eine Offenbarung im täglichen Schulalltag und sind überrascht. Das beweist zweierlei:
Einerseits haben sich die Lehrer*innen zu lange nur auf das Vermitteln von Stoff konzentriert und die Herrschaftsstrukturen, die in unseren hierarchischen Schulstrukturen herrschen, negiert, um sich selbst, das Schulsystem und letztlich die Gesellschaft nicht in Frage stellen zu müssen, denn zuviele der Lehrer sind selbst Figuren, die einem Horvathstück entsprungen sein könnten.
Andererseits ist die Demokratie nie den letzten Schritt gegangen, der es ihr ermöglicht, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit seiner politischen Eliten und der ihnen unterworfenen Bürger*innen zu befreien, nämlich die Schulen radikal zu demokratisieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht in jenem Zustand verharren, den Thomas Bernahrd einst mit dem Begriff Geistesvenichtungsanstalten auf den Punkt gebracht hat.
Daher fordere ich, Schulen in Kaderschmieden für aufgeklärte Individuen zu verwandeln, die eines Tages in der Lage sein sollen, die Strukturen, aus denen sie hervorgegangen sind, hinwegzufegen, als Lehrer*innen, Direktor*innen und Bildungspolitiker*innen.
20.201.111:2.134 Zum Archiv
Schulen dürfen keine Gefängnisse sein, sagt eine Architektin, die sich mit dem Bau von Schulen beschäftigt. Doch wenn man sich viele Schulen ansieht, dann sind sie genau das, denn ihre Bauweise spiegelt selten die Forderung unserer Verfassung wieder, in der es sinngemäß heißt, dass wir Schüler*innen zu mündigen, selbstständigen und freien Bürger*innen formen sollen. Ein Gebäude, das im Grund nichts weiter ist als ein Kubus, mit Gängen und davon abzweigenden Zellen, kann die Motivation nicht fördern. Farbe wirkt dabei wie bloße Kosmetik, um die Herrschaftsarchitektur unserer Schulen zu verdecken.
Eine Schule, in der Schüler*innen frei atmen und denken können und Lehrer*innen frei sprechen und lehren, benötigt offene Konstruktionen und Rückzugsorte zugleich, eine Raumstruktur, die die Schule nach außen öffnet, um einerseits den Insass*innen möglichst jederzeit Ausgang zu verschaffen und andererseits die Welt, in der sie sich später bewähren sollen, möglichst nahe an sie heranzuführen.
20.201.110:2.122 Zum Archiv
Das wahre Unglück dieser Pandemie besteht darin, dass wir unsere eigene Irrelevanz und die unserer bisherigen Lebensweise zu erkennen beginnen. Das ein Staat mit Schulden genauso gut oder schlecht funktioniert wie ohne Schulden. Das unser Glück an der Lohnarbeit hängt und wir ohne sie nichts weiter sind als nutzlose Esser. Das hat schon Kafka erkannt, dessen Protagonisten immer schon einen Beruf hatten, sie waren Landvermesser, Landarzt, Werktätige. Ohne ihr Lohnarbeitsverhältnis wären sie keine Menschen gewesen. Mit ihr sind sie jedoch einer undurchschaubaren bürokratischen Maschinerie ausgeliefert. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Der Kapitalismus und die mit ihm im Gleichschritt marschierende Demokratie haben den Menschen in einen freien Lohnarbeiter verwandelt. Er darf frei und gleich bestimmen, wer ihn regieren soll. Und er darf sich aus freien Stücken in die Lohnabhängigkeit begeben. Tut er es, darf er sich nicht beklagen, denn er hat es aus freien Stücken getan. Bleibt er ihr fern, so muss er sich rechtfertigen, um von der Gesellschaft alimentiert zu werden. Eine bessere Versklavung des Individuums ist nicht denkbar, als ihm die Freiheit zu geben, die Form seines Unglücks selbstbestimmt wählen zu dürfen.
20.201.109:1.414 Zum Archiv
Zu Beginn spürt sich der Verfall des Körpers wie eine Krankheit an, ein harmloser Virus da, ein Bakterienstamm dort, hingestreckt für einen Tag, eine Woche, dann erholt der Mensch sich wieder. Er kehrt zurück, in die Welt der Hamsterräder. Bis das Leben ihm in den Rücken fällt oder in die Knie zwingt, sich in seinem Nacken einnistet. Die Sehnen ziehen sich zusammen, die Augen trüben sich ein, das Abendlicht leuchtet nicht mehr wie vor Jahren über den Bergen und der Morgen graut dunkler als je zuvor. Die Optiker reiben sich die Hände, wenn er an ihren Geschäften vorbeiflaniert. Ärzte, die er vor Jahren beim Einkauf nicht als solche erkannte, grüßen ihn nun freundlich, als wären sie alte Bekannte.
Was ihm früher leicht von der Hand ging, ist nun beschwerlich. Eines Tages findet er sich an einer Bettkante wieder, gebückt, die Hände halten das Gleichgewicht, die Beine lagern auf dem Boden, wie in frisch gegossenem Beton. Das Denken beschäftigt sich nicht mehr mit der Zukunft, dem kommenden Tagwerk, sondern mit diesem einen Augenblick, in dem er sich hochstemmt, jedem Muskel einzeln den Befehl zum Arbeitsantritt gibt, bis es am Ende doch gelingt und er sich erhebt, wie ein Koloss nach tausendjährigem Schlaf, wie Gregor Samsa nach seiner Verwandlung.
Und diese Auferstehung zieht sich nach jedem Schlaf in die Länge, wie die Nacht im Herbst sich ausdehnt, von Dämmerung zu Dämmerung, der Tag kaum noch Licht hat, um Widerstand zu leisten, gegen die hereinbrechende Dunkelheit, die sich in in einen Menschen einschleicht, wie ein Dieb in der Abensdämmerung ins Haus, wie ein Schmerz, der zu Beginn nur kurz vorbeischaut, dann Wohnstatt nimmt, heimisch wird und bleibt.
20.201.106:1.035 Zum Archiv
Der Sinn des Lebens, sofern es einen solchen überhaupt geben kann, ergibt sich nicht dadurch, dass das Leben durch den Tod begrenzt ist, sondern allein aus der Tatsache der potentiell unbegrenzten Möglichkeiten des Lebens selbst.
Das Problem dabei ist ja nur, dass nicht nur wir selbst uns darin beschränken, diese Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch politisch alles dazu tun, diese unbegrenzten Potentiale des Handelns, mit Herrschaftsinstrumentarien einzuschränken, sodass der Sinn des Lebens den meisten von uns verborgen bleibt und wir uns in Ersatzhandlungen flüchten, wie zum Beispiel den Konsum von Produkten, die wir nicht benötigen.
Der Konsumkapitalismus ist der Versuch, die Möglichkeiten der Sinnerfahrung und Sinnfindung durch die von uns erzeugten und konsumierten Waren zu ersetzen. Was in uns Menschen dadurch aber vesrtärkt wird, ist der Glaube, dass die Welt öde und leer sei, denn das Gefühl, das nach einer intensiven Konsumerfahrung oft zurückbleibt, ist der schale Nachgeschmack, der sich manchmal auch nach dem Masturbieren einstellt, wenn man Selbstbefriedigung vor allem als einen Akt der Ersatzbefriedigung begreift.
Sinnstiftung kann nur dann gelingen, wenn wir uns auf das Leben einlassen, uns begegnen und darauf vertrauen, dass wenn wir die Gelegenheiten, die sich uns bieten, als solche erkennen und am Schopfe packen. Dazu ist es allerdings notwendig, die Kinder von Geburt an in Freiheit und mit Zuversicht zu erziehen und sie auf diese unbegrenzten Wahlmöglichkeiten im Leben vorzubereiten, denn ansonsten gehen sie in der Welt verloren und sind unfähig weder sich selbst noch andere zu befriedigen.
Und eine Welt, in der die Menschen unbefriedigt sind, sind weder Momente des Glücks möglich noch die Erfahrung von Sinn, sondern nur deren Ersatzformen, die dem Menschen Sinn vorgaukeln und damit würden wir uns in einer Gesellschaft wiederfinden, in der alles zur Religion verkommt, in der Sinn ja nichts weiter ist, als eine außerweltliche Erfahrung.
20.201.104:1.830 Zum Archiv
An Tagen wie diesen, wenn die Welt scheinbar im Chaos versinkt, alles und alle auf schwankendem Boden stehen und die Aufgeregtheit der Welt nur allzu leicht in ein nächtliches Feuer mündet, dann kriechen die Heilsarmisten aus ihren Höhlen und predigen von der ewigen Verdammnis. Und die besten unter uns ducken sich weg.
Die Politiker halten Reden aus ihren Ämtern heraus, als wären sie in ein vom Papst geweihtes Ornat gekleidet. Sie sprechen vom Heroismus der kleinen Leute, vom Überleben des Staates in finstersten Zeiten. Sie sprechen von Opfern als Menschen und von Tätern als Unmenschen. Als wäre das eine ein Gegensatz zum anderen. Und als wäre das Opfer immer schon menschlich und der Täter immer ein Barbar. Als wäre die Welt immer schon gut und böse gewesen und man könne sich wie selbstverständlich für eine der beiden Seiten entscheiden. Und gemeint ist immer, man solle sich für die gute entscheiden.
Und doch spürt einer wie ich, dass sich darin ein Eingeständnis der Kapitulation verbirgt, eine unausgesetzte Ratlosigkeit und eine Unentschlossenheit, die uns jenseits des Grauens in blankes Entsetzen versetzen sollte, denn wenn aufgeklärte Bürger und Bürgerinnen sich in Pfaffen verwandeln, dann ist eine Republik nicht nur in Gefahr, sondern längst verloren. Nur so ist es zu erklären, dass der Terror eine Spur der Verwüstung in den aufgeklärten Erblanden Kants hinterlassen kann. Es ist die Kapitulation vor dem Kapital und seiner religiösen Rechten, die dem Wahnsinn in der Welt Nahrung gibt, um das bereits seit Jahrzehnten lodernde Feuer neu anzufachen, in dem alles Soziale, Menschliche und Freie zugrunde gehen könnte.
20.201.103:1.745 Zum Archiv
Einer wie ich kann nicht über alles schreiben. Es gibt Tage, an denen herrscht in mir Stille und je aufgeregter die Welt sich zeigt, desto weniger Schrift entsteht in mir. Der einzelne Tag, der einzelne Mensch ist meine Sache nicht. Das Sterben nicht und das Leben nicht. Dort, wo alles still steht, zeigen sich die Erscheinungen der Welt am deutlichsten, die das Schicksal der Menschen bestimmen.
20.201.101:1.817 Zum Archiv
Immer kann einer nur rückwirkend sagen, wann das Ende, das Aussickern, das Ableben begonnen hat. Wenn dem aber so ist, sollte einer es dann nicht vorausschauender planen, es sich vornehmen, wie man eine Reise plant, ein One-way-Ticket kaufen und dann ab in den Süden oder den Norden, je nachdem, wo es einem besser gefällt.
Nie kann einer sagen, es war an diesem wunderbaren Oktobertag, als mein Körper lahmte, das Stiegen steigen schwierig wurde, Kurzatmigkeit einsetzte. Und nie kann einer sagen, damals an diesem Tag im Oktober begann mein Körper mir seine Dienste zu versagen und heute, das wäre der Tag, an dem es begonnen hat, das Enden.
Hätte er damals auf die Signale geachtet, hätte er noch etwas unternehmen können, eine Wende herbeiführen, sich ein paar Jahre herausschinden, das Unvermeidliche hinauszögern, wenn er die Zeichen als solche erkannt hätte. Doch an diesem Tag im Oktober sagte er sich: Nur ein Schwächeanfall, ein Schwächeln. Morgen wird es besser. Ein Sapziergang hilft. Eine Nacht mit gutem, erholsamen Schlaf. Und tatsächlich, es ging vorbei. Er nahm die Arbeit wieder auf und dieser Tag im Oktober war zum Weihnachtsfest längst vergessen. Zu Neujahr nahm er sich vor, sein Leben nachhaltig zu ändern. Und ein Jahr später konnte er nicht mehr sagen, wann es denn begonnen hat, wann dieser erste Tag, der letzte der letzten gewesen war.
Und dann, eines Tages, kommt dieser letzte der letzten, unvermittelt, zur Unzeit, auch die letzte Stunde. Selbst die allerletzte Minute ahnt er nicht voraus und wenn sie dann eintritt, wird er fassungslos sein. Überrascht nach Luft schnappen, Halt suchen, taumeln und fallen. Ohne Gewissheit über den Beginn, keine Möglichkeit mehr zum Wandel, nur noch Verwandlung vom Leben zum Tod.
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