20.240.124:0.901 Zum Archiv

Günther Anders schrieb 1984, in diesem unseligen Jahr, das George Orwell in der Verkehrung der Zeitachse zum dystopischen Jahr ausgerufen hat, in dem Big Brother sich auf den Weg machte, um uns in eine Gesellschaft der Überwachung und Selbstkontrolle, der Selbstoptimierung zu geleiten, uns unter die Knute der digitalen Medien zu zwingen, in diesem unseligen Jahr kam der Satz, der mich wie kein anderer charakterisiert durch den Stern, der keiner mehr sein wollte und sich deshalb Anders nannte, in die Welt: Menschen ohne Welt waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, nicht für sie gebaut, nicht für sie da-ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und da sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihrigen, ihnen nicht vergönnt sind.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit Günther Anders für diesen Satz benötigte. Jahre, möglicherweise, um darüber nachzudenken, Minuten um ihn aufzuschreiben, vielleicht. Doch für mich ist er in seiner Bedeutung unabsehbar, denn schon in frühester Kindheit hatte ich dieses Gefühl, nicht innerhalb einer Welt zu leben, sondern außerhalb von ihr, einer Welt, die ich sehen, die ich spüren, die ich schmecken konnte, zu der mir der Zugang jedoch verwehrt geblieben ist, weil sie eben nicht für mich da war. Und als meine Mutter eines Abends an mein Bett trat, vor dem Einschlafen und ich zu ihr sagte: Keiner liebt mich, da antwortete sie, das sei Unsinn. Das ich mir das nur einbilde. Alle würden mich lieben. Und wie zur Bekräftigung trat auch mein Vater ans Bett, der von Liebe so wenig verstand wie ich selbst und bezeugte den Schwur, den meine Mutter leistete. Und mit diesem unschuldigen Meineid schickten sie mich in die Nacht. Und in mir verfestigte sich die Gewissheit, dass mein Fühlen nicht wahrgenommen, nicht angenommen wurde, denn es passte nicht zu dem, was meine Eltern über sich selbst und mich zu wissen glaubten. Sie fragten sich nicht: Oh, unser Sohn fühlt sich ungeliebt, was haben wir getan, dass er sich so fühlt und dass er denkt, er sei aus unserer Welt ausgeschlossen, sei ihr nicht zugehörig. Nein, sie haben meinen Anspruch zurückgewiesen und mich in die Finsternis geworfen, dort, wo kein Licht auch nur den geringsten Schatten wirft. Meine Fremdheit gegenüber der Welt konnte ich seither nicht überwinden, weil es vorausgesetzt hätte, dass meine Sprache, mein Denken, mein Fühlen, mein Wesen und meine Existenz Gehör finden hätte müssen in der Welt der anderen.

Wie Günther Anders seiner Mutter die Erkenntnis verdankte, dass er der Welt hinzugefügt worden sei, die schon vor ihm existierte, also den Gedanken der Weltfremdheit in ihm einpflanzte, so hat meine Mutter mir unmissverständlich klar gemacht, dass es eine Kluft zwischen der Selbstwahrnehmung, wie ich mich in der Welt verorte und dem wie die anderen mich darin verortet haben wollen. Und ich lebte jahrzehntelang mit dieser Diskrepanz, ohne zu verstehen, warum dem so sei und woher dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit käme. In mir hauste dieses Gefühl der Unzulänglichkeit, der Schuld und das Gefühl anders zu sein als all die anderen. Und mein Schreiben war und ist letztlich eine Reaktion darauf, denn durch das Schreiben habe ich versucht mit der Welt zu kommunizieren, mich ihr mitzuteilen, mich in ihr zu verorten, sie auf mich und mein Dasein aufmerksam zu machen. Und dann wurde ich von dem einen Anders mit dem anderen Anders bekannt gemacht und hatte meinen persönlichen Heureka-Moment. Es war eben kein individuelles Schicksal, das mich getroffen hatte, es war kein Gendefekt, es war keine soziale Schuld, die auf mir lastete, keine seltsame Laune der Natur, sondern eine gesellschaftliche und möglicherweise sogar anthropologische Konstante der menschlichen Existenz, die durch die kapitalistische Moderne und ihre Zumutungen noch verschärft wird.

Heute weiß ich, dass es aus dieser Weltfremdheit kein Entkommen gibt, außer durch tätiges Handeln, durch revolutionäres Verhalten. Der Ursprung meiner Revolte, meines Widerstands ist eben nicht durch einen rebellischen angeborenen Geist, eine böswilligen Ader, die zur Provokation neigt oder gar eine schiefgelaufenen Erziehung begründbar, sondern durch die eine banale Tatsache, dass ich mein Leben lang versucht habe, innerhalb einer Welt leben zu wollen, die für mich da ist, in der ich sein kann, wer ich bin und sein will. Und mein alltägliches Scheitern besteht darin, dass es eben für einen wie mich, dem der Zugang zur Welt der anderen früh verwehrt wurde, keinen Weg in die Welt gibt, keine Möglichkeit gibt innerhalb der Welt zu leben, sondern eben nur außerhalb, wie ein Insektenforscher, der auch nicht Teil des Ameisenstaates werden kann, selbst wenn er sich das wünschen würde, auch wenn er alles daran setzt, es möglich zu machen. Was mir nicht möglich war, ist eine wichtige Voraussetzung zu erfüllen: Anpassung und Selbstentwürdigung. Sie sind notwendig , um innerhalb der Welt der anderen leben zu dürfen, die nicht die meinige ist, die nicht für mich gemacht ist. Und weil ich nicht in der Lage war, die geforderte Anpassungsleistung zu erbringen (auch wenn ich es mit jeder Faser meiner Existenz versuchte), blieb ich der, der ich immer schon gewesen bin, weltfremd und augestoßen. Bis zum heutigen Tag.

Und jetzt, da die Lebenskräfte schwinden und die Geister meiner Kindheit und Jugend mich in meinen Tagträumen heimsuchen, erlahmt mein Widerstand, verliert sich meine Liebe zur Tat in einem letzten Aufbegehren, das so hilflos und verzweifelt wie der Satz ist, den ich als kleiner Junge zu meiner Mutter sprach. Und diesem Satz wohnt ein Stück Trauer inne, über das Glück, das mich heimgesucht hätte, wenn die Welt für mich da und ich nicht verpflichtet gewesen wäre, für sie da zu sein.


20.240.117:1.013 Zum Archiv

Die Beziehung eines Menschen zur Welt manifestiert sich auf dreierlei Weise. Als erste Beziehungsebene wäre das Verhältnis zum Personalpronomen Wir, zu nennen, das sich im Sozialen, in der Sorge um das Gemeinsame, im Bedürfnis nach Harmonie und Aufgehobensein zeigt. Dies kann als Beziehungs-Wir, als Familien-Wir, als Gruppen-Wir zum Ausdruck kommen, es ist auf ein wie auch immer geartetetes Kollektiv gerichtet, es speist sich aus dem Bedürfnis nach kollektiver Erfahrung. Das Wir repräsentiert die gesellschaftliche Welt und unseren Wunsch, darin einen Platz zu finden. Das Wir ist also etwas zutiefst Politisches.

Das Ich, soweit man davon überhaupt sprechen kann, ist der Versuch sich aus dem Fremden, als der man geboren wird, zu befreien, heimisch zu werden in der Welt. Diese ursprüngliche und jeden Menschen irgendwann einmal heimsuchende Weltfremdheitserfahrung ist eine notwendige Voraussetzung, um ein Wir überhaupt bewusst erleben zu können, denn sie bringt den Wunsch im Individuum hervor, sich zugehörig fühlen zu wollen. Wir erleben uns ja nur in der Konfrontation mit einem Kollektiv als ein vereinzeltes Ich. Ohne die anderen, wüßten wir nichts vom Ich. Ob dieses Ich etwas eigenes oder nur der fiktionale Glaube an eine eigene Persönlichkeit sei, ist dabei nicht relevant, denke ich. Die Frage nach dem Ich, ist letztlich eine Frage der Psychologie.

Das Du präsentiert sich wohl am deutlichsten in der Sexualität, denn die Erotik richtet sich immer an ein Gegenüber, es ist immer der Körper des anderen gemeint, nicht der eigene. Die eigene Befriedigung in der Sexualität kommt ja dadurch zustande, dass ein Gegenüber sich an einen als Du wendet. Es gibt den alten Spruch, wer berührt, wird auch berührt. Und dies gilt nicht nur für den Körper, aber vor allem auch für den Körper. Sex ist ein Spiel mit dem anderen, eine Verhandlung, eine Verwandlung, ein aus dem Wir und Ich heraustreten. Man will am Körper des anderen seine Spuren hinterlassen. Sexualität hat in diesem Sinne auch nichts mit Biologie zu tun, sondern mit Fantasie und ist tief im kulturellen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt verwurzelt.

Und ich denke, wenn wir es als Kollektiv und Individuen schaffen würden, diese drei Manifestationsebenen von Welt in unserem Leben trennen zu können, dann wäre schon viel gewonnen, denn unser Versuch, die drei Ebenen gemeinsam zu denken und zu leben, hat ja nichts mit den realen, anthropologischen Vorbedingungen der menschlichen Existenz zu tun, sondern ist ein Ergebnis der moralischen Verhältnisse, die historisch bedingt und stetigem Wandel unterworfen sind. Die Moral aber, ist ein schlechter Ratgeber, wenn der Mensch seinen Platz in der Welt sucht, denn die Moral ist immer schon vor dem Menschen da, sie ist das, was ihn zum Fremden macht, was ihn unterwirft und demütigt, sie ist das, in das er sich fügen muss, wenn er zum Wir strebt, er sein Ich sucht und er sich im Du verwirklicht. Die Moral ist also deshalb in diesem Zusammenhang ein Problem, weil manchmal das, was das Wir will, für das, was das Ich will, nutlos ist. Und was dem Ich bedeutsam erscheint, ist oft das, was dem Leben im Du am radikalsten im Wege steht.

Und vielleicht ist das ja auch der Grund, warum wir als Menschen, individuell und als Kollektiv derart grandios Scheitern. Die bürgerliche Gesellschaft hat ein Bedürfnis nach einer Symbiose des Wir, des Ich und des Du entwickelt, versucht etwas zueinander zu bringen, zu verbinden, was zwar grammatisch miteinander verwandt ist, aber moralisch nichts miteinander zu tun hat.


20.240.105:1.149 Zum Archiv

Das digitale Universum hat mich zwar nicht zum ersten Mal in die Knie gezwungen, aber dafür zum schlechtest möglichen Zeitpunkt. Mein digitales Endgerät hat am Tag des Jahreswechsels seinen Geist aufgegeben. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Geist meines Denkes, dass in den Tiefen seines Speichers lagerte, ist für die letzten vier Monate verloren. Nun, einer, der anders tickt wie ich, könnte sagen, was solls, verschunden im Äther, davon geht die Welt nicht unter. Und einer wie ich, der antwortet, stimmt, aber die Arbeit von vier Monaten verloren. Das schmerzt. Ist aber nicht das Ende der Welt.

Einfach vier Monate streichen. Neu beginnen. Schreiben, was not tut. Und sorgsam darauf achten, dass das digitale Universum mich nicht wiedre über den Tisch der Erinnerungen zieht. Am Ende wird ja ohnehin nichts von mir bleiben, aber der Wunsch ist groß, dass es so sein möge. Es ist der letzte Reflex darauf, dass ich nicht dem Vergessen anheim falle. Ich weiß nicht, warum mir das so wichtig ist. Vielleicht habe ich immer noch nicht begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat und auch durch Kunst keinen Sinn erhält.

Man lebt von Tag zu Tag. Und die Menschen sterben an jedem Tag. Und am Ende eines jeden Tages ist es bedeutungslos, was wir gemacht haben, wie wir es gemacht haben, denn es gibt so wenig Schuld, wie es Unschuld gibt. Die Moral hilft einem nicht weiter, wenn das Ende des Tages naht. Da gilt es nur eine Frage zu beantworten: Habe ich ihn genutzt, wie ich es mir erträumt hatte, einst zwischen den Rebstöcken meiner Kindheit. In der Bilanz erscheint mein Leben meist im Soll und selten im Haben oder wie Georg Danzer es so schön formuliert hat:
waun i so z’ruckschau auf mei Leb’n
daun häds bestimmt fü Sachn geb’n
de häd i aundas machen soin
auf mei Art
ned wia de Aundan woin
.

Dem ist nichts hinzuzufügen.


20.240.103:0.829 Zum Archiv

Ich habe den Eindruck, dass kaum noch das Bedürfnis besteht über Literatur zu sprechen. Über die Entstehungsgeschichte von Texten, ihren Sinn, ihre Bedeutung, ihre Form. Viele Menschen, und ich denke, mehr als wir glauben, lesen gerne Literatur, Geschichten, Texte aller Art. Und viele, mehr als wir zu denken wagen, schreiben Texte. Roman, Erzählungen, Kurzgeschichten und nicht zu vergessen Gedichte. Aber kaum noch jemand will über Poetik sprechen. Über das Literarische. Das Poetische. Nicht einmal mehr die Lehrer sprechen über Literatur. Sie sprechen über Inhalte, über Moral, über die Deutung des Textes. Die Schüler*innen werden kaum noch mit Poetiken konfrontiert. Mit dem Kern dessen, was Litertaur ausmacht. Liegt das an unserer politisch korrekten Gesellschaft, weil wir Lehrer Angst haben etwas Falsches zu sagen, das uns in ein schiefes politsich Licht rücken könnte. Sie die Lehrer*innen wirklich so mutlos geworden oder unterschätzen sie die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Schüler*innen. Vielleicht liegt es wirklich daran, wie A.A. sagt, dass die Literatur ihre Bedeutung als gesellschaftliche Kraft verloren hat. Und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit liegt es auch daran, dass die Leser keinen Begriff mehr vom Literarischen haben. Sie lesen, denke ich, weil es dazugehört, weil es die Zeit vetreibt, weil es zum guten Ton eines aufgeklärten gehört, belesen zu sein. Mitreden zu können.

Aber das Unverständlichste für mich ist, dass selbst die Autoren und Autorinnen das Sprechen über ihre Poetik aufgegeben zu haben scheinen. In den Medien kommt Diskurs über Literatur, was sie kann, was sie soll, was sie muss, kaum noch vor. Der literarische Essay fristet ein kümmerliches Dasein in den letzten verbliebenen Ritzen des Feuilettons. Was wir heute schrieben sind kluge Artikel und Abhandlungen über die Welt und was wir über sie denken. Wir schreiben Empörungsliteratur. Katastrophenliteratur. Apokalypseliteratur. Oder wir schreiben darüber wie einer seine Wohnung putzt. Wir schrieben also Psycholiteratur. Ichbespiegelungen. Aber Texte über das Literarische selbst, über den Autor als Unmöglichkeit der Existenz in einer sich auflösenden bürgerlichen Kultur, die sich an ihren eigenen Ursprung nur noch schemenhaft erinnern kann, weil sich der Wunsch mit Geschichte zu beshcäftigen und sie zu verstehen mit der gleichen Geschwindigkeit aus der sogenannten bürgerlichen Mitte verflüchtigt hat.

Und wenn die bürgerliche Mitte sich verflüchtigt und nur noch die Ränder überbleiben, die schon in der Aufklärung grausam und unerbittlich waren, dann Gnade uns Marx, Gott, Buddha, Allah oder wem auch immer wir anhängen. Doch das bittere daran ist, dass uns von dort keine Hilfe zuteil werden wird, denn mit der Religon hat die Aufklärung Schluss gemacht und mit Marx die Sozialdemokraten. Also bleibt uns nur die Literatur, die Kunst und der Diskurs darüber. Aber einen Diskurs über das Literarische zu führen, wäre zwar aus meiner Sicht eine Notwendigkeit, aber wäre eben auch anstrengend, wäre Arbeit und würde das Risiko bergen, nicht bis in alle Ewigkeit Prosa und Lyrik und Dramen zu produzieren, die wir shcon im achtzehnten Jahrhundert nicht gelesen hätten, wenn wir sie zu Gesicht bekommen hätten.


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