20.210.202:1.453 Zum Archiv

Es wird der Tag kommen, an dem ich nicht mehr lesen muss, sondern kann. Und dann werde ich vielleicht lesen, was sich an Buchrücken krumm macht auf meinem Schreibtisch und um Aufmerksamkeit bettelt.

Doch wahrscheinlicher wird es kommen, wie es immer kommt, wenn ich konnte, wie ich wollte, wenn ich frei war, zu tun, was immer mir beliebte, noch am selben Tage machte ich mich auf die Suche nach einem sicheren Hafen. Das Schreiben wird mich heimsuchen und ich werde mir das Denken aus dem Leib reißen, wie andere ihre Seele.

Und es wird der Tag kommen, wenn das Licht der Augen mich im Stich lässt und mein Schreiben sich in Sprechen verwandelt, bis die letzten aller Dinge mir selbst das Sprechen verwehren und ich zum Schweigen verdammt sein werde, ein Vergessener unter den Vergessenen, und mein Denken nur noch um das Gewesene kreisen wird, aufgespeichert einst für die vorausgesetzten, kommenden Tage, die nun in mir ruhen, wie ein längst verlorene Versprechen an bessere Zeiten.


20.210.214:0.809 Zum Archiv

Die Verachtung für meinen Vater resultiert nicht aus seiner Einstellung gegenüber der Welt, denn dafür habe ich ihn in all meinen Lebensjahren immer bewundert, ihm nachgeeifert, sondern dem, was er in mich eingebrannt hat, sein Signum, sein Zeichen, das Ererbte und Vererbte. Und es ist eben nicht immer das Beste an mir, das ich von ihm in mir auffinde: eine kräftige Libido; eine Sehnsucht nach Leben, die manchmal mehr schmerzt als ich ertragen kann; eine Ängstlichkeit, die mich abhält, zu tun, was mich in die Welt werfen könnte, unter die Menschen; ein unerbittlicher Arbeitswille; ein Widerstand gegen die allgegenwärtige Dummheit, der mich von den Menschen trennt, die ich liebe; und letztlich sein Glaube an den Geist der Utopie, der in mir haust, ohne Aussicht auf ein Morgenrot.


20.213.231:1.106 Zum Archiv

In mir wohnt eine unbändiges Verlangen nach den Ländern des Südens, griechischen Tavernen, einem Wind, der mir den Atem raubt, einem Meer, das sich an den Horizont lehnt, wenn die Müdigkeit der Tage sich zwischen den Weinbergen am Rande der letzten Nächte ausbreitet, wie eine Melancholie im Sommer meiner Kindheit.

In mir haust eine unstillbare Sehnsucht nach den süßen Früchten, die in Gärten wuchern und keiner Pflege bedürfen, nach dem Oleander, der all seine Farben verschwendet, zu denen er fähig ist, ohne nach Lohn und Gegenleistung zu fragen.

In mir siedelt ein unersättliches Begehren nach dem Duft, der sich Abends aus dem Meer erhebt, wenn die Brandung sich am Ufer verläuft und alles mitnimmt, was ich an Geschichte zwischen den Sandkörnern zurückgelassen habe.


20.210.211:0.710 Zum Archiv

Es wird Zeit für ein Vaterbuch, nicht über sein Leben, denn darüber weiß ich nichts zu berichten, auch wer er gewesen ist, ließe sich von mir nicht festhalten, denn als Sohn irre ich durch ein Leben, das mein Vater mir hinterlassen hat, in mich eingeschrieben hat.

Ein Buch, das mich und meinen Vater mitten ins Herz trifft, werde ich schreiben, wenn alle, die ihn liebten, verstorben sein werden.

Worüber ich jedoch schreiben kann, ist ein Buch über den Künstler, sein Werk, den Ausdruck, den sein Blick auf die Welt in seinen Bildern fand, die auf mich gekommen sind, nach seinem Ableben, weil ich einer bin, der gewohnt ist, den Blick der anderen in mir zu behausen, gleich einem Archivar, der die Seele der Welt für das Kommende bewahrt.


20.210.210:2.158 Zum Archiv

Bis heute bedauere ich, dass ich das Talent zu malen, das mein Vater im Überfluss besaß, nicht geerbt habe, dass ich zurückgeworfen bin auf ein Alphabet, denn Bilder sind unmittelbarer in ihrer Produktion und ebenso in der Rezeption.


20.210.209:0.840 Zum Archiv

Die Idylle ist ein Schauspiel, das sich im Naturgebrauch erschöpft und sie ist immer gefährlich, weil sie die Bösartigkeit der Welt in ihren Naturerscheinungen verbirgt. Doch dort, wo der Mensch abwesend, nur Beobachter ist, bricht sie hervor, gleich einer Eruption, bricht sich Bahn, zebricht das Idyllische und die Hölle der Welt wird mit einem Mal sichtbar.


20.210.208:1.503 Zum Archiv

Beim Kriminalroman handelt es sich um ein Genre der Enthüllung. Es gilt den Tathergang aufzuklären, seine Geschichte zu enttarnen, das Motiv ist dabei Nebensache, oft spielt Schuld keine Rolle. Deshalb wirken manche Kriminalromane und ihre Helden so seltsam amoralisch. Und darum ist Dürrenmatts Richter und sein Henker ein brilliantes Meisterstück, doch eben kein Kriminalroman, denn er handelt von Schuld und Sühne in bester Tradition der russischen Prosa von Dostojewski. Jagen, richten und hängen in einem Atemzug. Genial.

Der Kriminalroman aber ist kein politisches Welttheater, er ist zuallererst eine Archäologie der Ereignisse, ein Historienroman und erst in zweiter Linie ein Psychogramm seiner Helden und Heldinnen; oft mehr eine sozialwissenschaftliche Milieustudie wie sie Friedrich Glauser beherrschte wie kaum ein zweiter; vielleicht manchmal ein Lebensbild der Kommissare oder Ermittlerinnen, die als Alter Ego ihrer Erfinder durch die Bibliotheken geistern.

Vielleicht begründet sich ja darin der anhaltende Erolg und die Beliebtheit dieses Genres bei den Schreiber*innen im gleichen Maße wie bei den Leser*innen. Ein guter Krimi ruft nicht nach moralischer Empörung, will nicht richten, nicht urteilen, nicht sühnen. Die besten ihrer Zunft erzeugen den Schauer, der einem über den Rücken läuft, lediglich durch die Offenlegung des histroischen Kerns im begangenen Verbrechen und nicht der moralischen Beweggründe des Täters.


20.210.204:1.048 Zum Archiv

Wo in trüben Tagen träge Rinnsale durch die Landschaft dümpeln, spürt der geübte Flaneur nun an einem Tag im Frühfeber reißende Bäche auf. Aus den Bäumen regnet der Schnee der letzten Tage. Die Sonne brennt Löcher in das Winterweiß. Gleich einer Urgewalt stürzt Schnee und Eis über die Hänge ins Tal. Erschüttert die Stille. Der Flaneur steht und lauscht dem tausendfachen Tosen, das im Frühfeber einen Frühling verspricht. Selbst in den Wäldern, in denen kein Wasser die Erde trübt, enstpringt aus den nackten Felsen eine Quelle und durchstöbert seine Flanken auf den Wegen talwärts. Und der Wind weht von Osten über die Anhöhe, während der Gesang der Amsel seinem Echo gleicht.


20.210.203:1.535 Zum Archiv

Ein Märztag. Im Feber. Ein Geschenk für die müden alten Knochen. Die Erregung bei den Krähen: groß. Die Freude bei allem anderen Vogelvolk: überschwenglich.


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