20.210.331:2.004 Zum Archiv

Vor nunmehr sechs Jahren bin ich einer Gesellschaft beigetreten als deren Systemerhalter, als Rädchen im Getriebe, als dienstbarer Geist, einer Gesellschaft, die mir schon als Kind seltsam suspekt erschien. Nun arbeite ich in ihr, Seite an Seite mit jenen, die diensteifrig ihre Pflicht erfüllen, Tag für Tag, unterbrochen nur von freien Wochen, die wir ferial nennen, die nicht Urlaub sind, aber auch nicht Arbeit. Die Tage teilen wir mit unserer Kundschaft, die uns von oberster Stelle zugeführt wird, in unsere Obhut übergeben wird, im Vertrauen darauf, dass wir sie ausreichend erziehen und lehren und loben und strafen.

Und es täte dringend Not, über die, die ich meine Kolleg*innen nenne, zu schreiben, über das unmögliche System, in dem wir alle uns redlich Mühen, die einen weniger, die anderen mehr. Darüber zu schreiben, was man gemeinhin Schule nennt, in der wir alle als Kundschaft mehr als zehn Jahre verbringen und als Dienstleister*innen oft eine Existenz verleben. Die Kundschaft müht sich ab, mit einer Hierarchie, die keine Gnade kennt, sondern nur Leistung, Nachsicht nur als Urteil kennt, in der wir früh lernen, was es heißt, still zu sitzen und sich im Schweigen zu üben, unterworfen einer Hierarchie, die von uns nicht geschaffen, zwar für uns da, aber uns nicht angemessen ist, in der wir als Kinder erzogen werden, bis wir gewohnt sind, in der Welt der Erwachsenen nicht zu stören.

Und auch wir Lehrer*innen, die Dienstleister*innen im System, die Systemerhalter, sind auch einmal Schüler*innen gewesen und haben gelernt, nicht zu stören, wenn Menschen gedemütigt und unterworfen werden. Und manche von uns sind selbst wieder Lehrer*innen geworden, um sich aus dee Position der Unterworfenen, in die Position der Mächtigen aufzuschwingen, und weidlich zu nutzen, was ihnen von Gottes Gnaden als Recht verfügt wurde, Herrschaft zu üben, wo Recht Not täte.

Es wird Zeit, von der Gnadenlosigkeit derer zu berichten, die ihre Kundschaft nicht ernst nehmen, weil sie denken, Kinder seien dazu geboren, sich ihnen zu unterwerfen und wagt sich doch einmal eine Kundschaft aus der Deckung, so rotten sich die Dienstleister zusammen, die beamteten und die vertraglich prekären, die Reihen werden geschlossen, um den, der sich wehrhaft zeigt, von der Herde zu trennen, sich über ihn herzumachen und an ihm ein Exempel zu statuieren, denn Schule ist nicht dazu da Widerstand gegen das von Kaisers Gnaden eingeführte Privileg zu fördern, sondern das Widerständige, wo auch immer er sich zeigen mag, im Keime zu ersticken.


20.210.321:1.453 Zum Archiv

Morgen beginnt mein sechzigstes Lebensjahr. Ein Jahr, das in dreihunderfünfundsechzig Tagen mit einem Geburtstag abschließen wird, der mich in mein siebtes Lebensjahrzehnt entlässt. Das letzte, das von Bedeutung sein wird. Eine letzte Chance ein Leben gegen jede Vernunft zu wählen. Und darauf gilt es, sich vorzubereiten. Auf das letzte Echo, das ich bereit und willens bin, in der Welt hervorzurufen.

Um aber ein Echo zu hören, ist es unerlässlich, dass Stille herrscht in der Welt. Nur so kann das Geworfene hörbar werden als immer leiser werdende Variation von bereits Gesagtem.

Deshalb beginnt mit dem morgigen Tag ein Jahr der Stille, denn ich kann nicht wie andere ein Jahr Auszeit nehmen, mich zurückziehen von der Welt, ein Sabbatjahr einlegen, um mich auf Kommendes vorzubereiten. Das wäre, wonach mir eigentlich der Sinn stünde. Die Arbeit niederlegen, emigrieren in mein Inneres. Atem holen nach sechs Jahrzehnten des Tätigseins.

Einem wie mir ist ein Austritt aus der Mitte der Welt, wo die Kleinbürger ihrem geschäftigen Treiben nachgehen, nicht vergönnt, denn einer, der wie ich gewohnt ist, andere anzutreiben, um selbst nicht sill stehen zu müssen, kann nicht von einem Tag zum anderen alle Verpflichtungen zum Teufel jagen.

Ein Jahr der Stille bedeutet für mich, der ich aus dem Protestantismus und Marxismus hervorgekrochen bin, nicht die Arbeit niederzulegen, die Welt sich selbst zu überlassen, sondern nicht mehr anzutreiben, mich treiben zu lassen. Stille meint in diesem Fall nicht Schweigen, sondern das Getriebe der Welt zu meiden, wo und wann immer es mir zu begegnen droht.


20.210.320:1.628 Zum Archiv

Was würde ich dafür geben, ein Arbeiter sein zu dürfen, der nach getaner Arbeit nach Hause kommt und zufrieden auf sein Tagwerk blickt. Müde von redlicher und ehrlicher Arbeit. Ein Schreiber, der abends ein gutes Buch liest, einen Spaziergang wagt, sich anregen lässt vom Gesang der Vögel.

Vielleicht sollte ich mir ein solches Jahr gönnen, indem ich nur mir selbst verpflichtet bin, meiner Familie, dem Garten. Nach getaner Arbeit des Lehrens heimkehren. Ein gutes Buch lesen.

Dem knirschenden Schnee im Winter zu trotzen, den Duft des Frühlingserwachsens einatmen und mich nicht abmühen mit dem, was andere an mich herantragen und im Sommer dem Konzert der Grillen beiwohnen oder jenem der Zikaden am griechischen Meer und dann, wenn der Herbst ins Land zieht, dem Ausatmen lauschen.


20.210.302:0.745 Zum Archiv

Politik ist immer eine moralisch zweifelhafte Sache, wenn sie nicht das Wohl aller im Blick hat. Deshalb ist Parteipolitik meist problematisch, wenn sie Partikularinteressen einzelner gesellschaftlicher Gruppen verfolgt oder von den Interessen einer bestimmten Klientel geleitet wird.


20.210.301:1.453 Zum Archiv

Was dieses Land bräuchte, wäre eine linke Bewegung, die aus der Bürger*innenschaft kommt. Bisher gab es derartige Bewegungen hauptsächlich von rechts, die es geschafft haben, den Parlamentarismus für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Das scheint mir ja auch kein Wunder zu sein, wenn ich bedenke, dass die meisten von uns getrieben sind von Ängstlichkeit, Kleinmütigkeit, Sicherheitsbewusstsein und ausgestattet sind mit einer zweifelhaften Moral, die selbst bei den atheistischten unter uns aus dem Sumpf eines mittelalterlich geprägten Katholizismus gekrochen ist.

Daher sollten wir alle Hoffnung fahren lassen und uns weiter in der Gemütlichkeit der Mitte einrichten, denn was wir uns als Kleinbürger*innen immer wieder antun, können wir in Horvaths Geschichten aus dem Wienerwald nachlesen. Für jeden gibt es dort eine Identifikationsfigur und jeder und jede muss sich entscheiden, wer er oder sie sein will. Opfer oder Täter einer Gesellschaft, die es nicht mehr wagt, einen einzigen anarchischen Gedanken zu wagen, geschweige denn eine anarchische Handlung zu setzen.

Vor der Tat steht immer ein Gedanke. Und wer das Denken verlernt, steht im Tätigsein still. Wer sich weigert die Vernunft zu nutzen, kann sich nicht zur politischen Tat aufschwingen, wird kein Täter im Geiste der Utopie, sondern immer das Opfer kommender Dystopien.


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