20.200.831:0.914 Zum Archiv

Es ist das, was wir nicht begehren dürfen, das ein unbändiges Begehren in uns auslöst. Ein Stück Haut. Ein Augenblick. Bloße Möglichkeit des Berührens und Berührtwerdens. Sehnsucht. Ungestillt. Immer. Befriedigung ist der Verlust des Unerreichbaren. Unerfüllten. Unberührbaren. In der Verwirklichung unserer Begierden verliert sich die Welt als Rätsel.


20.200.830:1.920 Zum Archiv

Zeitgenössische Literatur schließt aus Expertensicht zu viele Menschen aus, habe ich in einem Artikel gelesen. Dieser Aussage stimmte der Literaturvermittler Hauke Hückstädt zu. Er leitet das Literaturhaus Frankfurt. Dieser Satz ist aus mehreren Gründen falsch, wie ich denke. Abgesehen einmal davon, wer denn die zitierten Experten sind, die hier ungenannt bleiben. Formal einfache Literatur ist nicht besser als komplexe. Inhaltlich schwierige Inhalte nicht besser als banale Alltagsprobleme. Das eine hat mit dem anderen ja nichts zu tun und schon gar nichts mit der Krise, in der die deutschsprachige Literatur sich befindet.

Jemand, der behauptet, die Krise der Literatur bestünde darin, dass die Welt und die Literatur zu komplex seien, hat mehrere gesellschaftliche Erscheinungen nicht vollständig durchdrungen. Ich vermute, dass ein Literaturvermittler, der derartige Behauptungen stützt, denkt, der Autor schreibe für ein bestimmtes Publikum. Manche tun das wohl auch. Das sind vor allem jene, die den Markt im Blick haben. Die Verwertbarkeit von Texten, die sie an den Mann und die Frau bringen wollen. Viele tun das nicht, denn sie halten weder das Publikum für dumm, noch die bestehenden Marktverhältnisse für naturgegeben.

Doch da ist noch eine andere Sache, die mich in wesentlich größere Unruhe versetzt, und die sich in diesem einen Satz verbirgt. Eine Literatur, die denkt, sie kann die Welt auf einfache Formelhaftigkeit bringen und würde dann automatisch ein Massenpublikum erreichen, das sich dieser einfachen Formelhaftigkeit bemächtigen kann, um die gesellschaftliche Situation, in der es sich befindet, besser begreifen zu können, verkennt eine einfache Tatsache: Literatur beschreibt nicht die Welt, wie sie ist, sondern sie beschreibt die Welt, wie der Autor sie interpretiert und das hat nichts mit dem Markt und dem Leser zu tun, sondern mit ihm und seinem persönlichen Zugang zur Welt.

Und will man die Interpretation des Autors nachvollziehen, will man seine Sicht der Welt verstehen, dann muss man sich in seine Welt hineinversetzen, muss man die eigene Weltsicht ein Stück weit aufgeben, um das zu entdecken, was uns fremd anmutet, was wir nicht kennen. Und das Unbekannte, das Fremde ist immer kompliziert, weil man es enthüllen muss, erforschen muss, es sich aneignen muss, um es verstehen zu können. Das ist die Krise unserer Literatur und unserer Gesellschaft udn unserer Zeit, wir wollen diese Mühsal der Aneignung des Denkens der anderen nicht mehr auf uns nehmen und suchen einen einfacheren Weg. Doch den gibt es nicht.

In diesem Interpretations- und Aneignungsprozess gibt es keine Abkürzungen, weder für den, der schreibt noch für den, der liest. Oder denkt irgendjemand da draußen ernsthaft, dass Marx/Engels sich beim Verfassen des Kommunistischen Manifestes Gedanken darüber gemacht haben, ob der Proletarier, von dem sie eine Revolution erwarteten, ihren Text verstehen würde. Es geht beim Schreiben von Texten doch in erster Linie nicht darum, verstanden zu werden, sondern Anhaltspunkte zu liefern, damit die Welt in ihrer absoluten Grausamkeit und/oder Schönheit enthüllt werden kann.

Was unserer Zeit fehlt, sind nicht einfache, lesbare, verständliche Texte. Daran mangelt es wahrlich nicht. Was unserer Zeit fehlt, sind Autoren, die in ihren Texten die Welt enthüllen, wie sie ist und uns einen Weg zeigen, der in eine andere Welt führen könnte. Dabei ist es nicht wesentlich, ob es sich um eine Utopie oder Dystopie handelt.

Kafka hat nicht für ein Publikum geschrieben, um verstanden zu werden, sondern um sich selbst, und die Welt um sich herum, zu verstehen. Der schöne Nebeneffekt bei Kafka war, dass er es geschafft hat, trotz inhaltlicher Komplexität und formal einfacher Sprache, die Welt seiner Zeit zu entüllen. in seinem Falle eine Gesellschaft der totaltären Grausamkeit und er hat, im Gegensatz zu dem, was Germanisten behaupten, einen Weg aus dieser grausamen Welt aufgezeigt. Diesen Pfad findet man aber nicht durch das einfache Lesen, sondern nur durch eine Aneignung dessen, was den Protagonisten von Kafkas Büchern widerfährt, dass nämlich ihre Fremdheit in der Welt nichts weiter ist, als unsere eigene, die wir nicht wahrhaben wollen.

Das ist es, was mir fehlt in unserer Zeit. Eine grausame Literatur, die mich nicht schont, sondern mich in die eigenen Abgründe stößt. Was ich ganz sicher nicht brauche, ist noch mehr Literatur, die mir in einfachen Worten die Banalität der Welt erläutern will und mir dadurch den Zugang zu den Abgründen meiner Zeit verwehrt.


20.200.828:1.614 Zum Archiv

Ein Sommerkleid zwischen aufkeimenden Blütenstauden auf moosigem Grund. Weichheit. Feuchtes zurückgelassenes Laub. Atmet ein und aus. Unvermittelt. Am Grund. Ein Stück Haut. Nicht zu Markte getragen. Sichtbar. Begehrt. Ein rötliches Rot am Rande. Wo sich Leib und Seele begegnen. Das Lachen des Maitages. Entehrt.


20.200.827:1.400 Zum Archiv

Die Anhöhe. Der Steig. Nach dem Sturm. Ein Stück Weg von tosenden Winden entblößt. Am Wegrand ein Pfahl. Zurückgelassen vom tobsüchtigen Schlächter. Ein Totempfahl. Ein Geschenk. Für die Götter. Besänftigung für begangenen Frevel. Von der Wucht der Schläge die Krone vom Haupt gerissen. Nur der Rumpf blieb. Knorpelig. Wie ein in die Tage gekommener Sommer. In seinem Schatten nistet Vergänglichkeit und wandert von früh bis spät der Sonnenstand. Trübt sich das Wetter ein. Verliert die Zeit ihren Kompass. Und was vorbeizieht ist ohne Bestand. Und alles fischt bis zur hereinbrechenden Nacht im Trüben. Haltlos. Ausgesetzt.

In der Zerstörung treten die Dinge zu Tage, die in ihrer Unversehrtheit nie sichtbar sind. Konturen. Einkerbungen. Ohne Krone zeigt sich die Welt, wie sie ist. Schonungslos. Schamlos. Makellos. In seiner Entblößung majestätisch. Am Rand. Markierungspunkt. Wegmarke. Entseelt. Gedemütigt. Doch in all seiner Zerstörung, seiner Nacktheit, enthüllt sich selbst im Absterben noch eine unverzeihliche Unschuld. Ein Zeichen. Am Ende. Ein aufgerissener Leib. Eingeweide. Dem Licht preisgegeben. Fingerzeig. Alles Leben fortgerissen. Dem Sturm anheim gefallen. Unnahbar. Verkrüppelt.


20.200.826:1.143 Zum Archiv

Ich weiß, hier irgendwo muss es sein, mein Schicksal. Es ist zum Greifen nah. Dort an der Ecke? Ich kann es spüren. Irgendwo muss es doch sein. Dieser Mann vielleicht an der Ecke mit Zylinder und Spazierstock? Orientierung. Ich brauche Orientierung. Rechts oder links? Links. Zur Kirche. Da, der Mann. Winkt er mir? Kann nicht sein! Dennoch: außer mir ist hier niemand. Dann muss wohl ich gemeint sein. Ich sollte mich annähern. Meiner Bestimmung folgen. Ein Jahrmarkt gleich hier. Seltsam. Eigentlich ein Zirkus. Klein. Hinter dem Zelt ein Streichelzoo. Ein Clown torkelt aus dem Wohnwagen. Eine Frau mit tiefen Stirnfalten. Sie kommt näher. Liest mir aus der Hand. Sagt, ich solle meine Vorsehung nicht missachten. Der Mann vor dem Kirchtor winkt. Die Hand der Wahrsagerin gleitet aus der meinen. Die Ungeduld des Mannes ist körperlich. Er wendet sich ab. Ich will rufen: Bleib! Laufen. Ich muss laufen. Unbedingt. Mein Los muss besiegelt sein. Jetzt. Da ist das Tor. Der Mann tritt hindurch. Ich folge ihm. Ein Raum. Weit. Hell. Voller Zuversicht. Erfüllt. Endlich. Ich.


20.200.825:1.925 Zum Archiv

Es war nicht die Sinflut, die uns aus der Bahn warf, das Prasseln ihrer millionenfachen Tropfen, das aus ihren Sturzfluten auf uns hereinbrach. Wir ertrugen den schweren Regen, weil seine Urgewalt uns überwältigt hatte. Wir hielten ihm stand, weil wir nicht anders konnten. Wir gingen durch ihn hindurch, wie durch ein unbändiges Feuer.

Es war dieser eine, dieser letzte Tropfen, der uns in Bewegung setzte, unseren Widerstand anstachelte, das Fass zum Überlaufen brachte und nach dem Sturm in seinem Wellenschlag alles einriss, was Augenblicke zuvor noch fest stand, im Grund wurzelte.

Und aus diesem letzten Funken Leben, das noch in uns schwelte, entfachten wir ein Feuer, und setzten damit das Land in Brand, rodeten die letzten verkohlten Bäume, wurden heimisch und frei. Warfen ab die Scham und den Schatten der Vergangenheit. Sammelten unsere Freunde und Geliebten ein. Und dann lebten wir nach unserem Willen frei und gleich unter dem heraufdämmernden Horizont des Sommers.


20.200.824:1.745 Zum Archiv

Noch eine letzte Anmerkung zur ISBN. Der Wunsch eine ISBN-Nummer auf seinem Buch gedruckt zu sehen, kann mehrere Gründe haben. Vielleicht will man mit den Wölfen heulen, um sich zumindest in dem Glauben zu wähnen, nicht von ihnen mit Haut und Haar gefressen zu werden.

Darüber hinaus will man mit einer ISBN-Nummer den eigenen Texten vielleicht größeres Gewicht verleihen, weil man denkt, dem Anspruch an das eigene Wollen nicht gerecht werden zu können. Man traut den eigenen Fähigkeiten, der eigenen literarischen Kraft nicht ausreichend, um ohne eine Nummer durchs Leben zu gehen. Die ISBN-Nummer simuliert ein Selbstwertgefühl, das man ohne sie in der Welt vielleicht nicht hätte und stärkt so das literarische Selbstbewusstsein. Sie suggeriert eine Sichtbarkeit, die gar nicht existiert. Denn auch mit ISBN-Nummer werden Buchhändler*innen nur dann ein Buch bestellen, wenn Leser*innen durch ihre Tür treten und ihnen einen Auftrag dazu erteilen. Dafür müssen Leser*innen erst mit dem Buch in Kontakt getreten sein, die Autor*innen und die Verlage sie erreicht haben. Mit Werbung. Marketing. Womit wir wieder beim Schmiermittel des Kapitalismus angelangt wären, das im Falle des Literaturmarktes die Kulturkritiker und Medien sind, die wiederrum Kleinst- und Kleinverlage, und ihre Produkte, also letztendlich die Autor*innen, ignorieren.

Aber es kann auch bloß der persönlichen Eitelkeit der Autor*innen schmeicheln, einen Verlag gefunden zu haben, der das Buch druckt, jemanden, der das Buch deartig toll findet, dass er oder sie sich die Mühe macht, es zu publizieren und es mit dem Aufdruck einer ISBN adelt. Das ist der größte Selbstbetrug, zu dem Autor*innen überhaupt fähig sind. Selbst für den kleinsten Kleinverlag ist ein Buch noch ein Gewinn, denn es ermöglicht ihm Umwegrentabilität. In einem Land, in dem Bücher durch den Staat gefördert und Subventionen für Vereine gewährt werden, ist jedes Buch, selbst wenn sich kein einziges Exemplar verkauft, ein Gewinn. Und das hat mit der Qualität des Textes nur bedingt zu tun. So wie kaum ein Autor/eine Autorin ein Stipendium erhält oder einen Preis gewinnt, weil sein/ihr Text brilliant oder außergewöhnlich ist. Es sind bei jeder Preisvergabe und bei jeder Entscheidung, ein Buch zu drucken, Marktmechanismen im Spiel, zu dem die Verlage, Jurys, Subventionsgeber, Preisverleiher*innen, die Literturkritik und die Leitmedien unserer Gesellschaft das ihre beitragen, Autor*innen sichtbar zu machen oder in der Dunkelheit mit ihren Texten verrotten zu lassen.

Vierzig Jahre Erfahrung mit dem Literaturbetrieb haben mich eines gelehrt. Wir tanzen alle um das Feuer der ISBN-Nummer und erkennen nicht, dass es sich dabei um einen Scheiterhaufen handelt, der immer und vor allem für die Autor*innen errichtet wird, kurz bevor es Nacht wird.


20.200.823:0.929 Zum Archiv

Ich denke, bald wird sich die Melancholie des Herbstes meiner bemächtigen, mit seinen langen Schatten und einem Licht, das William nicht besser auf die Wand des Lebens zaubern hätte können, das auf seinen Wiesen brennt und in seine Wälder einfällt, wie ein Déjà-vu aus Kindheitstagen. Und die Feuchtigkeit des späten nachmittags wird aus den Böden aufsteigen und den Nebel nähren, der spätabends im Tal mit dem noch milden Abendwind Eintritt in ein Ringen um die letzten der am Ufer zurückgelassnen Seelen, die des Urlaubens müde sind und nun heimkehren in ihre guten Stuben und wieder ihrem Tagwerk nachgehen, als wäre die Zeit der Erholung nichts weiter als ein fiebriges Begehren gewesen, das immer das Ende schon zu Beginn in sich birgt und nicht der Rede wert, in Fotos sein Dasein als Erinnerung noch fristet, aber eben auch nicht mehr ist, als dies eine Bild vom Glück am Wasser und der Leichtigkeit des Seins, in diesen schon nach Stunden fernen Tagen.

Wenn es soweit ist, werde ich froh sein über die Rückeroberung der vom Schuhwerk abgewetzten und leergefegten Wege und sommersatten Stege. Wenn mir das Land wieder zu Diensten ist und ich nachgehen kann, was neben Frau und Kindern die Welt für mich im Innersten zusammenhät, dem Denken und dem Schreiben.

Dann wird der Sommer verflogen sein, wie ein Zugvogel nach Süden fliegt, und dem Land wird wieder erlaubt sein, dass der Herbst in all seiner Pracht und Farbigkeit in ihm Quartier nimmt und schon vor der Zeit von zugemuteten Nächten kündet, in denen Stille und Genügsamkeit sich heimisch macht, wie der frisch gefallene Schnee auf den Wiesen und Feldern, der mehr den Ufern des zu Eis erstarrten Sees zugeneigt ist als dem Land, in dem alles schläft und träumt.


20.200.820:0.847 Zum Archiv

Noch einmal zur Frage der ökonomischen Bedingungen im Verlag-Autor*innen-Verhältnis. Ein Autor hat mir geschrieben, dass ein bewusster Boykott der ISBN-Nummer, oder der Auslieferungsbedingungen von Amazon, moralische Onanie sei. Was für ein schöner Begriff: moralische Onanie. Da fällt mir ein Satz von Woody Allen ein, der sinngemäß gesagt haben soll: Sagen Sie nichts gegen Selbstbefriedigung, das ist ja schließlich Liebe mit mir selbst.

Wenn also eine moralische Handlung, ich bevorzuge ja den Begriff politisch, sei sie auch noch so wenig wirksam, eine Art der Selbstbefriedigung ist, ist doch noch nichts über die Rechtmäßigkeit dieser Widerstandshandlung ausgesagt. Sollen wir denn aufhören Widerstand zu leisten, weil sie uns in den Geruch bringt, moralische Onanist*innen zu sein.

Das würde ja jede Form des politischen Widerstands ad absurdum führen. Es bedeutet nämlich: Je geringer die Erfolgaussicht eines politischen Widerstandes ist, desto eher sollte man ihn unterlassen. Das Prinzip der Solidariät würde sich dann nämlich nach den Erfolgsaussichten der Handlung richten. Solidarität ist aber kein ökonomisches Prinzip, sondern ein soziales.

Bevor ich mich eines derartigen Solidaritätsprinzipes bediene, das seine Grundsätze nach einer möglichst großen medialen Aufmerksamkeit und einer möglichst hohen Relevanz für die Vermarktung von Literatur ausrichtet, bekenne ich mich zur moralischen Onanie und gebe den politischen und befriedigenden Orgasmen, die darauf folgen, den Vorzug. Lieber ein guter politischer Handjob durch die eigene Hand als ein moralischer und unbefriedigender Fick mit dem Literaturmarkt, der nur dazu führt, dass die Autor*innen auf jenen Platz verwiesen werden, der ihnen zukommen soll, am Ende der ökonomischen Nahrungskette.


20.200.803:0.715 Zum Archiv

Sie standen still. Sie warteten. Das Knistern erinnerte sie an Lagerfeuer. An ihre Kindheit. Schauergeschichten. Verschämte erste Küsse. Der Brandgeruch kam näher. Und er kam schneller näher, als gedacht. Nichts konnte ihn aufhalten. Sie hatten es versucht. Selbst mit dem Beten hatten sie begonnen. Ein Vater unser zu jeder vollen Stunde. Doch der Geruch hatte sich ausgebreitet, verwandelte sich in eine schlichtes Orange am Himmel, das sich in ein Abendrot wandelte, sich auch in der Dämmerung nicht hinter die Berge verziehen wollte, sondern wie ein Novembernebel aus den Ebenen aufstieg. Sie dachten, das Feuer würde sie verschonen. Sie sind immer Rechtschaffen gewesen. Gelogen hätten sie nur in Notfällen. Nie ein größeres Verbrechen begangen, als sich in Nachbars Garten an den Kirschbäumen zu vergehen. Doch alles Gutsein, alles Flehen hatte nicht geholfen. Sie erwarteten das Unvermeidliche. Hielten sich an den Händen. Standen beisammen. Im Sterben vereint, wie sie es im Leben nie waren.


20.200.818:0.929 Zum Archiv

Diskussion mit einem Autor über Verlagsstrategien. Dabei ging es um ISBN-Nummern, Amazon, Vertrieb und ähnliches. Der Autor meinte, dass ein Verlag, der auf eine ISBN-Nummer verzichtet und sich der Verkaufsplattform Amazon oder Auslieferern wie Morawa verweigert, diskreditiert sei, weil ihn dann niemand mehr ernst nähme.

Eine solche Behauptung negiert ein paar wesentliche Umstände. Die ISBN, die ein Buch eindeutig indentifiziert, ist ja kein Naturgesetz, sie dient lediglich den Interessen seiner Vermarkter*innen. Das einzige, was eine ISBN für Verlage und Autor*innen möglich macht, von Buchhandlungen gefunden zu werden. Die ISBN wird ja nicht umsonst vom Hauptverband des österreichischen Buchhandels vergeben. Sie dient den Profiten der Buchhandlungen. Alle jammern immer über das Sterben der Buchhandlungen, keiner fragt wie es den Klein- und Kleinstverlagen damit geht, dass sie dem Buchhandel bis zu dreißig Prozent oder mehr Rabatt gewähren. Das ist der eigentliche Sinn der ISBN, den Buchhandel zu nähern. Und mittlerweile nicht mehr kleine, rührige und wichtige Drehscheiben literarischen Lebens und Vermittler*innen von Texten, sondern wir alle nähren damit multinationale Unternehmen.

Und dazu kommt noch der Versand. Die größten Profiteure der ISBN sind ja mittlerweile die Postdienstleister. Ihr Name hat sich nur verändert, nicht ihre Strategie. Heute heißen sie Logistikunternehmen. Doch wer etwas versenden will, braucht nicht nur eine Menge Geduld, sonder auch Spürsinn. Im Dschungel der Tarife zählt heute ja nicht mehr bloß das Gewicht einer Postsendung, sondern auch ihr Umfang, wie schnell sie am Ziel sein soll. Alles wird berechnet. Und kostet bis zu dreißig Prozent des Verkaufswertes.

Wer mir den Nutzen einer ISBN erklären will, soll mir auch sagen, warum ein Verlag sechzig Prozent des Verkaufswertes eines Buches an Zwischenhändler verschwenden soll. Zumindest den Buchhändler können mündige Leser*innen ausschalten, indem sie direkt auf den Verkaufsseiten der Verlage bestellen oder noch besser, direkt bei den Autor*innen. So bleibt der maximale Profit in Händen der Autor*innen.

Und das Ziel von Verlagen muss doch sein, möglichst viel Profit bei den Autor*innen zu belassen. Wer mir die Werthaltigkeit einer ISBN-Nummer erklären möchte, der hat einige unumstößliche Marktmechanismen nicht verstanden. Die Autor*innen, als kreative Produzent*innen, sind das schwächste Glied in der Verwertungskette, obwohl sie ihre Basis bilden.

Ein Autor*innenverlag hat nicht die Verwertungskette im Blick zu haben, sondern Autor*innen die Möglichkeit zu bieten, eigene Verwertungsketten aufzubauen. Und in diesem Prozess spielt die ISBN-Nummer nur eine untergeordnete Rolle.


20.200.817:2.212 Zum Archiv

Seine nackten Füße berühren den Wiesengrund. Das Licht der Sonne legt sich auf seinen Körper. Um ihn herum zirpen die Grillen. Das Licht der Sonne neigt sich, hinter den hohen Buchen, die am Waldrand wie Nachtwächter ihre Kronen zum Himmel recken, dem Ende entgegen. Ein leichte Brise kommt aus dem Osten, streift den Hügel und flieht Richtung Westen, lässt eine rauhe Stimme zwischen den Gräsern zurück, die sich seiner Blöße bemächtigt. Sie raunt ihm zu, was aufgespart ist für die Ewigkeit und setzt ihn in Bewegung.

Am Waldrand gestrandet, lässt er sich die feuchte Erde auf der Zunge zergehen und er hört das ohrenbetäubende Knarren der Äste, das die Vogelschwärme aus ihren Nistenplätzen aufschreckt, und sie erheben sich aus den dunkelsten Tiefen und jagen über sein Haupt hinweg. Ihre Gefieder streifen seine Stirn und bemächtigen sich seiner Erinnerungen, nehmen sie mit, tragen sie fort. Gen Süden.

Er betritt den Wald nackt und bloß. Ohne Erinnerung.


20.200.816:1.004 Zum Archiv

In den letzten Tagen einige Diskussionen mit Autor*innen geführt. Dabei sind ein paar bemerkenswerte Sätze gefallen. Sie haben mich nicht erstaunt. Nur zum Widerspruch angeregt. Eine Autorin hat mir in einer kurz aufgeflammten Debatte über meine Arbeit mit Schüler*innen und meine Auseinandersetzung mit dem, was sie als ihre Welt bezeichnen und was ihr Zugang zur Literatur, zu Verlagen, zum Literaturmarkt ist, folgenden Satz geschrieben: Die SchülerInnen haben keine Ahnung, wie ein Verlagsleben läuft, auch wenn sie es erzählt erhalten, zu dem leben sie von der digitalen Bildfläche ins Aug. Ich war ja auch noch nie mit ihnen im Gespräch. Sie müssten zu interessierten LeserInnen heranwachsen.

Dieser Satz, aus der Feder einer Schriftstellerin geflossen, ist durchaus beachtenswert, weil er eine Geisteshaltung spiegelt, der einem Vorwurf gleicht. Er unterstellt, dass Schüler*innen ahnungslose Halbgebildete sind. Nun, dem muss ich auf das schärfste widersprechen. Schüler*innen sind, was sie sind, Lernende. Manche von ihnen gieren nach Wissen und sie sind durchaus in der Lage zu verstehen, wie ein Literaturmarkt funktioniert, wenn er ihnen erklärt wird, und ihnen mit einem Buchprojekt gezeigt wird, wie komplex er ist und welche Macht- und Herrschaftsinteressen in ihm und durch ihn wirken.

Das Bild als Dreh- und Angelpunkt eines Schüler*innenlebens. Was für ein Vorurteil. Natürlich spielt das Bild eine wesentliche Rolle in ihrem Leben, das bewegte Bild vor allem, aber sie leben nicht davon. Sie sind erfüllt von zahllosen Ängste, Sehnsüchten und Hoffnungen, von utopischen Lebensentwürfen, die manchmal eher einer Dystopien gleichen und finden kaum Orientierungspunkte in dieser Welt, in der das bürgerliche Ideal der Aufklärung seine ideologische Kraft eingebüßt hat und oft auch pervertiert wurde. Woran sollen sie sich denn halten, wenn ihre Väter und Mütter als Projektionsfiguren und als Mensch auslassen, an denen man sich als Jugendlicher abarbeiten kann. Woran sollen sie sich denn halten, wenn Autor*innen in diesem Land mit sich selbst und der Tagespolitik beschäftigt sind, anstatt sich um die großen Fragen der Zeit zu bemühen. Inside Brüssel, interessiert kein Schwein. Und ob eine Frau beim Sex einen Orgasmus hat und wer daran schuld ist, dass sie keinen hat - wen kümmerts, vor allem wenn der Mann dabei auch unbefriedigt bleibt, denn Sex ist ein von gesellschaftlichen Bedingungen geprägtes Bedürfnis der Menschen, das von den herrschenden Produktionsweisen und Eigentumsverhältnissen bestimmt wird. Damit könnten wir uns beispielweise als Autor*innen beschäftigen.

Mag sein, dass die Schüler*innen von Bildoberflächen leben, aber das ist alle mal besser, als oberflächlich zu leben und banale und geistlose Texte zu schreiben. Die Kunst, die Politik, die Wissenschaft lassen die Jugendlichen orientierungslos im Strom ihrer Welterfahrung treiben und liefern sie so extremen Ideologien aus. Sie sind das Treibholz in einem reißen Fluss, der sie mitzieht, und keine rettende Hand in Sicht, und sie können das Tosen des Wasserfalls schon hören. Und um das kommende, unvermeidliche Unheil nicht spüren zu müssen, vergraben sie sich in der Bilderflut und Wahnwitzigkeit der Virtualität, weil es dort für wenige Augenblicke Halt gibt, der sie über den Tag bringt. So hat jede Generation ihre Droge, mit der sie der Bestialität der Welt, die sich in ihr eingenistet hat, begegnet.

Und dann kam der Teil, der mich wirklich empörte, die Schüler*innen müssen zu interessierten Leser*innen heranwachsen. Warum müssen sie das? Diese wenigen Wort enthüllen die eigentliche Tragödie unserer Zeit. Manche Autor*innen denken offensichtlich, dass Menschen dazu da sind, ihre Bücher zu lesen. Dafür gibt es keinen Grund. Und Schüler*innen sind doch nicht die Leseknechte von uns Schreibenden. Sie müssen nicht zu Leser*innen heranwachsen, nein, sie sollten sich meines Erachtens zu selbstständig denkenden und handlunsgfähigen Erwachsenen entwickeln, wozu jede*r von uns seinen Beitrag leisten kann, indem wir sie als Lernende ernst nehmen, sie unterstützen bei dem, was sie wollen und ersehnen.

Schüler*innen sind durchaus in der Lage zu unterscheiden, welche Literatur ihnen die Umstände ihrer Welterfahrung enthüllt oder erklärt und welche Texte nur leeres Worthülsengeschwätz vermitteln. Leserinnen sind nicht für unsere Bücher da. Sind nicht unsere Kunden. Unsere Bücher sind auch nicht für unsere Leserinnen da. Müssen ihnen nicht den Tag versüßen oder vermiesen. Bücher sind die Axt für das gefrorene Meer in uns, wie Kafka gesagt hat. Andere Bücher kann laut Kafka jeder schreiben. Bücher fürs Herz und für die Seele. Für Schüler*innen sind Bücher im besten Falle utopische Entwürfe einer Welt, die sie leben wollen aber noch nicht können, weil sie eben ohne Bücher für sie nicht sichtbar wird. Wie Ingeborg Bachmann gesagt hat, ist Literatur immer eine Form des Utopischen. Für mich und meine Vorstellung von Literatur trifft das ganz sicher zu. Und eine Literatur, die das nicht zumindest als Versuch wagt, ist nicht die Druckerschwärze wert, die man dafür vergeudet.

Ich bin überzeugt davon, dass das Ziel der Buchproduktion nicht alleinig sein kann, dem Autor/der Autorin einen Zugang zu Leser*innen oder dem Literaturmarkt zu verschaffen. Ich denke, es bedarf der Bücher, um eine Welt sichtbar zu machen, die in die Zukunft weist. Und nur an solchen Büchern bin ich interessiert. Und nur deshalb habe ich die Edition Art Science mitbegründet. Ich habe nicht fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in die Edition investiert, um Autor*innen Produktionsmittel für ihr ökonomisches Überleben oder die Befriedigung ihrer persönlichen Eitelkeiten an die Hand zu geben, sondern eine Basis für Texte zu schaffen, die das Zeug haben, Schüler*innen im Speziellen und Leser*innen im Allgemeinen zu begeistern, ihnen Orientierung zu verschaffen.

Letztlich kann keine Macht der Welt Menschen dazu zwingen, Bücher zu lesen, die sie nicht berühren. Und es gibt einen guten Grund dafür, warum Schüler*innen lieber englische, amerikanische, russische, afrikanische oder arbaische Literatur in Übersetzungen lesen, weil sie ihnen mehr über die Welt, in der sie selbst leben müssen, enthüllen, als jene Bücher, die wir ihnen zu bieten haben. Und ich konfrontiere sie konsequent mit den Klassikern der deutschsprachigen Literatur, weil ihnen in jedem Fall Brecht, Kafka, Bachmann, Rilke, Hesse näher sind als auch nur ein österreischischer Bahr, außer vielleicht ein Hermann.


20.200.815:2.132 Zum Archiv

Eine Lesung. Zuhörer und Zuhörerinnen. Ein Lesender. Ich lese nicht gerne aus meinen Büchern vor. Ich fühle mich dann irgendwie fehl am Platz. Wie ein Hochstapler, der vorgibt ein Schriftsteller zu sein. Immer von der Angst erfüllt, sogleich als Scharlatan, als Kunstkrüppel entlarvt zu werden. Jeden Augenblick der Lesung denke ich, was es wohl denkt, das Publikum.

Das Setting der Lesung entspricht nicht meinem Naturell. Ich bin nicht auf das Vorlesen meiner Texte angelegt. Lieber spreche ich über den Akt des Schreibens. Über dieses Experiment, von dem man nie wissen kann, wie es ausgehen wird. Dem Scheitern, das sich in jedem Text enthüllt.

Ich erschreibe und erfinde mir mit Leidenschaft eine Welt, aber sie den anderen vorzulesen, ist nicht mein Sache. Sich die Welt erlesen kann niemand besser als der Leser und die Leserin selbst. Dazu braucht es den Autor, die Autorin nicht. Reden über den Zustand der Welt, über ihre Möglichkeiten und Grenzen, darüber, was uns vereint und trennt, das ist mein Wesen. Wäre ich religiös oder einer Kirche zugeneigt, hätte ich Prediger werden können. Aber da ein atheistischer Prediger in unserer Welt keinen Platz hat, bin ich Schriftsteller geworden, der eine Lesung als Mittel zum Zweck begreift, um mit dem Publikum ins Gespräch über den Zustand der Welt zu geraten.


20.200.814:1.617 Zum Archiv

Spazierwege. Auf Anhöhen. Ziehen sich entlang der Täler. Rastplätze der Flaneure. In schwierigen Zeiten geraten sie in Vergessenheit. Auf den ungepflegten Wegen zurückgelassene Natur. Holzstücke. Herbstreste. Sturmschäden. Ein Blick. Ein See. Manchmal. Blau. Berge wie eh und je. Der Schnee taut, als wäre nichts geschehen. Bäche tanzen. Vögel singen. Blätter rascheln. Am Wegrand. Veilchen. Primeln. Buschwindröschen. Kleine weiße Blüten. Hinweisgeber. Föhniger Wind streift über die Hänge wie ein Wilderer am frühen Morgen. Selbst der See scheint zu ahnen, was jenseits der Ufer vorgeht. Er hat sich zurückgezogen. Liegt da. Glatt. Bewegungslos. Menschenleer. Ist emigriert. In seine Tiefe. Nichts, ist wie es einmal gewesen war. Kein Schreien. Kein Toben. Kein Sterben. Stille. Lebendige Stille. An der Peripherie des Tumults ist keine Zeit für Aufruhr. Wenn tausendfach gestorben wird und die Flammen in den Krematorien gut genährt sind, ist der Spaß an sein Ende gekommen. Und selbst der liebe Augustin würde sich heute nicht mehr betrinken. Es gehört sich nicht, zu singen und zu tanzen, wenn die Gäste der großen Sause in weißen Lacken siechen, als ginge die Welt zugrunde. Niemand sagt, was ist, weil wir ins Hoffen verliebt sind. Das Grauen hat sich zurückgezogen. In die Zentren der Welt. In die Städte. Hospize. Seuchenkammern. Dort plagen sich die Redlichen. Die Aufrechten. Helden. Opfer. Aufopferung. Allüberall. Endkampf um jedes atmende Herz. Schlag auf Schlag. Bis der letzte Atemzug im Inneren verklingt.


20.200.810:0.912 Zum Archiv

Ich denke, es gibt zwei Strategien, mit seinem Nachlass umzugehen, die eine von Sigmund Freud angewendete, immer wieder einige der Materialien zu verbrennen, womit man gewährleistet, dass man die Diskursmacht über seine Geschichte zumindest zu Lebzeiten nicht aus der Hand gibt.

Die andere Strategie ist, jeden Fetzen Papier aufzuheben, wie es Sartre scheinbar getan hat. So erstickt die forschende Nachwelt in einer Fülle, sich oft widersprechender Texte und es braucht einen langen Atem, um sich durch den Dschungel der Wörter einen gangbaren Weg zu schlagen, damit man zum Kern der Biographie und des Werkes eines Autors vordringen kann.

Ich habe mich für Sartres Strategie entschieden und jedes Bit meines Schreibens, also die binären Ziffernfolgen, die meine Texte auf den Bildschirm zaubern, zu archivieren. Und so haben sich in meinem analogen, mit Handschrift und Schreibmaschine hergestellten Archiven, zahlreiche Schriftstücke angesammelt. Und spätestens seit der Jahrtausendwende, liegen sie tief vergraben in meinen digitalen Speichern.

Dennoch bleibt die Frage offen: Wie zu Lebzeiten die Fülle psychologisch zu bewältigen ist. Eine Möglichkeit ist sie zu ignorieren, die andere sie wiederzulesen, die dritte sie zu kommentieren. Ich habe mich für die dritte entschieden. Radikale Publikation bei gleichzeitiger Kommentierung. Damit kann ich mir zu Lebzeiten ein Stück Diskursmacht erobern und die Forschung, so es je eine geben sollte, durch die Fülle an Informationen in die Irre führen.


20.200.809:0.949 Zum Archiv

Das Problem mit der Gewalt ist, dass sie sich durch Gewaltfreiheit nicht aus der Welt schaffen lässt. Auch ein gewaltloses Handeln, also ein auf bestimmte Situation bezogener Gewaltverzicht, kann da keine Abhilfe schaffen. Diese leidvolle Erfahrung mussten schon Jesus und Ghandi machen. Doch die hatten als ihre Basis eine religiöse Ideologie, die sie in ihrem Menschsein getragen hat. Doch was soll ein Atheist in einer gewalttätigen und gewaltbereiten Welt tun, dem es an universeller Liebe für alle Menschen mangelt. Vielleicht könnte er der alltäglichen Gewalt im Umgang mit Menschen abschwören, das schafft aber nicht die Gewalttäter*innen aus der Welt, die unter uns weilen, die einen von uns wählen, ihn schlagen, zu Tode prügeln, ihn ausbeuten, ihn demütigen, ihn wegsperren, die unter unseren Brüdern und Schwestern, unseren Müttern und Vätern, unseren Frauen, Männern und Kindern, unseren Freund*innen ein Opfer wählen und es hinschlachten wie Vieh. In solchen Stunden halte ich mich, in meinem unheiligen Zorn, an Bertolt Brecht, der auf die Handlungen dieser Gewalttäter*innen eine letztgültige Antwort gefunden hat: Diese Gewalt muss vernichtet werden, durch ein Feuer, bevor es Nacht wird.

Oder aber ich halte mich an Heinar Kipphardt, der in seinen Angelsbrucker Notizen im Kapitel 11 schrieb: Mein Vater, aus Buchenwald zurück | recherchierte vor Ort | wie er A.H. in München | beim Besuch seiner alten Freundin H. | ich glaube in der Amalienstraße rückwärts | erschießen könne | aus einem Maleratelier | mit einem Zielfernrohr und Fluchtweg | über die Dächer. | So liegt mir der Torrorismus im Blut.

Wäre ich zu einer anderen Zeit geboren und nicht mutlos, feige und ängstlich, so hätte ich ein Terrorist werden können, einer der sein Opfer ohne Reue wählt. Mein Glück war und ist, dass ich ein Kind des Friedens bin und keine Ahnung vom Töten und Morden habe.


20.200.808:1.740 Zum Archiv

Heinar Kipphardts Kriegsgedichte gelesen. Seltsam wie mich seine Zeilen berühren und erreichen: Wenn der Fluß nicht anders durchschritten werden kann | als über Leichen | mußt du der Letzte sein. An anderer Stelle heißt es: Während im fernen Vietnam andere | für euch andere Häuser zerschmeißen, | unfreie, | fahrt ihr ins schönere Grüne | im eigenen Volkswagen.

Als nachgeborenes Kind des letzten europäischen Krieges haben meine Eltern, die zwischen Bomben und Granaten ihr Kindheit verlebten, Wohnsitz in mir genommen, und als Enkelkind des vorletzten europäischen Krieges haben sich meine Großeltern in mir eingenistet wie ein Geschwür, und dennoch kenne ich nichts als ewigen Frieden, denn die Feldzüge in der russischen Tundra und in der nordafrikanischen Wüste gehören dem letzten, dem verlorenen Jahrhundert an und Vietnam ist längst zum Symbol eines universellen Pazifismus geworden. Hiroshima feierte erst vor ein paar Tagen seine fünfundsiebzigste Wiederkehr als Mahnung dafür, dass jeder von uns etwas zu einem weltweiten Frieden beitragen kann. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass der Krieg in mir eingeboren ist, dass ich Teil eines kriegerischen Friedens bin. Alle, die Politiker*innen und Prediger*innen, sprechen vom europäischen Friedensprojekt und doch kann ich nicht daran glauben, denn erkauft ist es mit Kriegen anderswo, die mit den in europäischen Ländern gefertigten Waffen geschlagen werden. Wie hat Günther [Anders] geschrieben: Der Friede ist immer geschieden.

In einer Welt, in der um jede Landmarke, um jede Quelle, um jede Ressource, sei es ein Stein oder ein Mensch gekämpft wird, als sei jede Schlacht die letzte, eine für Volk und Vaterland, folgt auf jeden Friedenstag eine kriegerische Nacht. Ein Friedensprojekt kann keinen Bestand haben, wenn wir den Krieg anderswo mit unseren Waffen befeuern und gleichzeitig sagen: Uns trifft keine Schuld.

Nun ja, was wäre also zu tun, den ewigen Krieg zu beenden. Selbst zur Waffe greifen? Das kann ein Pazifist wohl kaum in Erwägung ziehen. Aber eines kann er tun: Widerspruch leisten, wo in Sonntagsreden Hass geschürt wird und er kann jeder Form kriegerischer Handlungen abschwören, sich nicht an Kriegshetze und Kriegshandlungen beteiligen.


20.200.807:1.916 Zum Archiv

Ich möchte Geschichten erzählen, die der Mitte der Welt entspringen. Geschichten von Menschen mit Schicksalen. Mit Orten. Heimaten. Zeitläufen. Ich streune durchs Netz auf der Suche nach leibhaftigen Erzählungen, nach berührenden Geschichten, die mir zeigen, wie man schreiben muss, um Menschen zum Leben zu erwecken.

Die Geschichten, die von mir auf den Weg gebracht werden, wirken auf mich beim Wiederlesen nicht nur fremd, sondern auch unzureichend, manchmal ein Anfang, meist im Beginnen schon ein Enden. Die Zeit als erzählerisches Mittel ist verloren und man muss sie auch nicht mehr suchen, denke ich. Und Orte sind doch nur geographische Fiktionen. Aber wenn es keine Zeit mehr gibt und keinen Raum, wenn nichts mehr vorüberstreicht und sich nichts mehr bewegt und nichts mehr festhalten lässt, wie soll man dann noch eine Geschichte erzählen.

Wenn der Raum sich in Fiktion auflöst, weil der eine Ort vom anderen nicht einmal mehr durch eine Millisekunde getrennt ist, nur einen Mausklick weit entfernt, wie wir heute sagen und die Zeit so relativ ist wie das Leben selbst, wie kann einer da noch Geschichten aus einer Mitte erzählen, die längst verloren ist. Einer bürgerlichen Mitte, mit bürgerlichen Individuen, die emotional erkaltet sind und deren Leben einer zombiehaften Totenstarre gleichen.

Was macht ein bildungsbürgerlicher Roman noch für einen Sinn, in einer Welt, in der das Bildungsbürgertum sich als Subjekt einer radikalen Gesellschaftsveränderung aufgegeben hat. Wenn meine Überlegungen aber nicht vollkommen weltfremd verschroben und aus der Zeit gefallen sind, dann kann der Schriftsteller heute nur noch erzählen, wenn er Zeiten und Räume nicht mehr als historische, also geschichtliche Zusammenhänge denkt, sondern als Projektionsflächen, um darauf die Einsamkeit und die Verlorenheit des bürgerlichen Individuums sichtbar zu machen.


20.200.806:1.846 Zum Archiv

Helga Rabl-Stadler, Präsidentin der Salzburger Festspiele, sprach in Gedanken auf Ö1 folgenden Satz: Wir [die Salzburger Festspiele] freuen uns mit, über diesen wirtschaftlichen Beweis, dass Kunst uns aus der Krise führen kann.

Hier liegen wohl zwei Missverständnisse vor. Das erste scheint mir zu sein, dass die Begriffe Kunst und Kultur verwechselt in falschen Kontexten gebraucht werden. Die Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt. Während die Salzburger Festspiele eine Organisationsplattform bieten, die Kunst präsentiert. Kunst ist also nur eine Form von kultureller Leistung, wie eben auch das Organisieren von Kunst eine solche ist. Aber Kunst und Kultur sind nicht dasselbe und wenn eine Kultur versucht ihre Kunst für Herrschaftszwecke zu instrumentalisieren, dann müssen die Produzent*innen eben dieser Kunst über das normale Maß hinaus wachsam sein.

Festzuhalten ist, dass Kulturorganisationen und Künstler*innen im Kapitalismus eine Symbiose eingegangen sind, weil das eine ohne das andere nicht mehr existieren kann, wenn die Künstler*innen und ihre künstlerischen Produkte sichtbar werden sollen. Diese Sichtbarkeit ist für Künstler*innen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Notwendigkeit, wie Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen schreibt: Sicher ist, daß nicht zur Literatur gezählt zu werden oder eiens Tages nicht mehr dazu gezählt zu werden, für den Schriftsteller eine schreckliche Vorstellung ist, daß es einem Todesurteil gleichkommt. Was für die Literatur gilt, gilt für alle anderen Formen künstlersicher Produktion. Doch im Gegensatz zu Künstler*innen, welche die Kulturorganisationen für ihr ökonomisches und soziales Überleben brauchen, benutzen die Kulturorganisationen und ihre Präsident*nnen, Besitzer*innen und Förder*innen, die Kunst nicht nur um ihr wirtschaftliches Überleben und ihren Profit zu sichern, sondern eben auch dazu, sich im Licht der Künstler*innen zu sonnen.

Nebenbei ist noch festzuhalten, dass die Kulturinstitutionen sich nicht nur des sozialen Kapitals der Künstler*innen bedienen, sondern auch durch ihre Einladungspolitik dazu beitragen, die Hochkultur von der Subkultur zu trennen und was noch viel schwerer wiegt, das künstlerische Proletariat auszugrenzen, von dem was sie als künstlerische Mitte oder vielleicht auch den künstlerischen Olymp bezeichnen. In den großen Festivals verfestigen sich die herrschenden Verhältnisse auf dem Kunstmarkt, durch die ungerechte Verteilung der eingesetzten Mittel und die ungleich verteilte mediale Aufmerksamkeit und dies alles unter dem Deckmantel die Kunst der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die unheilige Allianz von Festspielen, Tourismus, Kapitalinteressen der Förder*innen und Staatssubventionen bringt ein Kunst- und Kulturverständnis hervor, das nicht die Kunst und ihre künstlerischen Prozesse im Blick hat, sondern lediglich die Möglichkeit diese zu vermarkten und den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Geldgeber*innen zu unterwerfen.

Das zweite grundlegende Missverständnis, das sich in der Aussage von Rabl-Stadler verbirgt, ist jenes, dass Kunst uns aus der Krise führen kann. Nichts kann uns aus der Krise führen, als die Vernunft der Menschen und ein Wirtschaftssystem, das jeden Menschen in gleichem Maße in den Blick nimmt, mit seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen. Zu behaupten, dass die Kunst uns einen Weg aus der Krise weisen könnte, überhöht nicht nur die Möglichkeiten der Kunst und ihrer Produzent*innen, sondern verschleiert, dass die Kunst einzig dazu dient, den wirtschaftlichen Motor eines kapitalistischen Systems in Gang zu bringen, das mittlerweile alle Lebensbereiche erfasst hat. Und was die Präsidentin nicht sagt: Die wirtschaftlich potenten Kulturfestivals ignorieren nicht nur mit den Auftritten der etablierten und herrschaftslegitimierenden Künstler*innen die künstlerischen Ränder und Peripherien, sondern machen sie gleichsam unsichtbar und grenzen sie aus dem medialen und damit öffentlichen Kunstdiskurs aus.

Kurz gesagt: Die Künstler*innen und Kulturvermittler*innen der gesellschaftlichen Mitte sind systemstabilisierend, und damit sind sie dann am erfolgreichsten, wenn sie diese Systemsabilisierung in ihren Produktionsformen mitdenken und im Auge des kulturellen Hurrikans zur Diskussion stellen, ohne die Events selbst, deren Kunstknechte und Kunstmägde sie sind, radikal mit ihren künstlerischen Äußerungen in Frage zu stellen und im Zweifelsfalle intellektuell und künstlerisch zu sprengen.

Kunst und ihre Vermittlungsformen sind an ihr bürgerlich-aufgeklärtes Ende gekommen, weil sie dazu beitragen den kapitalistischen Markt und seinen Willen zur Herrschaft in all seinen Formen zu stärken und nicht dazu beitragen, ihn radikal in Frage zu stellen und letztlich zu zerstören.


20.200.805:1.043 Zum Archiv

Was sich beim Archivieren meiner Texte zeigt, ist die Vorstellung, dass ich ein Werk geschaffen habe. Auch wenn das seltsam klingt, wenn es derjenige sagt, der es hervorgebracht hat. In der Gesamtheit aller Schriften, manifestiert mein Archiv mein Werk. Im Duden findet man als eine der angebotenen Definitionen für den Begriff Werk folgende Beschreibung: Gesamtheit dessen, was jemand in schöpferischer Arbeit hervorgebracht hat.

Ein Grund dieses, mein Werk sichtbar zu machen, liegt wohl in dem Bedürfnis, es für die Nachwelt zu retten. Und nun hör ich schon das Geheul derjenigen, die von Kleingläubigkeit zerfressen sind und denen es am nötigen Größenwahn fehlt, um in die Geschichte einzugehen: Was für eine Überheblichkeit, dass die Nachwelt ihm Bedeutung zuschreiben wird. Was hebt denn sein Werk heraus, dass er es für würdig hält, es der Nachwelt zu erhalten? Was ist daran so bedeutend, dass es für sie sichtbar werden soll?

Denen, würde ich antworten, nichts hebt es hervor. Es gibt keinen Grund, mein Werk zu sichern, außer meinem eigenen Wunsch für mich selbst in meiner Gesamtheit sichtbar zu werden, mich dem Schmerz auszusetzen, der darin liegt, sich dem, was man denkt, immer nur schreibend annähern kann. Gleichzeitig möchte ich mir auch versichern, dass es eben doch eine Entwicklung gibt, die sichtbar zu Tage tritt, wenn man sich mit seinem Scheitern konfrontiert, denn jeder neue Text ist ein Scheitern. Erst im unausgesetzten Schreiben, das sich von Tag zu Tag müht, Stunde um Stunde um ein angemessenes Wort ringt, zeigt sich ein Gelingen. Kein schriftstellerisches Gelingen, sondern ein denkerisches, denn die Schrift ist ja nichts weiter als die Sichtbarmachung des Denkens, seine Materialisierung. Mit Schrift stellen wir unser Denken zur Disposition. Und im Archivieren der Schrift stelle ich das Scheitern und Gelingen meines Denkens zur Verfügung, zur freien Verwendung, liefere ich es aus.

Warum? Weil ich es kann. Und weil es ein Werk nur geben kann, wenn das Werk sichtbar zu Tage tritt. Und niemand wird dieses Werk zu Tage treten lassen, wenn ich es nicht sichtbar mache, denn ich hoffe, niemand hat sich je der Illusion hingegeben, dass Schreiben eine Tätigkeit ist, die nicht unmittelbar der Kommunikation mit der Welt dient. Mein Schreiben hat sich immer schon der Welt zugewandt und die Publikation meines Archives dient dem gleichen Zweck.

Genug der Rechtfertigungen: Letztlich entspringt mein Wunsch mein Schreiben in seiner Gesamheit sichtbar zu machen, dem Glaube, der schon vor vierzig Jahren, am Beginn meines Schreibprozesses in mir unzerstörbar war und ohne den ich wahrscheinlich nie eine Zeile geschrieben hätte, der Glaube, dass was ich schreibe, mehr ist als Selbstbespiegelung, sondern über meine Existenz hinausweist, in eine Welt hinein, die durch Sprache veränderbar und gestaltbar ist.


20.200.804:1.438 Zum Archiv

Habe begonnen, meinen Nachlass zu digitalisieren. Es ist seltsam seinen frühen Texten wieder zu begegnen. Beschlossen ist auch, einen Schritt weiter zu gehen und alle Materialien in meiner [Kommentarseite] zu publizieren.

Das wirft zumindest eine Frage auf: Warum unterziehe ich mich diesem inhaltlich und emotional so qualvollen Vorgang? Das Wiederlesen von Texten ist ja kein Vergnügen. Es ist eine andauernde Auseinandersetzung mit meinem Scheitern. Aber der Wissenschaftler in mir kann oder besser will nicht anders. So wie ich für mich als Schriftsteller das Forschungsubjekt bin, bin ich für den Archivar das Forschungsobjekt. Der Germanist und der Historiker in mir interessieren sich dafür, wie aus dem Schüler Kremlicka der Autor Bahr geworden ist. Was seine biographischen, denkerischen und sprachlichen Konstanten sind, denn im Grunde hat man spätestens mit seinem dreißigsten Jahr die wichtigsten Erfahrungen im Leben gemacht, ab dann beginnt man diese Erfahrungen zu wiederholen oder in ihrer Wiederholung neu zu bewerten. Was wir Entwicklung nennen, ist ja nichts weiter als die Variation kindlicher und adoleszenter Erfahrungen.

In diesem Sinne ist es eine spannende Reise in die Vergangenheit, um herauszufinden, wie variantenreich meine Erfahrungen denn gewesen sind. Schon die Überschriften meiner ersten Gedichte zeigen, wohin die Reise in inhaltlicher Hisicht gehen würde: [Zwischen Leben und Sterben], [Herbst], [Leben], [Furcht], [Gott], [Freundschaft], [Gegenwart], [68-er], [Glaube], [Vernichtung].

Auch die Formen meines Schreibens waren in ihren Grundmunstern bereits vorhanden: Lyrik, Epik, Tagebücher, Notizen. Was meinen Texten noch fehlte, war eine literarische Form, eine Sprache, die meinem Denken gewachsen war. Und wenn es in meinem Leben irgendeine Form von Entwicklung gegeben haben mag, dann war es eine sprachliche.

Das ist auch eine meiner grundlegenden Erkenntnisse aus dem Archivierungsprozess, dass die sprachliche Entwicklung eines Menschen, die einzige Garantie dafür ist, dass er sich auch in seinem Verhältnis zur Welt und damit zu anderen Menschen weiterentwickelt, bis er eine Variante seiner selbst gefunden hat, die er akzeptieren und so mit der ihm aufgezwungenen Existenz Frieden schließen kann.


20.200.803:0.725 Zum Archiv

Gerüche. Geräusche. Alles weist zurück in die Kindheit. Ein Bach. Ein Misthaufen. Die Art und Weise wie die Vögel singen. Das Rauschen der Blätter. Der Gesang des Windes. Die stillen Wasser eines Teiches. Es gibt eben nur eine Kindheit. Nur einen Wald. Nur eine Wiese. Nur eine Hügelkette. Alles andere ist Abgesang. Nichts schmeckt wie der Tau an den Blättern der ersten Tage. Die Verlorenheit auf Waldlichtungen. Das späte Abendlicht. Einsame Spaziergänge. Sehnsucht die schmerzt. Alles mit allem verbunden und über allem der Duft kommender Verheißungen.


20.200.802:0.654 Zum Archiv

Es ist noch ein Stück Widerstand in mir. Ein wenig Rebellion gegen alles, was man gemeinhin Leben nennt. Das eigene Absterben ist eine Kunst, die gelernt sein will.


20.200.801:0.926 Zum Archiv

Bei der Abschaffung des Privateigentums stellen sich mehrere zentrale Fragen: Wer schafft es ab und wo wird es abgeschafft. Zu Zeiten von Marx, Engels und Lenin oder auch Ernesto Che Guevaras verfügten die Gesellschaften, in denen die Revolutionäre lebten, über revolutonäre Elitetruppen, die in intellektuellen Handstreichen und mit Hilfe des Rückhalts in Teilen der Bevölkerung eine solche Abschaffung in ihren Nationastaaten durchführen konnten. Auch damals gelang es ja nur zum Teil und das zeigt, wie schwierig es eben ist, die Abschaffung des Privateigentums durchzusetzen und in ein geordnetes System einer gerechten Umverteilung des gesellschaftlichen Vermögens überzuführen.

Wer wäre denn heute in der Lage, derartige Vorgaben zu machen? Ein einzelner Politiker? Ein einzelner Staat? Die Reichen selbst? Elon Musk? Jeff Bezos? Bill Gates, the Godfather of Charity? Sollten wir es tun? Wir Bürger*innen? Könnten wir es denn? Fehlt es uns nicht schlichtweg an Macht, wie manche sagen?

Nein, denn wir sind die vielen, die Vermögenden die wenigen. Wir nehmen die Macht für uns nicht in Anspruch, weil wir die Verantwortung scheuen. Nach den zahllosen gescheiterten bürgerlichen Gesellschaftsexperimenten, haben wir uns entschieden, das schmutzige Geschäft der Staatsführung, den Politikern zu überlassen, um selbstgerecht und moralisch unbefleckt deren Entscheidungen von der Zuschauerbank aus zu kritisieren. Wir hocken in unseren Einfamilienhäusern, wir die bürgerliche Mitte, und sehen voll Verachtung auf jene hinab, die sich in der Mühsal der Täler damit quälen den Kapitalismus zur Erhaltung unserer bescheidenen Ländereien in Gang zu halten. Doch der Motor unseres Staatswesens schottert. Und nun sind wir in heller Aufregung. Wir laufen kopflos durch die Gegend und rufen nach dem starken Staat. Nach Sicherheit. Und bunkern uns ein in unseren Wolkenkuckucksheimen. Verwandeln uns in noch größere Realitätsverweigerer als wir ohnehin schon sind und halten an unseren liebgewonnen Eigentumsverhältnissen fest. An unseren Häusern, unseren Autos, unseren Löhnen, unseren Frauen und Männern.

Ich bin abgeschweift. Aber wie schon Sinowatz der nachkreiskysche Prinzregent gesagt haben soll: Es ist eben alles so kompliziert. Also zurück zum Thema: Selbst wenn wir das Privateigentum abschaffen könnten, wenn wir diesen gesellschaflichen Kraftakt wirklich stemmen könnten: Was dann? Wem fällt das Eigentum zu? Dem Staat? Doch wer ist der Staat? Der Staat wird gebildet aus der Summe aller seiner an ihm beteiligten Bewohner*innen. Nun ja, wir sind der Staat. Jeder und jede von uns. Doch wenn wir die Verantwortung für dieses Staatswesen verweigern, weil wir die Machtausübung scheuen, wer sollte denn dann das von uns allen erwirtschaftete Vermögen verwalten und verteilen?

Die Abschaffung des Privateigentums, so wünschenswert es wäre, wirft zahllose Fragen in einer global vernetzten und freiheitlich denkenden Gesellschaft auf, denn im Zentrum dieser Abschaffung steht ein Begriff, den wir alle scheuen wie der Teufel das Weihwasser: Verzicht. Und wenn wir als konsumkapitalistische Gesellschaft eine Sache nicht gelernt haben, dann ist es Verzicht zu üben. Wie schwer uns das fällt, können wir derzeit beobachten: Wir sind kaum in der Lage ein Jahr auf jede Form von Urlaub oder auf unsere liebgewonnen Wochenendlandpartien zu verzichten. Wer dort lebt, wo ich lebe, weiß wovon ich spreche. Wie Attila und seine Hunnenkrieger überfallen sie tageweise die Berge und Täler und Seen und verwüsten sie mit ihrem Hunger nach Freiheit und Glück.

Wir lieben unser kleines Stück Freiheit, unser weniges Privateigentum, unsere tausend Qaudratmeter große Scholle mehr als den Gewinn, den wir aus dem Verzicht darauf ziehen könnten. Ja sicher, wir müssten mehr Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, unseren Mitmenschen den gleichen Wohlstand zugestehen wie uns selbst und uns damit um eine gleichberechtigte Verteilung aller erwirtschafteten Güter in unseren Gesellschaften bemühen. Den Preis, den wir zahlen müssten, ist der Verlust unserer gewohnten Lebensweise, der Gewinn, den wir allerdings im Gegenzug einstreifen könnten, wäre eine Freiheit, die sich aus dem kollektiven Bewusstsein speisen würde, dass jeder und jede von uns wahrhafig nur frei sein kann, durch die Freiheit der anderen.


[20.2007] [20.2009]