20.240.526:0.916 Zum Archiv

Ihre Mutter hat keine Begabung für den Müßiggang. Immer ist sie in Bewegung. Auch jetzt noch, da der Krebs sich seinen Weg durch ihren Körper bahnt, alles auffrisst, was von ihr übrig ist. Ihre Mutter kann keinen selbstgesetzten Arbeitsauftrag liegen lassen. Aufschieben ist nicht ihre Sache. Vielleicht liegt es daran, dass sich an einen aufgesparten Arbeitsauftrag neue Arbeitsaufträge anlegen, wie sich an Wintertagen auf den nicht von Schnee gereinigten Wege neuer Schnee anlegt und der darunter liegende zu hartem Eis erstarrt, bis es kein Fortkommen mehr gibt. Irgendwann wird der Berg der zu erledigenden Aufträge, der inneren und der äußeren, so hoch, dass eine Überquerung, einer Alpenwanderung gleichkäme und dann die Kraft nicht mehr reichen würde, diesen Berg zu überwinden.

Das calvinistische Arbeitsethos der Mutter wuchert in ihr beinahe so ausufernd wie das marxistische ihres Vaters. Im Gegensatz zur Mutter hat sie begriffen, wer ständig läuft, an dem läuft das Leben irgendwann dann doch auch vorbei. Nur Innehalten und Stillstehen hilft sich selbst zu erkennen und jene Fremdbestimmung abzuwerfen und die Freiheit zu erlangen, von der ihr Vater immer sprach. Ihre Mutter hat keine Freiheiten. Sie will sie auch nicht, sie wüsste gar nichts damit anzufangen.

Freiheit blieb ihrer Mutter erspart, denn sie verharrte dort, wo das Leben sie hingestellt hatte. An die Seite ihres Mannes, in die Mitte ihrer Kinder, für die sie nur selten Lob aber viel Fürsorge aufbrachte. Sie ist immer anwesend, mit einer übermenschlichen Liebe zum Dasein. Sie weiß nicht, woher ihre Mutter all die Energie nimmt, von der sie selbst so wenig besitzt, sie, die Tochter, die so kraftlos und ungesteuert von Alltagssorgen geplagt durch die Tage driftet.


20.240.520:0.954 Zum Archiv

In Schmid-Denglers Bruchlinien geblättert. Dort schreibt er: Tatsache ist, daß die österreichischen Schriftsteller oft erst auf dem Umweg über die Rezeption in Deutschland auch in Österreich wahrgenommen werden. Nun das mag ja für die Autoren der sechziger Jahre gelten. Schon für Handke, Bernhard und Jellinek gilt dies nur noch in eingeschränktem Ausmaß. Sofern mich mein Erinnerungsvermögen nicht trügt, hat Claus Peymann in seiner Burgtheaterintendanz dafür gesorgt, dass Handke, Bernhard und Jellinek, und später auch noch andere, Stückaufträge bekamen und so in Österreich Bekanntheit erlangen konnten. Der zweite Faktor hat mit der Waldheimaffäre und dem Aufstieg der FPÖ in den achtziger Jahren zu tun, die genau gegen diese Intellektuellen in diversen Wahlkämpfen mobil gemacht haben. Nach den Skandalen um Bernhards Stück Heldenplatz und Jellineks Stück Burgtheater hat die FPÖ den Slogan ausgegeben: Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk ... oder Kunst und Kultur? Freiheit der Kunst statt sozialistischer Staatskünstler. Also verdanken diese Autoren ihren Aufstieg zum großen Teil einer innenpolitischen Debatte und ihren provokanten Stücken, die von Claus Peymann aufgeführt wurden. Handke kam durch seine Äußerungen zur serbischen Position im Balkankrieg in die Medien. Und auch der ORF hat mit seinen Produktionen Alpensaga, Ein echter Wiener geht nicht unter, Arbeitersaga und der Serie Kottan ermittelt einigen Autoren zum Durchbruch verholfen.

Wie stellt sich die Situation heute dar? Schwierig. Einerseits ist Franzobel durch den Bachmannpreis bekannt geworden. Der ORF trägt noch heute seinen Teil dazu bei. Karrieren verlaufen jedoch heute noch so gebrochen wie vor dreißig, vierzig Jahren. Hier wäre eine profunde Analyse angesagt. Das der deutsche Markt ausschlaggebend für Karrieren ist, gilt auch heute in eingeschränktem Ausmaß, denke ich, denn selbst der deutsche Markt hat sich in einen Bestsellermarkt verwandlet und die Kulturkritik und Germanistik spielt in diesem Spiel auch heute keine unbedeutende, aber durchaus problematische Rolle. Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum jemand aus der Peripherie ins Zentrum des literarischen Marktes gelangt. Ob es immer die Qualität der Texte ist, sei dahingestellt.

Der Literaturmarkt ist, wie die gesamte Gesellschaft, in einem Ausmaß ökonomisiert worden, sodass es für Autoren und Autorinnen von der gesellschaftlichen Peripherie immer schwieriger wird, in den nach wie vor profitbalen Markt vorzudringen. Die Krise von Shurkamp zeigt aber deutlich, dass gerade Autoren und Autorinnen, die nicht die Bestsellerlisten bedienen, kaum noch Relevanz erlangen.

Norbert Christian Wolf hat in einer Vorlesung einmal sinngemäß gesagt, dass an der Germanistik zwei Prozent aller Literatur einer Epoche gelesen und analysiert werden. Dem stimme ich zu. Die Frage ist, wer repräsentiert die heutigen zwei Prozent und in welchem Qualitätsverhältnis stehen deren Texte zu den zwei Prozent von 1914 oder 1965 oder 1980. Das wäre doch einmal eine lohnende Forschungsaufgabe, einen intergenerationellen Literaturvergleich wagen.


20.240.519:0.840 Zum Archiv

Schreiben ist nicht nur ein einsames Geschäft, sondern auch ein antizipatorisches, denn er setzt einen Glauben voraus, dass, irgendwann in ferner Zukunft, so etwas wie ein Text entstehen wird. Das ist oft frustrierend, da das Schreiben, selbst wenn einer, so wie ich, ein schneller Schreiber ist, einer, der Seite um Seite schreibt, täglich seine Arbeit verrichtet, niemals an einem Tag mit einem Buch fertig werden kann.

Kafka wird nachgesagt, er habe Romanfragmente in einer Nacht vollendet oder auch nur in wenigen Tagen. Die Ausnahme bestätigt dennoch die Regel. Im Normalfall gibt es jeden Tag nur einen Etappensiege, immer muss vertraut werden, dass der nächste Abschnitt bewältigt werden kann, das sich eines Tages ein Text an den anderen fügt und so etwas wie ein Buch entsteht, ein Roman, ein Essayband, eine Geschichte eben. Da hilft auch Erfahrung nichts. Da helfen auch zwanzig oder dreißig geschriebene Bücher nichts, denn alles beginnt am Ende von vorne. Jedes Buch ist eine neue Erfahrung. Es gibt keine Gewissheiten darüber, dass das nächste Buch gelingen wird, wie die vorangegangenen.


20.240.508:1.645 Zum Archiv

Es gibt einen wunderlichen Spruch: Das Hemd ist dem Menschen näher als der Rock. Das wurde mir diese Woche wieder einmal von berufener Stelle mitgeteilt und dass man im Leben doch nach dieser Devise handelt, wenn man ein normaler Mensch ist. Nun, dazu kann ich nur sagen, dass Hemden meist nur von Männern getragen werden, denn bei Frauen heißen sie Blusen und Röcke sind etwas, das man vor allem Frauen zugesteht. Aber darüber hinaus sind Hemden nach harter Arbeit oft verschwitzt und sie riechen streng. Manche Männer tragen sie mit kurzen Ärmeln, manche mit langen und manche behübschen sie mit Krawatten oder Fliegen. Hemdenträger sind nämlich vielfältig und divers.

Ich für meinen Teil habe beschlossen, das Hemd auszuziehen und mir nun den Rock über die nackte Haut zu streifen, damit der Rock mir näher ist als das Hemd. Und das Hemd, das werfe ich unter die Leute, die mich nicht kennen, damit sie riechen können, wer ich bin, denn auch das hat man mir diese Woche beigebracht, dass man mehr miteinander sprechen, dass wir alle uns besser kennenlernen sollten.

Das steckt wohl schon ein Körnchen Wahrheit in dieser Weisheit.

Doch ich wär wohl kein guter Geschichtenerzähler, wenn da nicht ein Aber käme. Wollen wir denn jeden, den wir aus der Entfernung gesehen haben, auch kennenlernen? Wir werden nicht immer positiv überrascht sein, von dem, was da zu Tage tritt. Manchmal wird uns jemand erscheinen, der uns sprachlos macht und dann müssen wir schweigen, peinlich berührt von einem Fuß auf den anderen treten, weil wir ihm ja nicht die Wahrheit sagen können, über das, was wir da kennengelernt haben. Und obwohl die Wahrheit den Menschen zumutbar ist, wie eine der wichtigsten deutschen Denkerinnen ihrer Zeit einmal behauptet hat, vermeiden wir sie und glauben lieber an Gerüchte und Schauermärchen. Aber wirkliches Kennenlernen setzt ja eben genau diese Zumutung der Wahrheit, Wahrhaftigkeit im Denken und im Tun voraus. Und da ist es doch allemal besser, wir bleiben uns fern, damit wir nicht eines Tages den Menschen gegenüber unverschämt sein müssen, denn was die Leute noch wneiger vertragen als die Wahrheit ist Unverschämtheit.


20.240.504:1.058 Zum Archiv

Es war einmal eine Bauerntochter, die lebte in einem Dorf abseits der bekannten Welt und sie war gewillt einen Bauernsohn zu heiraten, den sie an einem der wenigen Dorffeste, die es damals in den harten Zeiten des Krieges und der Lügen gab, kennen und lieben gelernt hatte. Sie ging mit ihrem Anliegen zur Gutsverwalterin, um sie um ihr Einverständnis zu bitten, doch diese wies ihr Ansuchen forsch und ohne weitere Begründung ab. Daraufhin wandte sich die Bauerntochter an die Gutsherrin, doch diese sagte, was die Gutsverwalterin in ihrem Namen verkünde, sei Gesetz. Daraufhin wandte sich die Bauerntochter, die ihren Geliebten nicht aufgeben wollte, an den Dorfrichter, doch dieser ließ sie wissen, er habe keine Zeit und wäre mit wichtigeren Geschäften zu Gange. In ihrer Not suchte sie den Dorfschreiber auf, der viel Wissenswertes über die Gebräuche und Rechte des Landes in seiner Stube gesammelt hatte. Dieser gab Auskunft über das geltende Recht des Landes und riet der Bauerntochter sich seiner zu bemächtigen und an den König zu wenden, der als einziger in der Lage sei, ihr das Recht zu gewähren, das ihr zustünde. Leider ist bis zum heutigen Tage nicht gewiss, ob die Bauerntochter ihren Auserwählten auch tatsächlich heiraten durfte.

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Nun will ich euch erzählen, was die Gutsverwalterin und Gutsherrin taten, als ihnen zu Ohren kam, dass der König nun Bescheid wisse, denn sie wollten unbeschadet und unbeschädigt aus der für sie verzwickten Situation hervorgehen. Vielleicht fürchteten sie, dass nun das Recht, das der Bauertochter zustünde, tatsächlich zum Durchbruch käme.

Nun, es trug sich also zu, dass wie zufällig eines Tages ein Gerücht ins Dorf spazierte, das ein gruseliges Schauermärchen erzählte: Der Dorfschreiber wäre eines Nachts zu der Bauerntochter geschlichen und habe sie aus tiefem, festen Schlaf geweckt, sie an den Küchentisch gezwungen und sie in einer Brandrede aufgewiegelt, ihre Ansprüche auf ihren Geliebten beim König durchzusetzen. Dieses Schauermärchen verbreitete sich wie ein Lauffeuer von Gutshof zu Gutshof. Und so wurde im Laufe der Zeit aus einem gutwilligen Akt der Hilfsbereitschaft eine mutwillige Attacke gegen die Herrschenden. Das Bauernmädchen verwandelte sich in der von Bewohner zu Bewohner weitergegebenen Geschichte in ein heimtückisches, schwieriges, halsabschneiderisches Biest und der Dorfschreiber stand am Ende als Verräter an den Seinen dar. An diesem Punkt wurde nun doch der Dorfrichter aktiv, der sich um den Frieden in seinem Rechtsgebiet sorgte und zitierte den Dorfschreiber in seine Amtsstube.

Leider endet an diesem Punkt das Märchen über die Bauerntochter und den Dorfschreiber. Der Ausgang des Märchens ist ungwiss oder wie einst ein kluger Mann sagte: Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß. [...] Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen. Doch eines sei hier noch angefügt, wird das Opfer zum Täter macht, um seine eigene Täterinnenschaft zu verleugnen, so macht man den Bock zur Gärtnerin und eines Tages wird der wunderschöne, herrschaftliche Rosengarten sich in ein wüste Oase der Verzweiflung verwandelt haben. Und um, bevor der Vorhang fällt, mit einem anderen klugen Mann zu sprechen: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Und was Widerstand bedeuten kann, hat der arme B.B., der einst aus den schwarzen Wäldern in die Asphaltstadt verschlagen wurde, am Vorabend des heraufdämmernden Weltenbrandes so treffend auf den Punkt gebracht: Oh, ihr Unglücklichen! Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt? Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen. Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen! Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein! Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht, durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!

Nun aber wirklich genug der lehrreichen Märchen. Ich wünsche euch eine gute Nacht in diesen finsteren Zeiten und eines Tages werde ich euch berichten, wie das Märchen von der Bauerntochter, der Gutsherrin, dem Dorfrichter, dem König und dem Dorfschreiber ausgegangen ist. Eines aber will ich euch nicht verhehlen, um noch einmal den guten alten B.B. zu paraphrasieren: Der einzige Ausweg aus diesem Ungemach: Ihr selbst dächtet auf der Stelle nach, wie man allem und allen zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, sucht euch selbst den Schluss! Es muss ein guter sein, muss, muss, muss!


[Zum Archiv 20.2404] [Zum Archiv 20.2406]