20.241.013:0.910 Zum Archiv
Drei Berufe aktiv auszuüben, kann manchmal ein Problem darstellen, wenn auch nur einer davon ein Vierzigstundenjob ist. In meinem Fall das Lehramt, im Fach Deutsch. Ein Brotjob. Auch wenn ich es als Privileg ansehe, junge Menschen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu dürfen, gut bezahlt zu werden und im Grunde ein Publikum für mein Bildungskabarett zu haben, das mir nicht davon laufen kann.
In den zweiten Beruf, den Verleger, bin ich über drei Jahrzehnte hinweg hineingewachsen. Als ich mit Armin Anders und anderen einen Verein gegründet habe, wusste ich nicht, dass ich am Ende als Verleger verantwortlich sein werde, für Bücher von Autor*innen, die es zu layoutieren, versenden, finanzieren gilt. Aber ich erledige es. Auch heute noch. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Und man und frau dankt es mir durchaus, dass ich mich um ihre Werbemittel für Stipendiumsbewerbungen und Preisausschreiben kümmere. Und der Verlag ermöglicht es mir darüber hinaus unabhängig zu publizieren, auch wenn all dem immer noch das Stigma des Selbstverlages anhängt. Aber: Besser selbst verlegen, als den demütigenden Gang durch das Verlagswesen gehen zu müssen.
Und dann ist da noch mein dritter Beruf, der des Schriftstellers. Und es ist kein Zufall, dass er in der Aufzählung an dritter Stelle gereiht ist, denn zum Schreiben kommt einer wie ich in den Zwischenzeiten, in den Lücken des Tages, die sich ergeben. Wie heute, an diesem Sonntag. Zwischen Vorbereitungen für die Schule und dem Beantworten von Mails. Dann ist es möglich, eine kurze Noitz in mein Journal einzutragen. Einen flüchtigen Gedanken zu verbalisieren. Und die Flüchtigkeit der Gedanken, ist, was mir mein Dasein als Schriftsteller so schwierig macht, denn ich lebe davon, mein flüchtiges Denken in Schrift umzusetzen. Nicht, weil mein Schreiben intuitiv wäre, sondern weil es das Ergebnis eines immerwährenden, permanenten Nachdenkens ist. Und erziele ich ein Ergebnis, muss es aufgeschrieben werden, denn wird dies unterlassen, überlagert der nächste Gedanke den vorherigen und der vergangene wird zugunsten des gegenwärtigen und zukünftigen gelöscht. Und einer wie ich, der dem Verlorenen grundsätzlich nachtrauert, kann sich mit diesem Zustand nur unter Aufbietung aller noch mobilisierbaren Kräfte abfinden.
Hin und hergeworfen zwischen dem Lehren, dem Publizieren und dem Schreiben, wird mein Körper und mein Geist aufgezehrt. Von Jahr zu Jahr verwandle ich mich mehr in ein altes Klappergestell, das beim geringsten Windhauch, der durch meine Existenz jagt, schlottert, als würde eine Krankheit durch die müden Knochen fegen, eine langwierige, entzündliche Stelle von einer Ecke des Körpers zur anderen wandern.
Leider, war es mir nie vergönnt, nur einen Beruf auszuüben. Die Gründe dafür waren vielfältiger Natur. Ökonomischer, weil von irgendetwas muss der Mensch ja leben. Sozialer, weil ich trotz aller gegenteiliger Behauptungen ein verantwortungsbewusster Mensch bin. Politischer, weil in mir ein unausrautbarer Wille zur Utopie haust. Aber, all diese Gründe konnten meine Sehnsucht nach einem ausschließlichen Leben als Schriftsteller nicht auslöschen.
20.241.011:0.530 Zum Archiv
Bin beim Surfen auf den Wellen der digitalen Welt auf den Begriff Senium gestoßen. Er bedeutet übersetzt Greisenalter, in welches ein Mann zwischen dem sechzigsten und achtzigsten Lebensjahr eintritt. Das Schockierende an dieser neuen Information ist, dass es sein könnte, dass ich auf Grund meines numerischen Alters bereits diesem erlauchten Greisenkreis angehören könnte und es nur noch nicht mitbekommen habe, weil ich in mir nichts von dieser Greisenhaftigkeit verspüre, aber gerade deshalb vielleicht vom Zustand der Senilität nicht so weit entfernt bin, wie ich immer denke.
Vielleicht verführt mich der tägliche Kontakt mit meinen Schülern dazu, mich geistig jünger zu fühlen, als ich bin, denn in vielerlei Hinsicht ist meine Lebenshaltung jünger, vitaler, freier als das meiner Schülerinnen. Das würde aber auch bedeuten, dass der Spruch, dass der Umgang mit jungen Mensch jung halten würde, stimmt. Ich ertappe mich an manchen Tagen, dass ich denke, ich sei an Lebensjahren jünger als meine Schüler, die schon jetzt nach gesellschaftlicher Sicherheit und dem Schutz in monogamen Beziehungen und Lebensarbeitsstellungen streben, da sie doch frei sein sollten, sich die Welt nach ihrem Wollen formen wollen müssten, denn ihr Scheitern wird sie noch früh genug einholen.
Doch der Morgen nach einer Herbstnacht am Rande zum Winter belehrt mich eines Besseren, denn wenn ich erwache und dem Schmerz bis in die hintersten Winkel meines Körpers nachspüre, begreife ich, dass das Senium nicht nur ein abstrakter Begriff ist, sondern ein reales Befinden. Und die geistige Umnachtung, die so viele schon an der Schwelle zum Greisenalter heimsucht, lauert auch auf mich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Senile in mir das Juvenile zerstört.
Die Erkenntnis, die ich daraus ableite: Ich sollte dieses Journal akribischer führen. Mich täglich einschreiben in mein digitales Notizbuch. Die Erinnerungen aus mir herausschälen und sie mir vor die Füße werfen, sie vermischen mit den alltäglichen Ereignissen und die daraus entstehende Melange aus dem Wienerischen, dem ich entstamme und dem Salzkämmerischen, in das ausgereist bin, ausgießen in die Tage, die ich in manch schwachen Stunden leichtfertig Leben nenne.
20.241.010:2.041 Zum Archiv
Seltsam. Nun führe ich seit mehr als vier Jahren dieses Journal und habe mir keine Gedanken darüber gemacht, was denn der Begriff Journal bedeutet. Werfe ich einen Blick ins digitale Netz des Wissens, so erfahre ich, dass Journal ein Mehrfaches bedeuten kann. Einerseits kann es eine Zeitung sein, also ein journalistisches Produkt, andererseits aber auch ein Buch, eine Art Tagebuch, ein literarisches Notizbuch.
Früher habe ich viel Tagebuch geschrieben. Mich vertieft in mich. Wahrscheinlich um mich selbst zu verstehen. Mir einen Reim darauf zu machen, warum ich mich fremd fühlte in der Welt, ein wenig aus der Zeit gefallen erscheine. Ich schrieb über Frauen, die täglichen Zumutungen der Welt. Doch seit Corona hat sich dieses tägliche Schreiben gewandelt. Die Einträge bestehen seit damals aus vorwiegend Gelegenheitsnotizen zu den Erscheinungen der Welt, die ich beobachtete. Mein Tagebuch habe ich hingegen jahrelang vernachlässigt. Manchmal ließ ich mich zwar dazu hinreißen, auf den linierten Seiten Befindlichkeiten zu notieren, wie Wittgenstein einst, der schrieb: lagen beieinander, um anzudeuten, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen sei.
Vielleicht sollte ich wieder täglich schreiben, nicht über meine sexuellen Handlungen. Nein, wie ich es meinen Schülern und Schülerinnen gelegentlich vorschlage: um Beobachtungen zu notieren. Begriffe zu sortieren. Abgründigkeiten und Banalitäten aufzuschreiben. Eine flüchtige Erscheinung, die sich in der Welt zeigt, aufzuzeichnen.
So könnte ein Journal entstehen, dass wie in früheren Zeiten dokumentarischen Charakter hätte, denn was wäre die Geschichtswissenschaft ohne die Aufzeichnungen der einst Gelebten. Ihre Tagebücher, ihre Notizhefte verleihen den trockenen Zahlen und den Fakten der Forschung Lebendigkeit, kolorieren die Federzeichnung des wissenschaftlichen Textes, der mit feinen Federstrichen eine Skizze mit Hilfe von Quellen anfertigt. Doch erst die schriftlich festgehaltenen Alltäglichkeiten der Menschen verleihen den Skizzen Farbe und Bedeutung.
Doch was sollen wir dokumentieren in Zeiten, wenn bereits Millionen von Vlogs und Blogs und Instastorys alles aufzeichnen, was der Tag eines Menschen so mit sich bringt. Was ist aufzeichenswert an einem Tag wie heute. Vielleicht sollte ich mich dieser Frage stellen und mich der Gefahr der Banalität aussetzen. Der Gefahr über Dinge zu schreiben, die ich höre, lese, sehe, schmecke und rieche, mich meinen Sinnen ausliefern und notieren, was sie in meinem Kopf an gedanklichen Feuerwerken in der Lage sind freizusetzen.
Journale schreibt man ja im Grunde zuallererst immer für sich. Das Tragische an der Möglichkeit, die sich durch die Digitalisierung ergibt, ist, dass wir heute in der Lage sind, alles, was an Notizen möglich ist, zeitnah zu publizieren. Um aber in der Fülle der Alltäglichkeiten einen hellen, strahlenden Gedankenfunken zu finden, der mich über den Tag bringt, benötigte ich ein eigenes Leben.
Da ich jedoch nur ein Leben habe, muss ich mich entweder für das Lesen von Journalen oder das Schreiben eines solchen entscheiden. Ich habe mich für das Schreiben entschieden, wie viele Millionen mit mir. Und füge so den millionen textuellen Einbahnen eine weitere hinzu. Warum: Weil ich es kann. Auch hier gilt ein Satz von Günther Anders: Alles was der Mensch kann, setzt er auch in die Tat um.
Eines wäre vielleicht heute zu notieren: Es wurde auf vielfältige Weise gestorben. Mehr als siebenundvierzig Menschen in Gaza getötet. Ach ja, und noch ein statistischer Wert. Heute sind im Schnitt vierundzwanzigtausend Menschen an Hunger gestorben. Morgen werden es ebenso viele sein. Auch dazu hatte Günther Anders etwas zu sagen: Wir leben auf den Gräbern von Millionen. Deshalb sei es uns nicht möglich, um die millionenfach Ermordeten zu trauen. Wir sind nicht in der Lage, der Vielen zu gedenken. Und deshalb sind wir, würde ich ergänzen, auch nicht in der Lage das Sterben mit politischen Mitteln zu beenden.
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