20.210.825:0.839 Zum Archiv
In der stetigen Wiederholung der Tage lag für ihn die Beständigkeit der Welt und aus dieser Beständigkeit wuchs seine Gewissheit, dass es einen Sinn geben könnte, den er aus sich selbst schöpfen konnte, der ihn nicht auslieferte, nicht unterwarf, sondern befreite.
20.210.824:0.812 Zum Archiv
In den Neunzigern lernte ich folgenden Satz auswendig, gehört habe ich ihn erstmals aus Hermes Phettbergs Mund: Wir sind alle schon tot, wir wissen es nur noch nicht. Dieser Satz ist auf vielfältige Weise anwendbar. Er ließ sich damals vortrefflich auf die atomare Bedrohung anwenden; heute auf die potentielle Auslöschung allen Lebens durch den Klimawandel; in persönlicher Hinsicht auf das Leben selbst, denn wer geboren wir, beginnt bereits zu sterben und manche sind schon als Jugendliche innerlich tot.
Mir scheint es in diesen Tagen so, dass mein ganzes Leben als Revolte gegen diesen Satz verstanden werden kann. Ich wollte ihn nicht wahrhaben. Doch heute würde ich ihn ergänzen: Ich bin bereits tot und ich weiß es auch. Mein Leben verläuft in einer Beständigkeit, die ich mir nie dachte, dass es diese einmal haben könnte. In der Beständigkeit denke ich, liegt zwar die Möglichkeit in die Mitte des Denkens vorzustoßen, doch wie immer, wenn man die Mitte erreicht, wird es augenblicklich still. Die Welt steht still, wie im Auge eines Orkans. Kein Wind. Keine Bewegung. Nur ein leises Säuseln, als würde das Treiben von Außerhalb sich in den Stromdrähten der Welt verfangen.
Die Beständigkeit mag einem die Mitte der Welt sichtbar machen, aber in der Mitte lauert nur der Tod. Das Leben führt seine Komödien und Tragödien immer für das Publikum an der Peripherie auf.
20.210.821:0.949 Zum Archiv
Julio fuhr jeden Tag die gleiche Strecke mit dem Wagen. Jeden Tag passierte er die große Kreuzung, die die Stadt in vier Hälften teilte. Und jeden Tag erwartete ihn Paolo mit einem kleinen Fetzen Stoff in der Hand, um seine Windschutzscheibe zu säubern. Julio war froh darüber, denn auf seinen zahlreichen Fahrten über die Nebenstraßen der Stadt sammelte sich viel Staub an seinen Fenstern an, sodass er abends bei seiner Rückkehr kaum noch die Auffahrt zu seiner Garage erkennen konnte. Doch am nächsten Tag war Paolo immer zur Stelle, um sich mit einem freundlichen und höflichen: Buenos dias, señor!, an die Arbeit zu machen. Doch eines Tages trat ein anderer Junge an den Wagen. Seine Begrüßung klang hart und unfreundlich.
Wo ist Paolo? , fragte Julio.
Tot, antwortete der Junge und spuckte auf das Glas, um einen besonders hartnäckigen Fleck zu beseitigen.
Tot?
Ja, tot. lrgendwann erwischt es jeden einmal, sagte der Junge.
Ein Auto? , fragte Julio.
Nein, nein! Eine verirrte Kugel. Gestem abend.
Gestern abend, murmelte Julio.
Ja, antwortete der Junge und rieb die Windschutzscheibe blank. Vor seiner Hütte hat es ihn erwischt.
Julio dachte noch, dass er Paolo vermissen würde, doch der nächste Gedanke war bereits, dass er sich durchaus an die forsche Art des Straßenjungen gewöhnen könnte.
20.210.818:0.711 Zum Archiv
Wenn ich mich in wenigen Jahren, in das zurückziehen werden, was andere Pension nennen und wovon Udo Jürgens einst gesungen hat: Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an, mit sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran, werde ich einwenden, dass ich dann ein Drittel meiner Lebenszeit in pädagogischen Anstalten verbracht habe, zu Beginn als Kindergartenkind, danach als Schüler und am Ende als Heimkehrer in die Anstalt als Lehrer. Und es wäre dringend an der Zeit das Elend, das in den Geistesvernichtungsanstalten herrscht, wie Thomas Bernhard die Schule einst nannte, aufzuzeichnen. Die Erfahrungen der Demütigung, der Ignoranz, der Machtbesessenheit, der Rechthabereien, des Korpsgeistes und der Ohnmacht. Morgen werde ich damit beginnen.
20.210.816:1.728 Zum Archiv
Das Leben ist kein Roman. Wir, die wir gewohnt sind das Leben als Erzählung zu denken, schreiben ihn dennoch, wie einen Reflex auf das Bürgerliche in uns, das noch an ein Ich glaubt, das sich fassen ließe, erzählen ließe als ein Ganzes, ein Leben von Beginn an, aber unsere Gewissheit darüber auszusprechen, dass die Zerrüttung der Welt erzählen unmöglich macht, wagen wir nicht mehr.
Darin liegt vielleicht auch der große Erfolg des Fantasyromans, des politischen Thrilles, der Historienepen begründet, in denen das Zerbrochene geheilt, das Abgründige als Ausnahme gedeutet und den Menschen als historische Beständigkeit beschrieben wird.
Und ist dieses Ich durch uns auf Papier gebannt, die wir Worte drechseln, als wären wir Tischler und arbeiteten für einen Lohn, löst es sich in einem Flimmern auf, das die Welt in eine Unschärfe stürzt, in den ungewissen Tagen und den utopischen Nächten. Das bürgerliche Ich unserer Zeit ist nichts weiter als eine Fata Morgana.
20.210.813:1.346 Zum Archiv
Ich bin ein Kind der sechziger Jahre. In den Siebzigern war ich jung und in den Achtzigern lebte ich mein Leben, als kämen danach noch unzählige abenteuerliche hinzu und in den Neunzigern lebte ich mich ein in dem, was andere Mitte nennen, doch ich wurde nie heimisch in ihr.
Heute nennen mich meine Kinder ein wenig abschätzig einen Boomer. Und sie haben recht, mich einen der Vielen zu nennen, denn ich gehöre zu dieser Generation der Mitläufer und Verräter. Über meine Generation werden sie nicht leidenschaftlich sprechen, wie über unsere verbrecherischen Großeltern und Eltern oder so wohlwollend und ein wenig abschätzig, wie über die Kinder der Achtziger und Neunziger.
Uns werden sie verachten und als Ursache allen Übels begreifen. Und wenn sie wüssten, wie recht sie damit haben, würden sie uns bei brennendem Fackelschein mit Knüppeln und Heugabeln bei Tagesanbruch aus ihren Dörfern jagen.
20.210.811:0.847 Zum Archiv
Im Grunde ist alles gesagt. Und dennoch erscheinen jedes Jahr Bücher ohne Zahl. Wir mühen uns ab, weil wir nicht anders können. Doch vielleicht ist unser Schreiben auch nur ein sentimentaler Reflex auf den Verlust der Welt, wie wir sie aus dem zwanzigsten Jahrhundert kannten. Eine melancholische Erinnerung, an das, was wir gemeinhin als Moderne bezeichnen, die als bürgerliche Mitte in uns Wohnstatt genommen hat und als politisches Erbe schwer auf unseren Schultern lastet. Und diese Erinnerungen, diese Sentimentalitäten, diese Melancholien verhinderen, dass wir erkennen, was unsere Zeit ist: ein Epochenwechsel.
Deshalb schreiben wir wie Kinder über den Verlust einer längst vergangenen Epoche, weil wir keine Worte finden für die Utopielosigkeit der kommenden Tage. Wir schreiben nicht wie Karl Kraus über den Epochenwechsel, wir schreiben nicht wie Horvath über den Untergang der Moral und wir schreiben nicht wie Kafka über den Verlust aller Gewissheiten. Wir schreiben, als gäbe es noch ein Ich zu gewinnen, als wäre das Kollektiv noch nicht verloren und als wäre die Zukunft noch etwas, auf das wir hoffen könnten.
20.210.810:0.824 Zum Archiv
Egal welchen Text man auch immer schreibt, ein Gedicht, ein Drama oder eine Erzählung, gar einen Roman, er ist immer präziser und schriftlicher Ausdruck des Denkens. Und wer sagt, dass Denken nichts mit Gefühlen zu tun hat, der weiß nicht, wovon er spricht, denn findet das Denken seinen adäquaten Ausdruck im Schreiben, so ist es die Manifestation jener Gefühle, die die Welt im Schreiber ausgelöst hat oder dieser der Welt mitteilen möchte.
[Zum Archiv 20.2107] | [Zum Archiv 20.2109] |