20.231.127:0.617 Zum Archiv
Blicke ich in den Spiegel, sehe ich den Fremden, der ich geworden ist. Einen, der mir nahe ist, wie es auch der Tod ist. Ich suche einen Umgang mit ihm zu finden, der in mir haust. Nein, es ist eben nicht nur einer. Es sind viele. Wie das Licht mich spiegelt, sehe ich einen anderen. Ich zähle die Falten im Gesicht, ein Abschied für jede. Und ich denke, so sehe ich als heute aus. Blicke ich jedoch zurück, sehe ich den Fremden, der ich gewesen bin, an den ich mich erinnere, als einen guten Bekannten, manchmal auch wie an einen Freund, aber es ist eben auch eine Tatsache, dass ich diesen Fremden, der ich einmal gewesen bin, nur unter Aufbietung großer emotionaler Anstrengung als mich erkennen kann. Wie hat Günther Anders einmal sinngemäß geschrieben: Wir haben nicht eine vita, sondern vitae. Und er hatte recht damit. Vitae sind es, die ich gelebt habe. Und das einzige, was diese verschiedenen Leben miteinander verbindet, ist das Schreiben.
20.231.126:1.707 Zum Archiv
Unter alten Menschen fühle ich mich immer ein wenig verlegen, so als wäre ich in der falschen Altersgruppe gelandet. Als würde ich mich eingeschlichen haben. Und mich deshalb alle mit Argwohn kritisch beäugen. Selbst unter den jungen Alten, denjenigen, die in ihren Vierzigern sind, fühle ich mich nicht alt genug, um zugehörig zu sein. Körperlich muss ich sagen, spüre ich das Alter. Es hat Wohnsitz in mir genommen. Die Knochen schmerzen und die Muskeln schwinden. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, eine schwere Last mit mir herumzutragen. Und ich sage mir dann: Ja, das ist das Leben, das auf mir lastet. Und es gibt Tage, da sage ich mir: Es ist genug Leben gelebt für ein Leben. Es sind genug Jahre ins Land gezogen für einen Menschen wie mich, der nicht dachte, dass er einst die Schwelle zu seinen Sechzigern überschreiten würde.
Ich weiß natürlich, was es bedeutet, körperlich alt zu werden, aber im Denken bin ich noch zu jung, um abzutreten. Ich treffe viele Menschen, selbst junge, die geistig tausend Jahre älter sind als ich. Körperlich zwar topfit, selbst im Fitnessstudio geht ihnen nie die Puste aus und sie besteigen die höchsten Berge ohne außer Ate zu sein. Aber in ihren Köpfen herrscht nur Leere und Dummeheit. Und den Stolz, mit dem sie ihre Dummheit tragen, erschreckt mich mit jedem Jahr mehr, das ich näher an meine Siebziger heranrücke. So alt wie manche von diesen Alten war ich nie und ich hoffe, nie so alt zu werden.
Sylvester Stallone hat in einer Dokumentation zu seinem Leben gesagt: Bis Vierzig ist das Leben eine Addition, ab Vierzig ist es eine Subtraktion. Damit hat er nicht so unrecht. Ich würde es noch drastischer formulieren. Mit jedem Jahrzehnt nimmt die Gleichförmigkeit des Lebens zu. Da hilft es auch nichts, noch eine Reise zu machen, noch eine Beziehung zu führen, den Job zu wechseln, Kinder zu produzieren. In gewisser Weise wiederholt sich alles.
Aber es ist seltsam, wie wenig ich das Gefühl dieser Wiederholung habe, wie junge ich mich fühle, wenn ich spreche, wenn ich schreibe, wenn ich meine Welt mit meiner Sprache begreife und jeden Tag aufs Neue erfinde. Es ist beinahe so, als würde mich die Sprache alterslos machen. Ich weiß ja nicht, wie alt ich auf andere Menschen wirke, aber ich habe auch keine Ahnung, wie alt ich mir selbst gegenüber bin. Numerisch werde ich Zweinundsechzig im nächsten Frühling. Aber dieses numerische Dasein sagt ja nichts darüber aus, wie alt einer ist. Nur eines kann ich jedoch mit Gewissheit sagen: Mein reales, körperliches Alter entspricht in keinster Weise meinem von mir wahrgenommenen Alter. Das ist seltsam, weil meine körperliche Energie schwindet, aber mein Geist vital ist, offen und aufrichtig. Ich habe das Gefühl, dass seit meinen Fünfzigern immer wieder etwas verloren geht und dennoch etwas hinzukommt.
Ich erwarte den Tag mit Schrecken, an dem ich mich geistig so alt fühle, wie ich körperlich bin.
20.231.122:1.146 Zum Archiv
Ihr Himmel ist, seit sie denken kann, erhellt von Frauen. Das Begehren der Frauen und ihr Begehren nach Frauen bestimmt den Rhythmus ihrer Nächte und Tage. Frauen sind nicht eine von vielen Möglichkeiten etwas über die Welt zu erfahren, sie stellen die Welt an sich dar. Sie sind die Luft zum Atmen, sind ihre Heimat, ihre Nahrung, ihr Urgrund. Und es ist, als würde ihr der Boden unter den Füßen entzogen, wenn sie von einer Frau verlassen wird. Die Frau ist ihr Herz, ihr Atem, ihr Schlaf und ihre Begierde. Ohne sie ist sie auf sich selbst gestellt, der Welt entfremdet. Erst das Leben mit einer Frau macht die Welt zu einem Ort, an dem sie sich heimisch fühlen kann, wo die Langeweile verschwindet und ihre Existenz eine Bedeutung erhält, die über ihr bloßes Dasein hinausreicht.
Und dann war da noch die sexuelle Begierde, die immer weiblich ist. Männlichkeit ist für den Akt der Zeugung vorgesehen, mehr nicht. Männlichkeit ist kein sexuelles Gefühl, sondern eines von Ohnmacht und Haltlosigkeit. Immer ist sie auf der Suche nach dem anderen Körper im gleichen Geschlecht, dem weiblichen Becken, Brüsten und Schamlippen, nach den Regionen der Weiblichkeit, wo all diese Lust und Entspannung wartet, von der sie sagen würde: dort ist Leben, dort kann sie ihren Körper hinlegen und sich ausbreiten, in der Lust des Gegenüber. Und in dieser Weiblichkeit findet sich die pränatale in der postnatalen Erfahrung wieder, das Wasser, zu dem sie sich hingezogen fühlte, zum Meer und zum See, der am Rande der Stadt liegt, in die sie sich zurückgezogen hat. Am Meer mit ihrer Frau leben, das wäre ihr größtes Glück.
Mit Strohhut auf der Terrasse eines kleinen Hauses sitzend, hinausblickend und mit Sehnsucht an den nächsten Akt ihrer Körper denkend, ein Gespräch über den Tag führen und ein gemeinsames Essen abends, wenn die Sonne sich hinter dem Horizont vorne überbeugt, um nachzusehen, was denn am nächsten Tag auf sie warten würde. Und die Kälte würde enden, würd enicht mehr in ihrem Körper nisten, sondern sie wäre erfüllt von einer sanften Brise, die über die Wellen zu ihr ausgreift und sie jeden Tag aufs Neue mitnimmt in die feuchten Träume, die nur von ihrer Weiblichkeit getrocknet werden können.
20.231.117:1.345 Zum Archiv
Wenn es mir gelänge, eines Tages das Schreiben stillzulegen, wäre ich vielleicht in der Lage, meine Tage zu genießen. Mich treiben zu lassen durch die Welt, wie andere loszulassen und mich der unendlichen Leichtigkeit des Seins hinzugeben. Nichts mehr beobachten. Nichts mehr notieren. Nichts mehr dokumentieren. Was aber würde aus dem Menschen werden, der ich heute bin. Eine lose Hülle. Einer, der im Strom der Zeit untergeht. Ertrinkt an dem, was auf ihm lastet, wie ein schwerer Fluch aus Kindertagen. Eine Schuld, die sich Schicht für Schicht ablagert. Ein Morast, in dem die Erinnerungen versinken, die dunklen, arglistigen und gewissenlosen ebenso wie die hellen, treuherzigen und aufrichtigen.
20.231.110:1.745 Zum Archiv
Nackt sitzt er auf seiner Couch. Der Raum ist taghell erleuchtet. Er will, dass sie ihn sehen können. Das Blut, das verstreute Innere seines Gehirns. Sie sollen sehen, was Verzweiflung aus einem Menschen macht, der keinen Ausweg mehr sieht. Er will sich nicht in der Dunkelheit der Nacht davonschleichen, wie ein Abtrünniger, der die anderen im Stich lässt, zurücklässt, mit dieser hoffnungslosen Welt. Dennoch kann er nicht bleiben. Immer wieder kreist der Satz aus dem Talmud durch seinen Kopf: Wer einen Menschen rettet, der rettet die Welt. Gerettet hat er viele. Herausgeführt aus dunklen Tälern. Gesehen hat er viel. Zu viel, wie es ihm manchmal scheint. Grausamkeiten ohne Zahl. Aber man könnte doch auch sagen: Nur wer die Welt rettet, rettet auch jeden Einzelnen.
Doch die Welt ist nicht zu retten. Nicht von ihm und nicht von anderen. Die Welt ist ein Spiegelbild der menschlichen Natur, denkt er manchmal. Nicht umgekehrt. Er kann mit diesem Spiegelbild nicht weiterleben, nicht mit dem seinen, nicht mit dem der anderen. Immer schon hatte er das Gefühl zur falschen Zeit, am falschen Ort, mit falschen Eltern und einer falschen Zukunft geboren worden zu sein. Einer hat einmal gesagt, auf das Sprechen folgt das Schreiben und dem Schreiben folgt das Schweigen. Für ihn ist die Zeit des Schweigens gekommen. Hart und kalt drückt der Gewehrlauf gegen seinen Schlund. Für ihn ist es nun an der Zeit, sich selbst zu retten.
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