Selten konnte er die Situation richtig einschätzen, ob sie sich ihrer Wirkung auf sein Begehren bewusst war, ihn anlocken oder betören wollte oder einfach nur schamlos und gleichgültig dem Tagesanbruch begegnete.
Sie sprachen wenig über ihre Schönheit, machte er sie darauf aufmerksam, dann wies sie seine Komplimente immer mit einem schlichten und ein wenig kokett dahingesagten – Ach, du! – zurück. Und vielleicht war es ja tatsächlich so, dass man immer nur die Schönheit liebte, die einem am Anfang einer Liebe begegnete und man selbst den verfallenden Körper noch als schön empfand, weil man in ihm immer den früheren erkannte. Man liebte also die Imagination dessen, was das Gegenüber, das aufgespürte Wild einmal gewesen war.
Vielleicht war dies das Geheimnis hinter lang andauernden Beziehungen, dass die Beteiligten sich weigerten, zu vergessen, wie die erlegte Beute einmal gewesen war. Die Veränderungen nahmen die Liebenden hin als biologischen Prozess des unvermeidlichen Verfalls, aber gleichzeitig schmeckten sie auch den ursprünglichen Nektar des Begehrens noch auf der Zunge, das Bild an der Retina konnten sie abrufen, das sich dort eingebrannt hatte, schon nach den ersten Stunden, wie ein Zeichen unschuldigen Verlangens, der Geruch des ersten Augenblicks noch aufgespart im Riechnerv, als würden sie beim ersten Kuss schon ahnen, dass sich alles an ihnen verwandeln würde und das Trommelfell speicherte an seiner Membran die Stimmlage der süßen ersten Gespräche gleich einem Trommeln in der hereinbrechenden Dunkelheit der späten Jahre.
Und wenn er die Augen schloss, konnte er all die ersten Begegnung aufrufen, die tief in seinem limbischen System lagerten, die ursprüngliche Vermessung der vielfältigen Genüsse, die er mit seiner Frau geteilt hatte und die er sich jetzt mühelos zu eigen machen konnte, nachdem sie den Morgenmantel geschlossen hatte, ihren Körper seinem Begehren entzog und das Zimmer verließ, um in ihren Abgang hinein zu bestätigen, was er ohnehin schon wusste: Lass dir von mir den Morgen versüßen!
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