20.231.027:0.756 Zum Archiv
Warum wir Boomer so gerne über andere schreiben und so wenig über uns selbst, könnte seinen Ursprung darin haben, dass ein Blick in unser Leben einen Abgrund in uns öffnen könnte, in den wir stürzen würden, einen Abgrund der Banalität und Alltäglichkeit, der grenzenlosen Bedeutungslosigkeit, einen Abgrund der tödlichen Langeweile.
20.231.015:1.523 Zum Archiv
Manchmal hätte ich gerne die lyrische Kraft eines Rilke, der einst schrieb: Einmal wenn ich dich verlier, wirst du schlafen können, ohne dass ich wie eine Lindenkrone mich verflüstre über dir. Oder jene eines Hesse, der über den Nebel schrieb: Seltsam im Nebel zu wandern, keiner sieht den anderen. Bestechend einfach. Und dann ist da noch Armin Anders, der es auf den Punkt brachte, als er schrieb: Es ist kein schönes Leben, das wir leben und es ist kein Stück vom Glück, es ist das eine große Beben, dass vom Tod nichts kommt zurück.
Und wenn ich könnte würde ich mich hermachen über all diese Schätze, diese einfachen Worte, die aus Sascha Garzettis Feder quellen, wie ein endloser Strom: Sehe die Maulwurfshügel auf den Feldern aufgeworfen gegen die Kälte sehe vor unseren Mündern den Hauch aufsteigen und Wörter, die hindurchschlüpfen, die von der Kindheit erzählen wie von einem Ort, an dem ich lange nicht war. Metaphern, die stärker sind als mein Leben verbergen sich in seinen Gedichten. Andererseits gibt es da aber auch die vielen Gedichte, die nur geschrieben werden, damit andere der Welt weitere hinzufügen, wie Bachmann es einst formulierte. Und wenige von ihnen treffen das, was der Ton des Dichtens ist. Aber ich wäre gerne einer von ihnen gewesen, die ein Gedicht schreiben hätten können, das die Menschen anrührt, sie berührt, die es dann lernen und vor sich her flüstern, denn an manchen Tagen war ich größenwahnsinnig genug, zu glauben, dass ich vielleicht einmal ein paar Verse schreiben könnte, die einem jungen Mädchen, wie es Ruth Klüger einst gewesen war, beim Appellstehen in den finsteren Zeiten das Leben retten hätten können.
Manchmal in den trübsten Stunden hätte ich gerne einmal einen Vers geschrieben, der mit dem Dunkel in den Violinen verwandt durch all mein Dunkelsein gewirkt hätte, um mich zu retten, wie Rilke mir oftmals ein paar Sekunden gerettet hat - mit seinen Versen. Mit seine Alliterationen, die düsteren Stunden vertrieben hat, die sich in seinen Gedichten zusammenkauern, als wollten sie uns vor dem Krieg und der Not in der Welt retten, wenn die Blätter treiben und der Wind wacht, wenn die Menschen lesen und lange Briefe schreiben, in den kommenden kalten Nächten. Und wer seine Schuhe nicht rechtzeitig schnürt, wird sich vor der gestundeten Zeit, die am Horizont erscheint, nicht retten können.
Es ist eine unstillbare Sehnsucht in mir, etwas zu schreiben, was mehr ist, als ich jemals sein könnte oder je gewesen sein hätte können. Und das mehr wäre, als die Welt auf den ersten Blick zu sein scheint. Ein paar Zeilen schreiben, wie Brecht es konnte: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Ja, das wäre mein Ansinnen gewesen, immer schon, über die Bäume zu sprechen und mit diesem Sprechen die Untaten, die in der Welt geschehen, sichtbar werden, in Erscheinung treten zu lassen.
Ja, das war mein Begehren, als ich zu schreiben begann, damals in grauer Vorzeit, als mir noch Verse gelangen, die ich heute kaum noch als den meinen erkenne, sofern sind ihre Kraft, die aus einem anderen Leben zu meinem jetzt herüberleuchen: in der ringlottenbaumkrone surrt das leben und die berge leuchten es scheint als wärs der rand von einer sehnsucht die erfüllt sein will. Am Ende jedoch wird jeder durch Zufall auf seinen Platz verwiesen. Der eine tritt auf im Licht und der andere ab ins Dunkel.
20.231.004:1.352 Zum Archiv
Wie rasch einer aus seinem Geburtsland ausgestoßen werden kann, nachdem er mühselig die Regeln erlernt hat und die Gesetze längst anerkennt. Doch all das hilft im Zweifel nicht, wird im Zweifel gegen ihn verwendet, wenn er aus der Mitte gerissen wird, die sie Welt nennen und die längst nur noch Zwischenwelt ist, zwischen Aufklärung und Moderne, zwischen Heiligkeit und Ignoranz. Er nennt sein Land, das kalte Land, weil es ihn ausstößt und abstößt, wie das tote Fleisch einer Nachgeburt.
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